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Protokolle

Call for Paper ZfM 28 - Protokolle

Protokolle strukturieren und formieren, was war und was sein wird. Historisch versammelten und validierten sie als aufgeklebte Verzeichnisblätter Dokumente der Verwaltung und des Rechts. Als formalen Kriterien entsprechende Niederschriften vergangener Ereignisse bezeugen sie heute die Richtigkeit ihrer eigenen Wiedergabe, wie beispielsweise Verhör- oder Gerichtsprotokolle. Sie formalisieren wissenschaftliche Experimente und sichern ihre Wiederholbarkeit. In Computersystemen organisieren Protokolle adressierbare Objekte, das Klima soll per Protokoll geschützt werden und Diplomatie und Militär setzen protokollarisch auf Fahnen und Musik. Die Bedeutung, Wirkungsweise und Anwendungsgebiete von Protokollen muten daher auf den ersten Blick unübersichtlich vielfältig an.

Indem sie eine verwaltete Zeit generieren, die oft als ahistorisch wahrgenommen wird, weisen Protokolle dem Protokollierten eine feste Zeitstelle zu, auf die zukünftige protokollogische Operationen zugreifen können. Ereignisse werden durch Protokolle eingehegt oder ihr Eintreten wird ausgeschlossen. Schließlich entwickeln sich Ereignisse durch Protokolle zu Wahrheitsregimen. Die von Protokollen erzeugte, verwaltete Zeit steht im Widerspruch zu den pluralen Zeitlichkeiten, die zur Ontogenese vielfältiger Existenzweisen notwendig sind. Dieser Widerspruch kann im Extremfall als Gewalt erfahren werden und zur (Aus-)Löschung führen.

Protokolle regeln Medien, sind sie es doch, die z.B. die Übertragung und das Speichern strukturieren. Ähnlich wie bei Standards ist es jedoch schwierig, die auf Operationen von Protokollen begründeten Ausschlüsse zu thematisieren, da Medien immer schon einem protokollogischen Regime unterliegen (dies trifft auch auf diesen Call zu). Technische Protokolle wurden bisher vor allem vor dem Hintergrund des Begriffs Kontrollgesellschaft als autoritätsstiftend diskutiert sowie affirmativ als immanent und totalitär beschrieben. Als aktuelle Zuspitzung davon seien Blockchain-Protokolle genannt, die nicht nur die Anschreibbarkeit von digitalen Objekten regeln, sondern die Bedingungen ihrer eigenen Überarbeitung bereits operativ im Code mit sich führen. In Protokolle sind insofern Machtverhältnisse nicht nur eingeschrieben, sondern sie sind in besonderer Weise unsichtbar: Protokolle stiften durch ihre eigene Performativität Evidenzen und kontrollieren damit, was es geben kann und was verworfen wird. Ihre normierende und regelhafte Mächtigkeit erlangt sie dabei über die Verschränkung materieller, semiotischer und affektiver Register.

Vergleichsweise wenig untersucht wurden bisher dagegen die Möglichkeitsbedingungen des Handelns, welche Protokolle stiften, sowie die Frage, wie Begriffe wie Governance oder Algorithmus den des Protokolls in jüngerer Zeit ergänzt oder ersetzt haben. Allen drei Formen des Regelns von Abläufen ist das Ziel der Verhinderung von Dissens, Ambivalenz und Noise gemein – also von genau den Momenten, die für kritische Auseinandersetzungen mit ihnen zentral sind.

Protokollogisch formierte Objekte und Ereignisse sind dennoch prekär, denn in keiner Weise ist sichergestellt, dass sie zukünftigen Protokollen noch zugänglich sein werden. Dies wirft die Frage nach der Interoperabilität von Protokollen auf und danach, inwiefern sie Beteiligte einer protokollogisch organisierten Trennung von Systemen und Infrastrukturen und damit einer künstlich erzeugten Knappheit sind.

Offiziellen und hochgradig formalisierten Protokollen stehen im Sozialen inoffizielle und unausgesprochene Protokolle zur Seite. Ein Verstoß gegen letztere kann zu einem verwehrten Eintritt oder zu Exklusionen aus bestimmten Milieus führen. Daran wird in besonderem Maß deutlich, wie Protokolle mit Subjektivierung befasst sind und wie Wissen über Protokolle ein Schlüssel zu Strategien des Passing ist. Diese Facette von Gouvernementalität schließt an technische Protokolle an: In beiden Fällen wird kontextspezifisches Wissen unhinterfragbar operationalisiert und dabei zu einem harten Regime verdichtet.

Auch in populistischen Bewegungen erzeugt das Zusammenspiel aus Protokollen und Algorithmen affektive Resonanzen, die die Krise der politischen Repräsentation weiter verschärfen und gesellschaftliche Verwerfungen forcieren. Eine genauere Analyse der Wirkungsweise von Protokollen in Bezug auf Vernetzungs- und Mobilisierungsstrategien, wie etwa die der Alt-Right oder der neuen Rechten, steht bisher noch aus.

Einreichung kompletter Beiträge: Ende Oktober 2022

Ideen für mögliche Beiträge können sehr gern vor dem Einreichen der ausgearbeiteten Texte mit der Schwerpunktredaktion besprochen werden. E-Mail für inhaltliche Rückfragen: marie-luise.shnayien@rub.de, oliver.leistert@leuphana.de.

Schwerpunktredaktion: Mary Shnayien und Oliver Leistert

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