Ausgehend von einem Begriffsverständnis, das der Medialität des ‹Sorgens› Rechnung trägt, fragt der Schwerpunkt nach Praktiken und Techniken der Sorge, nach Politiken von Affekten sowie nach Formen der Regierung in ihren spezifischen Verschränkungen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf ästhetische Übungen (wie Praktiken des Über-sich-selbst-Schreibens bzw. Medien der Selbstdokumentation), auf mediale Meditationen, Therapeutiken und Askesen sowie generell auf Medien bzw. Medialisierungen, die Subjektivierungseffekte zeitigen, Affektregimes einrichten und Modulierungen von Wahrnehmungsweisen versprechen. Gouvernementale und ökonomische Aspekte dieser Medien- und Affektkulturen, d.h. Effekte der Regierung oder Kontrolle, stehen ebenso zur Diskussion wie jene Subjektivierungs- und Identitätspolitiken, die sich um Praktiken des Schutzes, Pflegens oder Verwerfens kümmern. Dabei geht es nicht nur um digitale und postkinematografische Medienkulturen, die eine ‹Krise der Sorge› thematisieren und dokumentieren, sondern auch um Programme der Selbsthilfe, wie sie in entsprechenden Apps, Meditations-Playlists, BodyPositivity- und Neurodiversity-Movements oder Makeover-Shows, aber auch innerhalb der Chan-Kulturen von Incel-Communities praktiziert werden. Sie sind eng verwoben mit Praktiken des Community-Buildings, die die anti-/sozialen und politisierenden Tendenzen zeitgenössischer Digitalkultur ebenso prägen wie ihre therapeutischen, meditativen und affektiven Dimensionen. Die Ausgabe adressiert in diesem Sinn Diskurse der Heilung, Beruhigung oder Erregung, der Regelung von Ängsten bzw. negativen Gefühlen, des Trosts oder Begehrens bis hin zu Phantasmen der (Selbst-)Auslöschung und -Entfremdung.
In seiner Genealogie der Gouvernementalität hat Michel Foucault eine Analyse der Sorge von der griechischen Praxis der epimeleia, also der Übungen und Meditationen, hergeleitet und damit explizit die Frage nach den Techniken von Subjektivierung ermöglicht. Die französischen Semantiken um souci rufen die Frage des Kümmerns und Sorgetragens auf, ebenso die englischen Semantiken um care. Wie die deutsche ‹Sorge› verweist auch das Wort care in einer alten Bedeutungsdimension zugleich auf negative Gefühle wie Leiden, Kummer und Trauer. So kennzeichnet die verschiedenen Etymologien und Semantiken der ‹Sorge› ein Schillern zwischen Aspekten der Pflege, des Kümmerns, der Fortsetzung bzw. Reproduktion und solchen des Affekts.
Die in die Problematisierung von Care Work, also Reproduktions- bzw. Fürsorgearbeit, eingegangene queertheoretische, feministische und materialistische Kritik lässt sich in diesem Sinn und insbesondere mit Blick auf gegenwärtige Krisen der Sorge noch einmal neu perspektivieren: So fordert die Corona-Krise zur Entwicklung neuer Konzepte von Fürsorge/-arbeit heraus, insbesondere im Hinblick auf die medialen Bedingungen der Pandemie im Kontext biopolitischer Präventionspolitiken wie Social Distancing, Digital Contact Tracing, Bewegungsdatenanalysen und Modellierungsrechnungen.
Dabei ist zu beachten, dass Diskurse der Sorge und ihrer Medien interdisziplinär und in methodischer Vielfalt geführt werden. Sie berühren neben den genannten Feldern unter anderem die Technikphilosophie (siehe z.B. Bernard Stieglers «Logik der Sorge»), sowie posthumanistische Entwürfe und ‹neue› Materialismen (María Puig de la Bellacasas «Matters of Care»). Vorschläge, transdisziplinäre Debatten zwischen kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu ermöglichen, wurden jüngst in der Zeitschrift Social Text unter dem Begriff der «Radical Care» diskutiert. Die Politisierung negativer Gefühle, Programme der Selbsthilfe und Theorien der Heilung lässt sich derzeit außerdem im Kontext Neokonservativer Diskurse (z.B. Jordan Petersons «12 Rules for Life») und in den Entwürfen der sogenannten Neuen Rechten (Alain de Benoist, Martin Sellner) beobachten.
So besteht das Potential der Frage nach ‹Medien der Sorge› auch nicht oder nicht nur in einem neuen affirmativen Programm, einer Politik oder auch Ethik der Sorge. Vielmehr ermöglicht eine medienwissenschaftliche Perspektive auf Praktiken und Medien der Sorge, ihre Politizität in verschiedenen historischen, technischen und ästhetischen Konstellationen und in Verbindung mit spezifischen Affektkulturen je neu zu situieren und zu problematisieren.
Schwerpunktredaktion: Jasmin Degeling, Maren Haffke
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