Direkt zum Inhalt
zurück

Sound|Archive

Call for Papers ZfM 31 – Sound|Archive (Deutsch)

Call for Papers ZfM 31 – Sound|Archive (English)

Im Kontext aktueller Debatten über die Dekolonialisierung von Archiven, die Restitution von Sammlungsobjekten und der Aufarbeitung kolonialer Geschichte erhält auch die Frage nach kolonialen Praktiken und Prozeduren, die Aufnahmen und Archiven von Klang oder Sound zugrunde liegen, neue Dringlichkeit. Sound ist dabei ein selbst problematischer, nicht zuletzt strategischer Begriff, der zugleich exzessiv und diskriminierend über das Konzept des Klangs hinausgeht. Sound ruft ein interkulturelles und technologisches Machtverhältnis auf und wäre im Kontext von Geräusch und Rauschen erst zu verorten. Medienwissenschaftliche Untersuchungen, und hier sind nicht nur Sound Studies adressiert, versprechen Einsichten in die Bedingungen der Aufzeichnung, Produktion, Distribution und Rezeption von Klängen, Stimmen und Geräuschen (noise). Im Anschluss an, zum Beispiel, anthropologische und kulturanthropologische Forschungen (Rosalind Morris [2008]; Brian Larkin [2008]), an Untersuchungen kolonialer Praktiken (Achille Mbembe [2005/6]; Britta Lange [2020]; Anette Hoffmann [2020]), an der musiktheoretischen Verbindung von «Reason and Resonance» (Veit Erlmann [2010]), oder an Studien im Kontext imperialer Kriegsführung (J. Martin Daughtry [2015]; Steve Goodman [2010]) lassen sich nicht nur Fragen nach der Handlungsmacht des Sonischen, sondern auch Fragen nach historischen Archiven und dem Status von aufgezeichnetem Sound oder Klang als historischer Quelle überhaupt aufwerfen. Dabei soll vor allem der Reorientierung auf und der Integration von Sound Studies des «Globalen Südens», wie Gavin Steingo und Jim Sykes [2019] es programmatisch als «Remapping» vorgeschlagen haben, Rechnung getragen werden. Einerseits also wären ideologische und hegemoniale Praktiken freizulegen, andererseits Strategien der Störung, des Verweisens auf Postkoloniales auch im Akustischen. Das betrifft nicht nur die Seite der Aufnahme und Produktion von Sounddokumenten, sondern ebenso die Dimension des Hörens (Ana María Ochoa Gautier [2014]). Die Frage nach dem Ungehörten – Inaudible –, das als Kehrseite einer Theorie und Geschichte des Gehörten – Audible (Jonathan Sterne [2003]) – verstanden werden kann, verlangt eine kritische Wahrnehmung von Sounds ebenso wie den Medien ihrer Erzeugung. Sie verweist erneut auf eine prinzipielle Medialität von Historiographie, und insgesamt, um hier zwei Studien zusammenzuziehen, auf ein «Remapping of Reason», das Voraussetzung für Möglichkeiten der Dekolonisierung wäre.

Wir schlagen die folgenden Aspekte für mögliche Beiträge vor:

  • Recording Systems/Aufzeichnungssysteme. Aufnahmedispositive, die in der Medienwissenschaft prominent unter dem Begriff der Aufschreibesysteme (Friedrich Kittler [1985] zitiert Schreber) firmieren, gilt es auch für die Sound Studies zu untersuchen. Zur Diskussion stehen die technischen Dispositive der Aufzeichnung von Stimmen, Tönen und Geräuschen (noise), unterschiedliche Formate der Speicherung oder Verteilung (Sterne [2012]), sowie Transfers und Übersetzungen zwischen Medien und Formaten. Dabei geht es nicht um Technikgeschichte, sondern es soll reflektiert werden, wie unterschiedliche Techniken der Aufzeichnung von Sound unterschiedliche akustische Repräsentationen – besonders des Anderen und von Alterität – mitproduzieren (David Novak und Matt Sakakeeny [2015]).
  • Filter. Westliche Kulturen und Kulturtechniken, so Gregory Whitehead, zeichnen sich generell durch Praktiken zur Reduktion von Störungen und Störgeräuschen aus (Gregory Whitehead [1990]). Medienwissenschaftlich lässt sich das als Problem von Filtern und Filtersystemen untersuchen. So ist beispielsweise die Transkription von Tonaufzeichnungen in der Anthropologie abhängig von einem Set von Techniken und Fertigkeiten – Bleistift, Papier, Alphabete, Schrift, Schreibmaschinen, Computer usw. –, die aus einer akustischen Umgebung Texte machen. Filtersysteme können kulturellen Regeln folgen oder technisch implementiert sein, z.B. in Mikrofonen, Abspielgeräten, Algorithmen. Letztendlich lässt sich auch der Prozess der Digitalisierung als Filterung beschreiben. Alles hörbare Material müsste gegen den Anschein des Authentischen daraufhin kritisch befragt werden. Damit verbunden sind Probleme des Ein- und Ausschlusses: Entscheidungen zum Beispiel, was als Signal und was als Rauschen (noise) gelten kann oder gehört wird.
  • Soundarchive: Auch Soundarchive stehen unter dem Verdacht, hermetisch verschlossen und unveränderbar zu sein (Manuel García [2017]). Gerade im Kontext dekolonialer Anstrengungen gilt es, Soundarchive als historische Quellen und deren Rolle in der Stabilisierung kolonialer Geschichtsschreibung kritisch in den Blick zu nehmen. Zur Diskussion stehen demnach historische Machtstrukturen, die Produktion und Transmission von Wissen und Strategien zur Speicherung und Ordnung von Soundarchiven. Technische Soundaufnahmen befördern Hierarchien zwischen denen, die aufnehmen und denen, die aufgenommen werden und schreiben dabei entweder historische Herrschaftsformen fort, oder führen neue Herrschaftsformen ein.
  • Klassifizierung klanglicher Objekte. Während die kritische Auseinandersetzung mit Fotografie und Kinematografie als Medien und Praktiken der Vermessung und Klassifikation gut beforscht sind, wird Sound erst kürzlich in diesem Kontext reflektiert. Dabei soll es aber nicht nur um ein Offenlegen epistemischer und hegemonialer Strategien gehen. Die Stimme beispielsweise wurde im kolonialen Kontext besonders als Untersuchungsobjekt der Phonetik und Semantik verhandelt, dabei allerdings dezidiert nicht gehört und ebenso wenig verstanden (Britta Lange [2015]; Adriana Cavarero [2005]). Sie wurde gerade nicht als Kommentar konkreter historischer und sozialer Situationen betrachtet. Dabei eröffnet nicht lediglich die semantische Transkription der Aufnahmen das Verständnis für historische und soziale Konstellationen (Anette Hoffmann [2018]), sondern ebenso die Untersuchung klanglicher Objekte hinsichtlich der Erzeugung oder Löschung von Umgebungen (etwa durch die Charakteristiken von Mikrofonen). Das beeinflusst ebenso Aspekte von Klassifikation, Ästhetik und nicht zuletzt genderkritischer Politik.
  • Infrastrukturen und Distribution. Sound und Soundobjekte, verstanden als «Grenzobjekte» (Susan Leigh Star [2000]), sind gleichermaßen robust wie flexibel, um so über Grenzen hinweg Fächer, Diskurse und Techniken zu verbinden und miteinander in Beziehung zu setzen. Gleichzeitig regulieren Infrastrukturen im Sinne medialer und technischer Anordnungen die Zirkulation, Distribution und den Zugang zu Sound, Soundarchiven und -praktiken auf unterschiedliche Art und Weise. Dabei produzieren sie immer auch politische Strategien und Gegenstrategien mit, die auf den medial-technischen Voraussetzung der jeweiligen Infrastrukturen basieren.
  • Sonic Ecology: Nicht nur die Klassifikation von Sound und Soundobjekten, sondern auch durch Medien produzierte akustische Umgebungen (Sonic Ecologies) erfordern eine kritische Beschreibung und Reflexion. Wird Sound nicht als authentischer Ausdruck kultureller Ontologien, sondern immer auch als Produktion territorialer und akustischer Ökologien und Umgebungen (Dhanveer Singh Brar [2016]) verstanden, schließen sich Fragen der technischen Genese, der ästhetischen, sozialen und politischen Organisation, wie auch der Formen von Subjektivierung und Segregation in und entlang solch akustisch-medialer Ökologien an.
  • Mobilität und Migration. Akustische Medien arbeiten entscheidend an der Transgression oder Stabilisierung von Territorien mit. Aufteilungen oder Zersetzung des Raums durch staatliche, polizeiliche oder militärische Grenzziehungen können durch technische Standards oder Formate ebenso wie durch akustische Praktiken in Frage gestellt werden, etwa durch pirate radios oder andere Formen klandestiner Sender (Steve Goodman [2010]; Muhammed Haron [2015]), durch Tausch- und Übertragungspraktiken musikalischer Formen, ebenso wie durch industrielle Standards und Netzwerke. Gleichzeitig gilt es die Erfahrungen von Migration und Migrationsbewegungen, wie auch die Dokumentation von Migrationsrouten in Form akustischer Ereignisse und Aufzeichnungen aufzuarbeiten (Vassilis S. Tsianos, Brigitta Kuster [2021]; Tsianos, Holl, Ott [2015]) und als Verhandlung von Identitäten auf der einen, und als Zirkulation auf der anderen Seite zu begreifen: Zwischen «treks» und «tracks» (Johannes Salim Ismaiel-Wendt and Andi Schoon [2022]; Ismaiel-Wendt [2011]).

Wir laden dazu ein, in Beiträgen an die skizzierten Problem- und Fragestellungen anzuknüpfen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass gegenwärtige Transformationen des Hörens und der Hörkulturen, die maßgeblich durch Medienpraktiken mitbestimmt werden, neue Verbindungen von akustischen Praktiken des globalen Südens mit solchen des globalen Nordens denkbar machen können. Sehr erwünscht sind daher Einreichungen, die nicht nur analytisch-deskriptiv an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Sound Studies operieren, sondern auch solche, die begriffliche Festschreibungen infrage stellen und auf neue Art und Weise denkbar und produktiv machen.

Schwerpunktredaktion: Ute Holl, Emanuel Welinder

Ideen für mögliche Beiträge können sehr gern vor dem Einreichen der ausgearbeiteten Texte mit der Schwerpunktredaktion besprochen werden.

Einreichungen sind bis zum 29. Februar 2024 einzureichen: ute.holl@unibas.ch, emanuel.welinder@unibas.ch.

Autor*innen werden gebeten, die Zitierweise und Formalien ihrer Texte an den Style Guide anzupassen.