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Videography

Editorial

29.2.2024

English version

Der Videoessay prägt seit einigen Jahren die globale Medienkultur und Medienwissenschaft. Er modifiziert nachhaltig das Denken mit und über audiovisuelle(n) Bilder(n).1 Zunächst als filmkritische bzw. cinephile Ausdrucksform auf Online-Video-Plattformen entstanden, wirkt der Videoessay als Publikationsform, Unterrichtsmaterial und Forschungsmethode mittlerweile unübersehbar auf den akademischen Diskurs – vorrangig im angloamerikanischen Raum, aber zunehmend auch in Europa.2 Vermeintlich klare Grenzen zwischen Kunst und (Medien-)Wissenschaft, zwischen ästhetischer und theoretischer Erkenntnis, werden im Sinne einer differenzierteren Betrachtung zur Disposition gestellt – eine Verunsicherung, die essayistische Formen ganz grundlegend provozieren.

Der ZfM-Blog «Videography» baut auf dem von der VW-Stiftung geförderten Symposium «Videography: Art and Academia. Epistemological, Political and Pedagogical Potentials of Audiovisual Practices» auf, das im November 2022 in Hannover stattfand. Er widmet sich dem Videoessay und der mit ihm verbundenen Herausforderung, wissenschaftliche Forschung und künstlerischen Ausdruck kreativ miteinander zu verbinden. Im Anschluss an aktuelle Diskurse und Entwicklungen werden dabei insbesondere Potenziale und Grenzen videografischer Forschungspraxis konturiert.

Videoessays stehen als kulturelle Praxis in einer Tradition, die auf Montaignes begriffsprägende literarische Essais zurückgeht und sich im 20. Jahrhundert in diversen anderen Medien (Radio, Fotografie, Film) entwickelte. Ende der 2000er Jahre traten Videoessays erstmals in wissenschaftlich-künstlerischer Form hervor – insbesondere im anglo-amerikanischen Raum. Die fortschreitende Digitalisierung demokratisierte den Zugang zu audiovisuellem Material und Videobearbeitungsprogrammen und eröffnete neue Verbreitungswege.3 Im heutigen akademischen Kontext handelt es sich bei Videoessays typischerweise um kurze Videos, in denen – mittels Montage, Voiceover und/oder Text – eine These, Argumentation, Analyse und/oder subjektive Haltung zu einem oder mehreren medialen Objekten zum Ausdruck gebracht und die auf Online-Videoportalen wie Vimeo oder YouTube zugänglich gemacht werden. Videoessayist*innen arbeiten dabei auf Grundlage theoretischer, philosophischer und politischer Fragestellungen mit existierendem audiovisuellem Material. Sie ‹schreiben› sozusagen mit audiovisuellen Bildern über audiovisuelle Bilder.4

Die Arbeiten zahlreicher etablierter Wissenschaftler*innen, die auf vielfältige Weise videografische Praktiken in Forschung und Lehre integrieren, belegen die fortschreitende Akademisierung des Videoessays sowohl als Gegenstand als auch als Methodik.5 Die Filmwissenschaftlerin Catherine Grant etwa betrachtet ihre eigene Arbeit als performative Forschung, die das Verhältnis zwischen Schrift und Audiovisuellem in der Produktion und Vermittlung von Wissen neu bestimmt.6 Gleichzeitig wird in Videoessays zunehmend mit poetischen Reflexionen über die subjektive Prägung wissenschaftlicher Erkenntnis und mit autoethnographischen Analysen von Rezeptionserfahrungen experimentiert. Miklós Kiss, der sich kritisch mit dem Einsatz von videografischen Formen in Forschungskontexten auseinandersetzt, betont, dass videografische Praktiken sowohl Forschungs- und Analysemethodik als auch Kommunikationsform darstellen und dabei akademische Anforderungen erfüllen müssen.7 Hiermit adressiert er nicht zuletzt auch das Problem, dass Videoessays zwar zunehmend integraler Bestandteil der wissenschaftlichen und künstlerischen Ausbildung sind, jedoch keine Einigkeit über die wissenschaftlichen Gelingenskriterien herrscht.8

Seit einigen Jahren bilden sich akademische Infrastrukturen heraus, die entscheidend zur Anerkennung und Institutionalisierung von Videoessays als wissenschaftliche Praxis beitragen. Federführend bei dieser Entwicklung sind Fachzeitschriften, die sich auf videoessayistische Publikationsformen spezialisieren. [in]Transition wurde 2014 gegründet und gilt als erste anerkannte Plattform mit diesem Schwerpunkt; Tecmerin Revista de ensayos audiovisuales bietet als Publikationsforum der Forschungsgruppe Tecmerin (Television, Cinema, Memory, Representation and Industry) der Universidad Carlos III in Madrid seit 2018 einen überwiegend hispanischen Fokus. Weiterhin haben mittlerweile internationale Online-Publikationsmedien wie NECSUS, The Cine-Files oder die dänische Filmzeitschrift 16:9 Sektionen für Videoessays eingeführt oder ihnen eigene Themenhefte gewidmet. Im deutschsprachigen Raum gibt es bislang noch keine vergleichbare Entwicklung. Vereinzelte Initiativen, wie die an der Universität Bremen angesiedelte Zeitschrift Research in Film & History, die regelmäßig Videoessays veröffentlicht, deuten allerdings auf ein wachsendes Interesse an videografischen Forschungsbeiträgen hin, das zu beantworten ein zentrales Anliegen dieses multimodalen Blogs ist. Nicht dass, sondern wie der Videoessay als wissenschaftlich-künstlerische und pädagogische Praxis Denk- und Erkenntnisprozesse gestalten und prägen kann, ist also die übergeordnete Frage des «Videography»-Blogs.

Die ersten drei Ausgaben widmen sich dieser Fragestellung mit drei verschiedenen Schwerpunkten, die die epistemologischen, politischen und pädagogischen Potenziale videografischer Praxis beleuchten.

Issue 1: #epistemology

Im Zentrum des ersten Issues (#epistemology) loten die Autor*innen die Synthese theoretischer und ästhetischer Erkenntnisprozesse im videografischen Arbeiten aus unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungs- und Forschungskontexten in ihren Video- und Textbeiträgen aus. Die Videos «Sensuous and Affective» (Oswald Iten) und «Laterally» (Maria Hofmann) fragen danach, wie die Erkenntnismöglichkeiten von Videoessays gefasst werden können. Wie verändert videografisches Arbeiten unsere Konzepte und Methoden von ‹Erkenntnis› und ‹Forschung›? Farzaneh Yazdandoost befragt und rearrangiert in «Arbitrary Motion» wirkungsvoll animierte Filmausschnitte, um einen für Stop-Motion typischen ästhetischen Effekt prägnant und in seiner Vielgestaltigkeit aufzuzeigen. Christine Reeh-Peters reflektiert das Erkenntnisvermögen von Videoessays aus filmphilosophischer Sicht. Welchen Beitrag das Vermessen des Videografischen für den wissenschaftlich-künstlerischen Dialog leisten kann, durchdenkt Alan O’Leary in «Nebular Epistemics» performativ und nutzt dafür das Subgenre der illustrated lecture. Zu Aspekten des Persönlichen und der Verletzlichkeit, die mit der Praxis des Videoessays häufig Hand in Hand gehen, positionieren sich schließlich Evelyn Kreutzer und Johannes Binotto in «A Manifesto for Videographic Vulnerability» und erörtern das Thema in einem anknüpfenden Gespräch. 

Issue 2: #politics

Die Autor*innen des zweiten Issue (#politics) widmen sich drängenden Fragen zu den politischen Potentialen und Verantwortungsbereichen des Videoessays. Die Videos «The Accented Sound of Camp» (Barbara Zecchi) und «Donna Summer and the White European Male Gaze» (Jaap Koojiman) untersuchen beide – aus unterschiedlichen Perspektiven – die national-kulturellen Prägungen ihres Film- bzw. Fernsehshow-Materials, indem sie spielerische, experimentelle beziehungsweise performative Verfremdungseffekte einsetzen, die damit die Problematik der rassistischen, sexistischen und xenophoben Darstellungen offenlegen. «Screen-Stage Dialogues» (Elena Igartuburu) und «Não veio dos céus nem das mãos de Isabel» (Rodrigo Campos) knüpfen daran an und machen die ‹unsichtbare› Gewalt sowie die Befreiungskämpfe, die sich in eine kolonial geprägte Filmgeschichte und ihre Archive eingeschrieben haben, sichtbar. Auf poetische Weise setzen sie sich dabei mit Black Performance und Black Erasure auseinander. Die Texte von Susan Harewood und Will DiGravio befassen sich schließlich explizit und aus einer breiteren Perspektive mit den politischen Handlungsspielräumen videografischen Arbeitens. Welchen Einflüssen und welcher Verantwortung müssen sich Videoessayist*innen stellen, wenn es um Fragen des Kanons und dessen Re- oder Dekonstruktion geht? Und welcher (zumeist unvergüteter) Zeit- und Arbeitsaufwand bleibt oft hinter veröffentlichten Videoessays verborgen? 

Issue 3: #pedagogy

Der dritte Issue (#pedagogy) befasst sich mit den Implikationen, Potenzialen und Herausforderungen, die mit videografischen Praktiken in pädagogischen Kontexten einhergehen. Zunächst untersucht Kristina Brüning in ihrem Videoessay «Der Videoessay als feministischer Remix» die geschlechtsspezifischen Erfahrungen von Schauspielerinnen vor und hinter den Kulissen. Sie verwendet den Remix als einen Ansatz, um Szenen aus Filmen und Fernsehserien, die junge Frauen zeigen, mit Interviewaufnahmen der Schauspielerinnen, die sie verkörpert haben, zu verbinden und gegenüberzustellen. In diesen Interviews sprechen die Schauspielerinnen über ihre Erfahrungen mit Objektivierung, Demütigung und Belästigung in der Arbeitswelt. Brüning demonstriert so das pädagogische Potenzial videografischer Methoden, insbesondere des ‹feministischen Remixes› für die Forschung zu Industrie und Repräsentation. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit dem Unterrichten von Videographic Criticism gibt Ariel Avissar eine Reihe von Impulsen für videografische Übungen, die Studierenden helfen können, sich Herausforderungen bei der Produktion von Videoessays zu stellen, einschließlich Ängsten vor der Aufnahme von Voiceovers, der Arbeit mit Fernsehserien oder der Arbeit an einem größeren videografischen Projekt. In seinem Videoessay «Play | Flow | Sea» beschäftigt sich Juan Llamas-Rodriguez mit dem Handyspiel Survival (2017), in dem man als Spieler*in die Reise von Migrant*innen aus erster Hand miterleben können soll, vom Herkunftsland bis zum Ziel, einschließlich lebensgefährlicher Bootsüberfahrten im Mittelmeer. Llamas-Rodriguez verwendet die videografischen Mittel der Wiederholung und Gegenüberstellung, um über die ethischen und ästhetischen Probleme solcher sogenannten «ernsthaften Spiele» (serious games) nachzudenken, die behaupten, auf pädagogische Weise auf reale Grausamkeiten aufmerksam zu machen. Cormac Donnelly wiederum reflektiert über konkrete Unterrichtserfahrungen und schlägt vor, dass das Unterrichten von videografischen Praktiken nicht nur neue technische Fähigkeiten und Herangehensweisen an Medienobjekte erfordert, sondern auch eine neue Art von Feedback, die der künstlerischen und oft sehr persönlichen Qualität der Videoessays, die die Studierenden produzieren, gerecht wird. In seinem Beitrag «Feedback neu denken: Eine pädagogische Begegnung mit Videoessay-Studierenden» ermutigt Donnelly zu einem Feedbackprozess, der über Ideale der Korrektheit hinausgeht und sich einer fördernden Form der Kritik zuwendet. Ausgehend von ihrer eigenen videografischen Reise untersucht Ariane Hudelet den Zusammenhang zwischen dem Unterrichten von Videoessays und dem Lernen, wie man Videoessays macht. In ihrem Videoessay «Kreative Resonanz und das Audiovisuelle und der audiovisuelle Essay» denkt Hudelet darüber nach, wie jede dieser Erfahrungen sowohl bei Präsenzveranstaltungen als auch in Online-Communities Resonanzen erzeugen kann. Schließlich erweitert Miklós Kiss diese Diskussion auf größere ontologische und disziplinäre Anliegen in der videografischen Filmwissenschaft und richtet sich an uns alle in und über dieses Feld hinaus, wenn er fragt: «Was hat es mit dem ‹Akademischen› in der videografischen Kritik auf sich?» Zusammengenommen greifen die drei schriftlichen und drei audiovisuellen Beiträge in diesem dritten Issue viele der politischen und epistemologischen Anliegen auf, die in den beiden vorangegangenen Issues des Videography Blogs thematisiert wurden, und wenden sie auf einige der dringendsten pädagogischen und wissenschaftlich-künstlerischen Probleme an, mit denen wir derzeit konfrontiert sind.

Diese Publikation ist gefördert aus Mitteln der Volkswagen-Stiftung.

  • 1Christian Keathley: La Caméra Stylo, in: Alex von Clayton, Andrew Klevan (ed.), The Language and Style of Film Criticism, London/New York 2011, 176–190. Christian Keathley, Jason Mittell und Catherine Grant (eds.): The Videographic Essay: Practice & Pedagogy. Scalar: 2019. videographicessay.org/works/videographic-essay/index (21.03.2023)
  • 2Volker Pantenburg: Videographic Film Studies, in: Malte Hagener, Volker Pantenburg (ed.): Handbuch Filmanalyse, Wiesbaden 2017, 4.
  • 3Thomas van der Berg und Miklós Kiss: Film Studies in Motion: From Audiovisual Essay to Academic Research Video. Scalar 2016. scalar.usc.edu/works/film-studies-in-motion/index (21.03.2023)
  • 4Keathley 2011, 179.
  • 5Liz Greene: Teaching the Student, Not the Subject: Videographic Scholarship, in: The Cine-Files, 15, fall 2020. http://www.thecine-files.com/teaching-the-student-not-the-subject/ (21.03.2023).
  • 6Catherine Grant: The audiovisual essay as performative research, in: NECSUS, 2016, 5 (2), 255–265.
  • 7Miklós Kiss: Videographic Criticism in the Classroom: Research method and Communication Mode in Scholarly Practice, in: The Cine-Files, 15, fall 2020. http://www.thecine-files.com/videographic-criticism-in-the-classroom (21.03.2023).
  • 8ebd.

Bevorzugte Zitationsweise

Kreutzer, Evelyn; Loock, Kathleen; Philippi, Anna-Sophie; Reinerth, Maike Sarah: Editorial. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Videography, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/videography-blog/editorial.

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