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Ovarian Psycos

Ovarian Psycos (2016), Regie: Joanna Sokolowski, Kate Trumbull-LaValle, Filmstill

GAAAP_ The Blog

Radfahren als feministische Praxis

«Ovarian Psycos» (USA 2016)

26.8.2019

In dieser Serie von Beiträgen geht es mir um die Idee der Subjektivierung in zeitgenössischen Mobilitäts- und Verkehrsregimen. Mit Félix Guattari sehe ich Subjektivierung nicht als einen Prozess des Werdens eines Individuums, sondern als Möglichkeit an, Erfahrungen auf ein Selbst zu beziehen. Mannigfaltige Techniken können so eine Umwelt formen, die Subjektivierung auf bestimmte Weise hervorbringt. Technik einer Subjektivierung kann auch das Fahrradfahren sein als Teil umfassender Erfahrung von Bewegung und Mobilität in aktuellen Verkehrsregimen.

Neben utopischen Aspekten im ersten Teil und der Politik der Anrufung von Radfahrenden im zweiten Teil dieser Serie möchte ich hier den Film Ovarian Psycos (USA 2016, Regie: Joanna Sokolowski, Kate Trumbull-LaValle) näher besprechen, der mir als Beispiel dafür dienen soll, wie feministische Kollektive Radfahren strategisch einsetzen. Ovarian Psycos demonstriert, dass Radfahren und Subjektivität eng verschränkt sind.

Clitorial mass

Im Dokumentarfilm Ovarian Psycos (hier ein längerer Ausschnitt, und hier) werden Frauen* der Ovarian Psycos Cycle Brigade portraitiert, die seit 2010 zusammen radfahren und die aufgrund familiärer, aber auch struktureller, rassistischer und misogyner Situationen Traumatisierungen erfahren haben und/oder sich gegen diskriminierende Anrufungen wehren. Diese clitorial mass (statt critical mass) in East LA wird begleitet von speech ins, open mics, Konzerten und Treffen feministischer Gruppen. Das Radfahren, vor allem: die Bewegung, die zu Vollmondnächten auf den Straßen LAs stattfindet, versammelt Frauen in reclaim the night/reclaim the streets-Manier. Die überwiegend women of colour setzen in der Gruppe beim Fahren auf das Prinzip strengths in numbers, daher können sie sich auch nachts in als gefährlich geltenden Stadtteilen bewegen. Neben dem Radfahren stellen Poetry Slams und Jam Sessions eine Öffentlichkeit her und werden zu einer Aktionsform  und zu einer Form der kollektiven Aneignung von Verkehrswegen. Radfahren wird in den clitorial masses als psychosoziale und politische Technik entwickelt.

Subjektivierung und Infrastruktur

In Ovarian Psycos geht es darum, wie Radfahren und soziale Infrastruktur einander stärken. Die Öffentlichkeit, der öffentliche Raum sind hier mindestens so sehr Schlüsselelement wie die radfahrende Bewegung selbst. Die Frauen in Ovarian Psycos nutzen das Radfahren und die Öffentlichkeit als Medien der Subjektivierung.  Im Dokumentarfilm werden auch Textnachrichten visualisiert, die im Bild zu lesen sind, wie es in den letzten Jahren verstärkt in TV-Serien zu finden war. Häufig finden wir diese Nachrichten über Bilder des Radfahrens eingeblendet, als ob zwischen beiden ein Zusammenhang bestünde. Die Ebene der sozialen Medien nimmt ebenso einen Raum ein wie in Ovarian Psycos das Radfahren. Beide Elemente werden zusehends verschaltet, wo die Vorbereitung und Mobilisierung zu den Crit Masses gezeigt werden.

Ovarian Psycos verdeutlicht, dass die Bewegung in der Gruppe nicht nur eine politische Botschaft herüberbringen kann, vor allem nicht nur eine, die das Radfahren selbst zum Ziel hat (Forderungen nach Radinfrastrukturen etwa), sondern auch eine heilsame Wirkung haben kann. Heilung heißt hier, sich als feministisches Kollektiv über die freie Bewegung im Raum einen Bezug zu einer als feindlich und bedrohlich erfahrenen Umwelt wieder herzustellen – bzw. durch Bewegung neue Räume herzustellen. Für eine der Gründerinnen des Kollektivs Xela de la x ist Radfahren auch ein Ausbruch aus der Enge der Wohnung und einer Vergangenheit, in der sie aufgrund ihres Geschlechts von ihrer Familie eingesperrt sowie Opfer sexueller Gewalt durch Familienangehörige wurde. Mobilität und Kollektivität werden hier als Möglichkeit eines veränderten Selbstbezugs vorgestellt.

Der Film zeigt uns die Moon Rides, die Treffen, die Konflikte und Aushandlungen verschiedener Differenzen, etwa Mutter, Frau, alleinerziehend und Latina zu sein. Das Radfahren wird anders als in europäischen politischen Kämpfen nicht Ausdrucksmittel einer ökologischen Bewegung. Es steht nicht für Nachhaltigkeit oder Konsumkritik – auch wenn diese Aspekte nicht ausgeschlossen oder konterkariert werden und sicher anschlussfähig sind –; vielmehr zeigen die Diskurse der women of colour in Ovarian Psycos, dass sie mit dem Radfahren gegen Rape Culture, lookism, gegen Gewalt gegen Frauen, gegen ihr Verschwindenlassen, gegen die strukturelle Straflosigkeit für sexuelle Gewalttaten kämpfen. Mit den persönlichen Geschichten der Heilung wird ein größeres politisches Unterfangen adressiert. In ihren Aktionen solidarisieren sie sich mit den Kämpfen illegalisierter Migration. So werden auch Bewegungen verbunden: Sichtbare und unsichtbar gemachte, häusliche und große Bewegungen. Es wird deutlich wie stark die Aneignung von Öffentlichkeit für unsichtbar gemachte Kämpfe auch mit der Herstellung von Bewegungsräumen verzahnt ist. 

Radfahren als Bühne intersektionaler Kämpfe

Mit der Dramatisierung und der Performanz öffentlicher intersektionaler Kämpfe, die durch das Radfahren auf die Straße getragen werden, entwickelt sich hier die spezifische Ästhetik einer politischen Bewegung. Hier wird das Radfahren in einer anderen, stark durch DIY und Musikvideoästhetiken beeinflussten, anarchistischen, feministischen Ästhetik codiert, die einer europäischen oder deutschen Radfahrbewegung deutlich etwas hinzufügt. Damit machen Joanna Sokolowski und Kate Trumbull-LaValle auch darauf aufmerksam, dass sich um das Radfahren eine bestimmte männliche und weiße Kultur formiert hat. Radfahren ist hier nicht auf das Recht radzufahren› fokussiert, sondern wird Bühne, Ausdruck und Aggregat sozialer Kämpfe. In der gemeinsamen Bewegung entsteht eine Ästhetik der Mobilität – ein utopisches Element, welches Autos und Autokultur für einen Moment von der Straße verdrängt oder sie zwingt, hinter dem Rad-Pulk zu fahren. Es ist die Bewegung auf der Straße, Aneignung des öffentlichen Raums, aber auch die Materialität des Stahlrahmens, die Eigenmächtigkeit (Selbstwirksamkeit) der Bewegung, die Gruppe und die soziale Nähe, die anders als in Autos durch das gemeinsame und doch selbstbestimmte Radfahren entsteht.

Daneben geht es auch darum, einer überwiegend weißen Fahrradkultur – wie sie wahrscheinlich ebenso in den deutschen Critical masses überrepräsentiert ist – etwas entgegensetzen. Deshalb zeigt Ovarian Psycos, dass Kämpfe um Mobilität, Klimagerechtigkeit, Feminismus und Antirassismus verbunden werden müssen. Vor allem befinden wir uns heute in einem Zeitalter, in welchem die aktuelle Klimakatastrophe vor allem Frauen trifft, was nachhaltige Mobilität noch einmal mehr zu einem Schlüsselthema und Bindeglied feministischer, postkolonialer und ökologischer Kämpfe macht. Diese Differenzen können verschränkt werden: Radfahren wird hier Medium und Aushandlungsfeld differenter Subjektivitäten.

Bewegungsbilder als affektive Potentiale

Nicht zuletzt erzeugt Ovarian Psycos auch andere Bilder vom Radfahren. Bilder, die Bewegung dramatisieren, die starke Frauen* auf Rädern durch lange shots und schräge Winkel von unten in Szene setzen. Frauen*, die eine Ästhetik des alltäglichen Kampfes herstellen und ihre Räder als Ausdruck dieses Kampfes und als Kommunikationsmittel nutzen. Bilder sind Teil unserer affektiven Infrastruktur, die unsere Körper auf Straßen, Schienen und sonstwo ausrichten. Daher gilt es nicht nur, positive oder harmonische Bilder vom Radfahren zu erzeugen, sondern (Bewegungs-)Bilder als Teil der Erfahrung neuer Städte ernst zu nehmen. Und die Kämpfe um Aneignung dieser Städte brauchen ihren Platz in der öffentlichen Wahrnehmung, die sich ohnehin schon damit abgefunden hat, dass das Auto und die Stadt untrennbar verwachsen sind. Es braucht mehr und positive Repräsentationen des Radfahrens, es braucht aber auch das Verständnis von Verkehr als subjektivierender Praxis im Mobilitätszeitalter. Infrastrukturen haben etwas mit der Vorstellungskraft zu tun, und diese ist nun einmal nachhaltig von Autoverkehr besetzt. Dabei darf man Bilder nicht als repräsentationale Einheiten im Kampf gegen eine auch medialisierte Autofahrer_innenkultur verstehen. Sie zeigen nicht einfach bessere und schönere Radfahrwelten, sondern sind affektive Einsätze gegen Bedrohung und Anrufung. Sie sind Möglichkeiten, Infrastrukturen zugleich materiell und affektiv zu verstehen.

Vgl. auch: Julia Bee, Biking and her Allies. Vom Recht auf Bewegung im öffentlichen Raum

Bevorzugte Zitationsweise

Bee, Julia: Radfahren als feministische Praxis. «Ovarian Psycos» (USA 2016). In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/radfahren-als-feministische-praxis.

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