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GAAAP_ The Blog

Biking and her Allies

Zum Recht auf Bewegung im öffentlichen Raum

26.8.2019

Anfang 2019 launchte Volvo eine Kampagne für einen neuen sogenannten Mini-SUV, der mit dem Motto beworben wird «Own the city». Diese Versprechung ist auf so viele Weisen Ausdruck einer Sichtweise, man könne die Stadt durch ein Auto in Besitz nehmen: Sie liegt vor dir, leer und Piste deiner Träume. Expand yourself! Es ist übrigens auch das Motto des Gameklassikers Need for speed Carbon – Own the City (2006). Zufall? Doch mit der spielerischen Aufforderung, die Stadt in Besitz zu nehmen, spricht Volvo nur aus, was ohnehin alltäglich passiert: Die automotorisierte Aneignung von öffentlichem Raum.

Obwohl wir für viele Menschen scheinbar in einem Kontinuum von ökologischen Diskussionen leben, ändert sich de facto im Straßenverkehr wenig. Gegenüber möglichem Verlust von Privilegien artikuliert sich jedoch schon jetzt massive Gegenwehr auf den Straßen. Noch ist keinem der SUV weggenommen worden – aber die Aggressionen haben sich um ein Vielfaches erhöht. Ein Teil der fossilen Lebensweise schreit noch einmal auf. Hoffentlich zum letzten Mal. Leider neigt sich ein Sommer dem Herbst in einem Jahr zu, in welchem zukunftsweisende Verkehrsprojekte abgesägt wurden (Ruhrschnellweg), in dem Berlin immer noch ganz am Anfang seines Radpakets steht (die halbe Holzmarktstraße ist immerhin geschafft!) und die weitere Umsetzung einfach blockiert wird. Die Unfallzahlen für die erste Hälfte des Jahres deutschlandweit lassen vermuten, dass die Zahl toter Radfahrender weiter steigt. Nun kann man sagen, dass auch mehr Menschen radfahren. Dies ändert statistisch etwas. Aber jede tote Radfahrerin ist eine zu viel, und es ist nicht ohne Zynismus zu sagen, dass eben bei mehr Radfahrerinnen auch mehr sterben.

Diese Debatten scheinen eher vom mangelnden Fortschritt abzulenken. Und gleichzeitig spannt sich die Lage an – denn immer mehr zweirädrige Gefährte wie Roller drängen auf den Markt, und die Radwege werden voll.

Dabei ist Radfahren nicht nur wesentlich für die Verbesserung des Stadtklimas, sondern auch für eine Stadt, die nicht vom Auto dominiert wird und von der Phantasie des reibungslosen ‹Durchkommens›. Wir sprechen – wie so oft in ökologischen Themen – hier auch von einem sozialen Thema und von einem grundlegenden demokratischen Recht – Bewegungsfreiheit.

Wem gehört die Straße – und wie?

Nachdem jüngst «Radminister» Andreas Scheuer (gern erinnern wir uns an die sexy Modellkampagne zur Bewerbung des Radhelms) noch einmal die Grundrechte des Fahrradfahrens zu schützen als eine besondere Leistung seinerseits markiert in den gesetzgebenden Diskurs eingebracht hat und sich damit sowohl seiner Verantwortung bezüglich ernsthafter Infrastrukturmaßnahmen beredt enthalten hat (die Umsetzung liegt ohnehin bei den Ländern und kann in vielen Fällen mit den aktuellen Maßnahmen gar nicht nachgewiesen werden), beobachtet man im öffentlichen Umgang bereits eine Umwertung des Radfahrens – leider in die falsche Richtung. Schon in den letzten Wochen hat sich das Klima auf deutschen Straßen verschlechtert. Während man früher noch von Autofahrenden gemahnt wurde, weil man etwa kleinerer Vergehen verdächtigt wurde, reicht es heute, einfach auf der Straße zu fahren und nicht direkt zur Seite zu springen, wenn ein Auto bis auf 30 cm heranfährt, um das ihm natürlich vom Gott des Autofahrens gegebene Recht einzufordern, überall mit dem Auto fahren zu dürfen. Es scheint, als ob allein die Debatten um eine Umverteilung von Verkehrsraum dazu führen, dass Ressentiments verstärkt werden. In der letzten Woche bin ich mehrmals von Autofahrenden beschimpft und bedroht worden, weil ich auf der Straße gefahren bin und nicht auf dem Radweg. Oder einfach, weil ich nicht ausgewichen bin auf einer einspurigen Straße, bei der man hätte 50 Meter hinter mir her fahren müssen, weil Überholen unmöglich wäre. 50 Meter, die eine unglaubliche Wut ausgelöst haben bis hin zur Drohung mit der Polizei, Dauerhupen und Nahauffahren. Der Ton wird dann meist schnell nicht mehr nur herabsetzend, sondern überschreitet die Grenze zur verbalen Gewaltandrohung (was übrigens dem Straftatbestand der Nötigung entspricht wenn es aufgrund von Zeug_innen erfolgreich zur Anzeige gebracht wird ).1

Immer häufiger wird dabei die Benutzung des Radweges, d.h. die Verbannung der Räder von der Straße gefordert (die sozialen Medien sind voll von Erfahrungsberichten, siehe etwa den #Fahrradalltag). Dabei ist die Benutzung eines Radweges keine generelle Pflicht (mehr), denn Radfahrstreifen sind häufig ein Sicherheitsrisiko, wenn Radfahrende etwa hinter parkenden Autos versteckt fahren und an Ampeln daher abbiegende Autos Unfälle verursachen. In einigen Fällen existieren benutzungspflichtige Radwege, jedoch müssen diese zumutbar sein und dürfen nicht zugeparkt sein. Schon gar nicht, wenn der Radstreifen nur für eine Richtung vorgesehen ist und auch nicht, wenn er 50 cm breit und mit Wurzeln übersät ist. Lösen hier die Debatten um mehr Maßnahmen für Radfahrende schon das Gefühl aus, selbst marginalisiert zu werden? Als Autofahrer_in gar ‹diskriminiert› zu werden? Oder werden die Radfahrenden als mobiler Dauerappell für Klimagerechtigkeit wahrgenommen, da sie qua Existenz schon an mögliche klimaneutrale Fortbewegungsmöglichkeiten mahnen?

Wenn ich dies mit Menschen diskutiere, die selbst Auto fahren, dann kommt häufig von Autofahrenden die Antwort, dass auch Radfahrende Regeln übertreten würden (Stichwort «Kampfradler»). Selbst ohne diese Diskurse über angebliche Kampfradler und regeltreue Autofahrende zu dekonstruieren, frage ich mich: Denken diese Menschen denn, dass die Konsequenz von Verkehrsübertretungen körperliche Züchtigung oder Unfall mit Todesfolge sein sollte (siehe auch meinen letzten Blogbeitrag zu diesem Thema)? Weswegen kommt so häufig das «Argument», dass auch Radfahrer_innen sich ‹daneben benähmen›, wenn man von einer getöteten Radfahrer_in erzählt? Wird hier Verantwortung oder Trauer aktiv abgewehrt, oder ist die radfahrende Person schon soweit objektiviert und entmenschlicht, dass es nur als logische Folge erscheint, dass Verletzung und Tod die Folge sind? Wird die getötete Person mit Regelübertretungen anderer Radfahrender in Verbindung gebracht, die zu ihrem Tod geführt haben? Mich verblüfft diese Zusammenführung immer wieder.2

Es scheint ein Rätsel zu sein, warum Radfahrende solche Aggressionen ‹auslösen›. BBC hat dazu vor einiger Zeit einen Artikel veröffentlicht, der aktuell wieder in Foren diskutiert wird. Hier wird Evolutionstheorie herangezogen, um zu zeigen, dass Regelübertretung ein hohes Maß an Aggression auslöst, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Radfahrende, die sich freier und flexibler durch den Verkehr bewegen können, auch mal an fahrenden Autos vorbeirollen, lösen demnach Aggressionen aus, weil sie die Verkörperung der Regelüberschreitung seien. Sie werden als nicht-regelkonform wahrgenommen, weswegen das Autofahrer_innenhirn quasi automatisch negative Emotionen triggert. Denn sie sichern die Kooperationsfähigkeit mit Fremden, eine Ordnung, die Radfahrende angeblich durch ihr abweichendes Verhalten stören.

Früher gab es Bücher, die das Schlecht-Einparken von Frauen thematisieren; heute gibt es Artikel, die Aggressionen gegen Radfahrende in der Evolution verorten. Dass Radfahren Aggressionen auslöst, ist aber keine naturwüchsige Tatsache. Übrigens auch nicht, dass Radfahrer_innen verletzt oder beim Rechtsabbiegen überrollt werden. Vielmehr ist diese Aggression Teil eines Verkehrsregimes, welches diese nicht nur als unangenehmen Teilaspekt einkalkuliert, sondern Autofahren nach wie vor als Königsweg individueller Fortbewegung feiert. Kurz – die Aggression ist ‹gemacht›. Sie zeigt einmal mehr die intime Verflechtung von Sprechakten, Affekten und Infrastruktur. Dass Radfahren häufig marginalisiert wird, Wege im Nichts aufhören, Ampelanlagen Autofahren und Autogeschwindigkeiten bevorzugen, ist keine Neuheit. Indem das Radfahren so derart wenig infrastrukturell unterstützt wird, müssen Radfahrende sich häufig schlicht Wege suchen, wo keine sind. Radfahrende stören nicht die durch Naturgesetze bewiesene Ordnung der Welt, sondern ihr Status als Störung wird systemisch (also strukturell, nicht aber intentional im Sinne einer politisch geplanten Maßnahme) erzeugt – und durch die Normalisierung des Autoverkehrs auf repräsentationale, affektive, politische und wirtschaftliche Weise stabilisiert. Und dieser Konnex aus Produktion und Repression wird dadurch verstärkt, dass immer wieder Teilansätze von Wegen angeboten werden. Denn diese suggerieren, dass Radfahrer_innen ausreichend Fläche hätten. Häufig sind diese nicht mehr als Farbe auf Wegen, die eher anzeigen, dass Radfahrende in der Türzone parkender Autos fahren sollen. Und selbst wenn es Wege gibt, geben diese vor, dass Radfahrende hintereinander und daher in einer bestimmten gebremsten Geschwindigkeit fahren sollen. Die Unfälle in Türzonen sind auch im Unfallbericht 2018 noch der Klassiker.

Biker Harrassment und Anrufungen

Die Freiheit, sich Wege zu suchen, hat auch ihren Reiz, weswegen die Radszene immer zu einem Teil eine Anarchoszene war und ist, die das Recht auf freie Bewegung und DIY-Kultur feiert. Dies unterstreicht auch noch einmal das Argument im Folgenden, nämlich die z.T. autoritäre und konservative Haltung, die Privilegien ungerne abgibt. Die Diskurse zur Kriminalisierung des Radfahrens reichen weit zurück bis zur ersten Verkehrsteilnahme von Radfahrenden. Dennoch ergibt sich durch die aktuelle Infrastruktursituation ein Verkehrsregime, welches Radfahrende strukturell prekarisiert. Und dies nicht nur durch tatsächlich stattfindende Unfälle und die Gefahr des Unfalls, die sich ja in die Wahrnehmung der Radfahrenden einschreibt. Zusätzlich zu der Gefahr wachsen auch Ärger und Aggression, und damit sinkt wiederum möglicherweise die Hemmschwelle, Radfahrende zu bedrohen und zu bedrängen. Die Prekarisierung von Radfahrenden wirkt also auch strukturell im Bereich der psychologischen Einschüchterung (und, siehe oben, der Nötigung). Wenn Radfahrende sich wehren, gilt das oft als Argument dafür, dass ‹keine Seite besser sei als die andere›. Aber: Eine Seite fährt ohne CO2 und ist im Zweifelsfall verletzungsoffener aufgestellt. Und ich meine nicht die, die auf 1,5 Meter Höhe die Straße überblickt.

Es ist gleichzeitig sehr einfach und sehr komplex: Wenn kein Raum zugeteilt wird, der dem Radfahren allein gilt, kann dieser Raum auch nicht gegen die verletzungsmächtigeren Autos eingefordert werden. Man ist immer vom Raum der Autofahrenden abhängig und wird in eine Art Übertretung gezwungen. Dass Straßen nun einmal AUCH für Radfahrende da sind, ist nach Jahrzehnten der autogerechten Stadt schwer zu vermitteln. Radfahren ist so eine konstruierte Normüberschreitung, deren Folgen ein Abjektmachen von Radfahrenden ist: Radfahren ist immer zu viel oder unkontrollierbar und störend. Und selbst wenn ein Radstreifen eingezeichnet ist, dann schützen auf dem Boden gepinselte Linien noch nicht davor, bedrängt, touchiert und geschnitten zu werden. Diese sogenannten Schutzstreifen (erkennbar an der gestrichelten Linie) sind ohnehin Teil der Fahrbahn und versprechen, da sie überfahren werden dürfen, kaum Sicherheit. Denn Linien sind keine magischen Schutzwände, die man nur nicht sieht. Sie sind mehr ein Platzverweis, der den Raum der Radfahrenden oft zusätzlich verengt, da kein Platz zum Überholen einkalkuliert wird. Die Problematik der Produktion von Abweichung produziert somit auch Aggressionsobjekte, Störer_innen, Abweichler_innen. Die psychologische gekoppelt mit der blechernen Bedrohung führt dazu, dass viele Menschen gar nicht aufs Rad steigen oder es ihren Kindern auf dem Weg zur Schule verbieten müssen – oder irgendwann das Radfahren lassen. Denn wer in der Regel ein- bis zweimal die Woche bedroht wird, radikalisiert sich oder verlässt die Bühne. Und meine Erfahrungen zeigen, wenn ich an sechs Tagen die Woche radfahre, werde ich ein bis zweimal ernsthaft angegriffen und beleidigt.3 Und die öffentlichen Anrufungen sind zwar auf mich gerichtet, entfalten ihre Wirkung aber auch nachhaltig auf andere Zeug_innen. Damit können Bewegungen im öffentlichen Raum eingeschränkt werden.4 Sie werden auf die Benutzung bestimmter Verkehrsmittel gelenkt, die in der Regel kommerziell abgeschöpft werden wie etwa Autos, einen überteuerten Nahverkehr und kostenpflichtige Leihroller (auf Kosten prekarisierter sogenannter Juicer). Außerdem sind auch diese in der Lage, massiv Bewegungsdaten zu generieren. Hier zeigt sich eine immer stärkere Kontrolle des öffentlichen Raums durch datengestützte Verkehrssysteme. Immer engmaschiger lassen sich Straßen als etwas beschreiben, was elektronisch und mit Datenteppichen überzogen ist.5

Irren machen und Hate Speech

Der Ton gegenüber Radfahrenden ist stark gegendert6 und er ist Ausdruck einer auf Privilegien beruhenden Weise, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Es ist aber auch kein Zufall, dass der Hass gegen Radfahrende einem autoritären Muster entspricht.7 Darin sollte sich eine Beschreibung des aktuellen Verkehrsregimes nicht erschöpfen. Mindestens zwei Machtformen lassen sich im Anschluss an Foucault beschreiben: eine disziplinarische und repressive Anrufung sowie eine aktive Produktion von Norm und Abweichung. Dieses Zusammenspiel lässt sich mit Egert „Irren Machen“, als genuin in Mobilitätsregimen verankerte allgemeine Machtform beschreiben, mit der Radfahrende zum „Umherrirren“ gebracht werden. Damit sind sie nicht im Unrecht, Irren beschreibt vielmehr eine Herstellung von abweichenden Bewegungen im Straßenverkehr, die damit um so stärker Kontrolle und Disziplin unterworfen sind. Bewegung ist dabei nicht einfach da, sondern wird in einer relationalen Verschränkung von Menschen und Verkehrsmitteln, Wegen und Sprechakten erzeugt:

«Mit der Politik des Irren-Machens wird Abweichung zur Logik der Kontrolle. Ohne die Zukunft vorherzubestimmen und ohne klare Wege vorzugeben, besetzt die Kontrollpolitik die Zukunft, indem sie jegliche Bezüge zwischen der Gegenwart der Bewegung und ihrer Zukunft unterbricht. […] Diese choreographische Prekarität der Gegenwart bildet eine Situation jenseits eines kohärenteren Systems der Kontrolle und der Verantwortlichkeiten. Indem […] Orientierungsmarker in den Hintergrund gedrängt oder gar zerstört werden, besteht keine Möglichkeit zur Navigation. Irren ist das einzige was jetzt noch bleibt. […] Im Irren entfaltet jedes Ereignis der Kontrolle direkt seine volle Kraft».8

Radfahren besteht als Abweichung, sozusagen als Ortlosigkeit. Es wird zum Objekt der Anrufung durch Prekarisierung. Es handelt sich um eine Art Othering, welches auch durch Infrastrukturen erzeugt wird, auch solche, die fehlen. Der fehlende Schutz ist aber nicht das einzige: Radfahren bekommt eine Art negativer Hypervisibilität, die sie wiederum Gegenstand von Anrufung und Regulierung (Kontrolle) machen. Diese Verschränkung von Machtperspektiven erlaubt es, nicht nur Mangel an Infrastruktur zu sehen, sondern auch eine aktive Produktion von Norm und Abweichung und damit eine Kontrolle, die durch Verunsicherung (Prekarisierung der Bewegung) greift. Das heißt nicht, dass es keine Regeln gibt fürs Radfahren. Die Politik der Bewegung ist nur viel flexibler und wird ständig durch neue äußere Faktoren beeinflusst. Das Radfahren schafft auch neue Wege, Praktiken und Bewegungskulturen und zeigt, dass Infrastruktur niemals zu 100% ein determinierendes Dispositiv ist. Die performative Kraft des Radfahrens widerspricht nicht auch der Einlassung in Regulierungen. Mir geht es darum, dass auch Abweichung eine gemachte und durch tägliche Praktiken stabilisierte Weise ist, Übertretung und Abweichung herzustellen. So arbeitet das Irren-Machen mit der Herstellung von Freiheit und Disziplinierung zugleich, die massiv durch Sprechakte und dem Auto als Waffe (siehe meinen früheren Beitrag) gerahmt sind. Macht muss nicht zwangsläufig eine Quelle haben, wie Foucault nicht müde wurde zu zeigen. Und sie kann verschiedene Qualitäten und Materialitäten ihrer Ausübung verschalten, ohne, dass es einem Ziel, einer Personengruppe alleine nutzt. Die Beschreibung des Regimes zielt auf die Effekte, die nicht etwa ausschließlich wirtschaftlich oder staatstragend oder ausgrenzend gegenüber einer Gruppe sind. In all diesen Bereichen sind aber Effekte spürbar. Obwohl also eine Reihe Menschen profitieren und das Regime alltäglich stabilisieren, sind es doch nicht ihre Verursacher. Aber die Dekonstruktion von Verkehrsregimen zielt nicht auf Verantwortungslosigkeit. Die Verschiebung von Verantwortung und mangelnde Beforschung von Risiken ist auch innerhalb dieses Systems an intraagierenden Machtformen mehr als eine Unterlassung.

Nicht derart regiert zu werden...

Dass Radfahrende alltagsbegleitend im Althusserschen Sinne angerufen werden, wo und wie sie zu fahren haben, intra-agiert auf der Ebene der Effekte mit eher materiellen Infrastrukturen. Beherrschung, ja Produktion fossilen Raums und fossiler bzw. angerufener Radfahr-Subjektivitäten durch SUVisierung (es gibt jetzt sogar einen SUV von Mini!) des Verkehres geht Hand in Hand mit der Rhetorik, derzufolge ökologisch orientierte Denkweisen nur getarnte Verbote seien und einem (links)autoritären Modus entsprächen, den wahre Demokratiefreund_innen schützen wollen.9 Dass die Freiheit des Autofahrens jeden Tag hergestellt, dieser Prozess aber größtenteils normalisiert wird, bleibt unthematisiert. Hier ist dringend eine Sicht gefordert, die die aktive Produktion von sogenannten Freiräumen als Privilegien dekonstruiert. Denn erschwerend kommt hinzu, dass die Anrufungen im Straßenverkehr auch in das Recht eingreifen, sich unbescholten im öffentlichen Raum zu bewegen. Dieses grundlegende demokratische und für Frauen, Queers, Trans* und People auf Colour immer doppelt erkämpfte Recht darf nicht durch Autofahren und Sprechakte und die Überschreitung des Nahbereichs (unter 1,5 Meter) gefährdet werden. Zentral ist es daher, sich Raum durch Radfahren zu erkämpfen, gemeinsam zu fahren und solidarisch zu sein, wenn Übergriffe und Anrufungen geschehen und Menschen beizustehen, die von Autofahrenden bedrängt werden – und ganz konkret als Zeug_in zu fungieren. Unterschätzen wir nicht die alltäglichen Kämpfe und die Solidarität. Im politischen und affektiven Sinne zugleich. Sie können helfen, das Bild des hilflosen und abjekten Radfahrenden zu unterminieren. Ein Bild, das vervielfältigt zum aktuell prekarisierenden Verkehrsregime beiträgt.

NB: Während der GfM-Tagung in Köln (25.-28.9.2019) wird ein Panel mit dem Titel «Fahrradutopien» über Radfahren und Medienwissenschaft diskutieren. Wir denken, dass zu einer sozialökologischen Lebensweise Debatten um eine nachhaltige Medienwissenschaft gehören. Fangen wir an, über das Fahrradfahren als medienkulturelle Praxis zu diskutieren. Wir freuen uns auf Euer und Ihr Interesse – und über zahlreiche Teilnahmen! Und: Vom 12.-22. September findet die Internationale Automesse in Frankfurt statt, wo es zahlreiche Protestaktionen des Aktionsbündnisses Sand im Getriebe geben wird: Friedliche Blockade ist am 15.9.2019.

  • 1In Berlin wurde dies öffentlich diskutiert, als selbst die Anzeige einer Polizistin wegen Nötigung eingestellt wurde.
  • 2Autofahrende scheinen gerade durch den Trend zur immer größer werdenden Abschottung durch riesige SUVs und die SUVisierung auch anderer Fahrzeuggruppen auch den Kontakt zur Radfahrenden eingebüßt zu haben. Man scheint sich nicht mehr vorstellen zu können, dass es schlichtweg bedrängend ist, jemanden auf 30cm zu überholen. Das tasmanische Verkehrsministerium hat hierzu einen entsprechende Kampagne Distance makes the difference gestartet, in der das ‹auf die Pelle Rücken› durch andere, auch für Autofahrende besser nachvollziehbare Grenzüberschreitungen gezeigt wird.
  • 3 Interessant sind hier die Erfahrungen von Fahrradkurierinnen, vgl. bicycling.com und Huffington Post.
  • 4Gleichzeitig gibt es die Untersuchung, dass sich die Zahl der Autofahrenden erhöht hat, die bei Rot über die Ampel fahren. Vgl. dazu Hamburg; genereller wird dies auch vom MPU diagnostiziert; vgl. außerdem den ADFC, der einige Mythen über Radfahren dekonstruiert. Gibt es als Antwort auf diese Regelübertretung keine Aggressionen?
  • 5Auch Elektroräder werden, ähnlich wie Elektromotoren, nur bedingt zur Lösung beitragen, denn sie verstromen zu einem Großteil indirekt Kohle, sie verbrauchen massiv seltene Erden, die unter ausbeuterischen Bedingungen gewonnen werden für die Akkus, und ihre Lebenszeit ist mit rund einem Jahr extrem kurz. Natürlich ist dadurch die Luft im Verkehr zunächst besser. Aber statt immer neue Lösungen zu Bewahrung des Autoverkehrs mit seinem raumgreifenden Verhalten zu finden, müssten viel stärker Lösungen für autofreie Stadtteile gefunden werden. Diese Lösungen gibt es auch in großen europäischen Städten, und sie machen Quartiere autofrei. Zwischen diesen Quartieren können Autos nach wie vor fahren (siehe etwa Barcelona). Hamburg hat gerade in Altona eine autofreie Zone eingerichtet und dazu die Lieferzeiten begrenzt.
  • 6Elsa Koester stellt eine Verbindung zwischen dem Vom Rad Schubsen von Frauen* und Anrufungen her. Obwohl ich den Schritt zum Vor den Zug-Schubsen nicht in das gleiche Muster einordnen würde, ist es doch eine Denkanregung, zu fragen, warum auch im Straßenverkehr die Überschreitung von weiblichen Körpergrenzen so niedrig ist. Für weitere sexualisierte Anrufungen siehe die Erfahrungsberichte von Fahrradkurier_innen und Commutern.
  • 7Dass die Autoindustrie in Deutschland derart stark ist, hat auch mit der Identifikation mit ‹deutschen› Marken (die mehrheitlich nicht mehr in Deutschland produzieren) und dem Recht auf unbegrenzt schnelles Fahren auf einigen Autobahnen zu tun, wie Lin Hierse schreibt.
  • 8Gerko Egert, Irren machen. Migration, Kontrolle und Choreomacht, in: Arch+. Zeitschrift für Architektur und Urbanistik, Nr. 235, 2019 (im Erscheinen).
  • 9Bernhard Malkmus diskutiert und dekonstruiert die aktuellen Angriffe gegen Klimaaktivist_innen anhand der Argumente, die angeblich die Demokratie schützen wollen und vor einem «zu schnellen Umbau der Gesellschaft» warnen. Leider verstärkt Malkmus hier ein Bilder ‹der› Intellektuellen, das einem derzeitigen Anti-Intellektualismus entgegen kommen kann. Denn das Problem ist ja nicht die ‹Intelligenz›, die kapitalistische Bedürfnisse mit Freiheit gleichsetzt, sondern einige, die sich als Intellektuelle qua Fürsprache der angebliche Konsumbedürfnisse einer anderen Klasse definiert.

Bevorzugte Zitationsweise

Bee, Julia: Biking and her Allies. Zum Recht auf Bewegung im öffentlichen Raum. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/biking-and-her-allies.

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