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GAAAP_ The Blog

Lob des Fahrradfeminismus

18.11.2021

Bewegung ist politisch.1 Nicht nur politische Bewegungen, nicht nur Demonstrationen auf der Straße können dazu gezählt werden – Bewegung ist in den letzten Jahren zunehmend als eine politische Kraft verstanden worden.2 Forschungen zur Logistik etwa haben gezeigt, dass eine bisher unterschätze Wertschöpfung in der Beförderung und nicht der der Produktion von Waren liegt. Die Abrufbarkeit von Gütern ist selbst ein Wert geworden. Dieser Wert ist politisch umkämpft, da er hochgradig mit öffentlicher Infrastruktur verbunden ist. LKWs sind etwa ein ständiges Thema in Verkehrsausschüssen, da sie immer mehr Waren, auch individuelle Lieferungen, in die Städte bringen, die für diese nicht ausgerichtet sind. Daraus resultierende (Unfälle und Stresssituationen beschäftigen gesellschaftlich gesehen sehr viele Akteur_innen und Bürger_innen.3

Ich möchte aufgrund der zahlreichen aktuellen interdisziplinär geführten Diskussionen vorschlagen4, Infrastruktur auch als affektive Infrastruktur zu betrachten – und zwar aus zugleich medienwissenschaftlicher und feministischer Perspektive. Infrastruktur baut mit Körpern, sie entsteht immer wieder neu mit unseren Bewegungen.5 Das macht unsere Mobilität auf einer zweiten Ebene politisch: Infrastruktur geschieht sowohl zwischen dem gegebenem Dispositiv als auch der Praxis, die dieses umarbeitet.6 Und diese ist eine Praxis gegenderter Körper.7

Verkehr und Transport sind nicht nur wertschöpfend im Sinne der Ökonomie und damit der Kultur. Mobilität schöpft Existenzweisen – Gerko Egert nennt dies eine »Ontopolitik der Bewegung«8 – und Affekte.9 Straße ist Öffentlichkeit und Sozialität. Sie ist nicht nur dazu da, von a nach b zu kommen. Mobilität wird zentrales Thema der Demokratisierung von Städten und Kommunen. Immer mehr Bürger_innenbeteiligung wird über Bewegung, öffentlichen Raum und Straße eingefordert und auch durch diese Themen ausgehandelt. Mimi Sheller nennt dies Citzenship of Mobility und macht auf die immense Bedeutung von Mobilität für demokratische Teilhabe aufmerksam.10 Unsere Bewegung im öffentlichen Raum, unser Pendeln, Tram- und U-Bahn-Fahren und das Fahrrad nimmt immer mehr Zeit in Anspruch: Mobilität gestaltet unsere Lebenspraxis entscheidend.11

Bewegung überbrückt nicht nur Räume. Sie hat eine »Autonomie«.12 Sie generiert Affekte. Und damit meine ich nicht Aggressionen, die angeblich im Verkehr freigesetzt werden. Es sind nicht Gefühle von anderswo, die im Verkehr einfach nur hochkommen (darauf komme ich zurück). Affekte verstärken und intensivieren Bewegung, und Bewegung schöpft Affekte. Bewegung und Affekt sind so aufs Engste miteinander verschränkt: affektiver »Wert«13 entsteht so im Fahren, in der Virtualität der Bewegung.

Verkehr ist zunehmend ein Aushandlungs- und Verhandlungsfeld von Identitäten und Existenzweisen geworden – auch durch den zunehmenden Radverkehr, der seine Entsprechung noch nicht in angemessenen Fahrradinfrastrukturen findet.14 Radler_innen identifizieren sich häufig als Radler_innen, da sie sich entsprechend verhalten, ausstatten und lernen müssen, sich in der Gefahr des Verkehrs zurecht zu finden. Dadurch werden zeitliche, ökonomische und affektive Ressourcen gebunden – aber auch generiert. Äußere Wahrnehmungen von Radler_innen verstärken diese Prozesse, und Radfahrer_innen eignen sich Anrufungen in einem umgekehrten Sinne für ihre mobilen Existenzweisen an. Natürlich ist die Ökonomisierung dieser (kulturellen) Prozesse in vollem Gange – eine andere Inwertsetzung der Affekte: Es nehmen positive Bezüge wie Fahrradikons und-symbole sowie Mode auch über Szenegruppen hinaus (DIY/Punk/Fixie...) zu und entsprechend auch das modische Equipment um das Fahrradfahren herum.

Natürlich hat es immer schon geknallt. Und natürlich haben wir alle schon erlebt, wie explosiv diese Mischung aus Blech, Alu, Stahl, Carbon, Feinstaub und Affekten ist. Jede_ Verkehrspsycholog_in kann dazu noch etwas sagen, wenn die Wogen wieder mal besonders hochgekocht sind. Ja, Verkehr besteht aus Affekten, Affekte sind essentiell für Verkehr, da Bewegung und Affekte das subkutane, virtuelle Feld des Prozesses beschreiben, welches in aktuellen Verkehrspraktiken sowohl abgeschöpft als auch produziert wird. Aber diese Affekte sind nicht einfach natürlich da, sie werden produziert. Sie müssen daher analytisch auch von der Medienwissenschaft in den Blick genommen werden, besonders von einer feministischen. Mobilität und Körper sind einander produzierende Pole. Und weder Raum, Körper noch Infrastruktur lässt sich ohne Geschlecht denken. Die drei sind in einem ineinander verfugten Werden begriffen. Die Herstellung des Raums und der Bewegung, diese alltägliche Arbeit und Wertschöpfung bzw. Abschöpfung sind hochgradig gegendert.

Vélo liberté

Das Fahrrad ist keine Vorstufe zum Auto. Das Fahrrad hat seine spezifischen Geschwindigkeiten und Langsamkeiten. Es erzeugt andere Räume, Fahrradräume, die sich mit jedem Wechsel von Straßenseite, Schlenker und Abbiegen, aber auch mit jedem unterschiedlichen Rad, das gefahren wird, in Veränderung begriffen sind. Es ereignen sich andere Formen des Kontakts und der Sozialität, des Anhalten, Blickkontaktes und von Bewegungstechniken sind hier hochgradig Vektoren der Raumzeitlichkeit, wie es für den Eisenbahnverkehr argumentiert wurde.15 Allerdings – und dies scheint mir entscheidend – ist das Fahrrad nicht die billige und arme Vorstufe zu etwas Schnellerem oder Effizienterem. Diese Sichtweise reproduziert eine instrumentelle Sichtweise – und sie trifft auf die Situation in Städten nicht einmal zu, denn dort ist das Fahrrad das effizienteste Fortbewegungsmittel. Lange Zeit war es dies auch in dörflichen Strukturen der Fall, bevor das Diktum galt, auf dem Land sei man ohne Auto immobil (was vor allem an einer Vernachlässigung der bundesdeutschen ÖPNVs liegt, welches Mobilität zwischen Städten der Privatisierung des Autos überlässt). Das Fahrradfahren ist nicht nur Medium des Feminismus, weil es Mobilität ermöglicht – weil es aus dem Heim befreit und sogar aus der Stadt oder dem Dorf. Weil es andere Körper und Moden hervorbringt. Weil Stasis lange mit Weiblichkeit gleichgesetzt wurde und Bewegung mit dem Werden der Männlichkeit. Historisch ist an die Privatisierung der Mobilität auch eine soziale Frage und mit derjenigen weiblicher Mobilität verbunden: Mit dem Besitz des Autos geht auch eine Besitzverteilung einher, die eine bestimmte Gruppe vermögender Menschen betrifft, die anderen die Mobilität erschweren, weil sie fortan die Straßen beherrschen.

Das Fahrradfahren ist neben diesen zentralen Fragen der Frauen*mobilität aber auch ein Wert an sich: Es verändert Räume durch Affekte. Diese Prämisse ist zentral, denn die Umverteilung des öffentlichen Gutes Straße (und der Luft!) – Henri Lefebvres Recht auf Stadt klingt hier an – sollte nicht ohne feministische Interventionen stattfinden. Radfahren ist dabei nicht nur Mittel, sondern ein Milieu der Affekte – und ein Wert jenseits der Überwindung von Raum.

Auf dem Fahrrad wird ein Körper ein anderes Gefüge, ein Gefüge mit Straßen und zahlreichen anderen.16 Ich setze meinen Körper hier aufs Spiel, denn die Schutzlosigkeit des Fahrradfahrens ist traurige Realität. Die Hexis des Körpers ändert sich radikal mit dem Radfahren: Raum, Körper und Bewegung sind neu und anders angeordnet. Bei jeder #CriticalMass, bei der Radfahrende zum Teil zu Tausenden zusammen fahren, bin ich wieder überrascht, wie anders die Stadt aussehen würde, wäre sie nicht von Autos dominiert.17 Autos, die am Rand stehen, die die Straßen verstopfen, die Feinstaub erzeugen, die zu gesundheitlichen Einschränken und zu vorzeitigen Toden durch Vergiftung führen (die deutsche Umwelthilfe geht von 47.000 vorzeitigen Toden in der BRD aus, die mit Feinstaubbelastung in Zusammenhang stehen). Das ist ein Wahrnehmungswechsel, der immens ist. Akustisch, visuell und räumlich dominieren Autos die Stadt. Als Konsumobjekt sind sie Fetisch der neoliberalen Gesellschaft (»im Auto kann ich ganz für mich sein und laut Musik hören«). Als solches wurden sie im Roadmovie als emanzipatives Medium genutzt. Wo bleiben die Filme über das Fahrradfahren mit anderen Frauen* (einen möchte ich weiter unten noch erwähnen)? Warum haben wir nicht mehr Fahrradgenres? (cheers to Juliet Elliot, als Vlogerin eine der Pionierinnen dieses Genres! Vgl. https://www.youtube.com/channel/UCjcANXkXDbYqQ34F_UTql5w18)? Warum wird das Radfahren weniger als Emanzipation als Autofahren inszeniert?

Affektive Logistik

Autos stratifizieren den Raum der Städte, sie nehmen maßgeblich Einfluss auf unser Lebensgefühl, Wohlbefinden und unsere Begegnungsmöglichkeiten. Es gibt daher auch wenige Orte, an denen ich durch Autofahrende so stark objektiviert werde wie beim Fahrradfahren. Dafür haben auf verschiedene Weise soziale Bewegungen Bewusstsein hergestellt, die sich unter den Hashtags #motorisierteGewalt und #automacho verbinden. Mit Auffahren, Motorheulen und zahlreichen bedrängenden Kommunikationsformen machen Autofahrer_innen darauf aufmerksam, dass ich ein Hindernis bin, wenn ich auf der Straße fahre – vor allem mitten auf der Straße und nicht scheu am Straßenrand oder gar auf dem Büger_innensteig. Blicke, Kommentare und Gesten erklären meinen Körper auf dem Rad, sobald er auf der Straße ist – und damit dem Terrain der Autos – zu etwas, das man unbedingt überholen muss. Dieser Effekt der Objektivierung entstammt einem funktionalen Denken, das Verkehr natürlich in Maßen global kennzeichnet. Soweit, so klar. Darin erschöpft sich allerdings nicht, dass die Privilegierung des Autos sich nicht nur auf die Benutzung eines Verkehrsmittels beschränkt, sondern weitergehende Identitäten oder, wie schon geschrieben, Existenzweisen mit sich bringt. Es ist nicht nur ein Effekt der Abschöpfung des Verkehrs, dass sich Identitäten entwickeln, und nicht nur eines seiner systemischen Funktionalität. Es ist die Bewegung selbst, die temporäre, aber auch zeitlich kontinuierlichere Identitäten schafft. Die Dialektik dabei: Weil wir in einer logistischen Gesellschaft leben, bringt dies auch »logistische« oder »synaptische« Identitäten mit sich.19 Weil diese Affektfelder oder Schauplätze existieren, entstehen heute aber auch Existenzweisen, neue Weisen in Bewegung zu sein. Ich habe nicht erst eine Identität. In Zeiten, in denen Klimagerechtigkeit eines der drängendsten Ziele für Menschen und Umwelten ist, ist Fortbewegung in Städten und zwischen Kontinenten eine hoch politische Angelegenheit, die das Affektmilieu (m)eines Körpers prägt. Das ist keine Tautologie. Das ist das Resultat dessen, dass Mobilität eine politische Kraft darstellt. Diese funktioniert dann auch als Katalysator von Existenzweisen.20

Das Auto wurde wiederholt als Paradigma der Moderne beschrieben, welches die viel beschworene Mobilisierung und Beschleunigung ermöglichte. Auto und visuelle Technologien der Moderne wie Film wurden als verschränkte Wahrnehmungsdispositive betrachtet. Das Auto ist Schauplatz von Identitäten, individuell, motorisiert, konsumorientiert. Es ist eines der Paradigmen der Moderne (Fords Assembly Line steht hier Pate) und soll laut Akteur_innen der Autoindustrie als solches auch möglichst überall hin in die Welt exportiert werden. Deutschland ist Hochexportakteur in der Automobilindustrie. Städte überall auf der Welt werden massiv zu Abnahmemärkten für Autos und es erhöhen sich auch dort massiv Todesfälle und Verletzungen.21

Gerade deshalb muss man aber auch neue Formen von Bewegung denken. Welche anderen Existenzweisen lassen sich aber auch daran anschließend denken?22

Es geht nicht nur um eine Umverteilung der Straße für Menschen, die sich als gesund und/oder abled bodies identifizieren. Das ist keine Bewegung derjenigen, die »fit« und »gesund« sein wollen oder sich als solche wahrnehmen, es ist eine, die Bewegung auch denjenigen ermöglichen will, die (noch) nicht sicher auf dem (E-)Zweirad fühlen, sondern ein (E-)Dreirad fahren oder ein Handrad oder eine Seifenkiste. Nicht nur junge und sportliche Köper sind hier angesprochen. Gerade nur denen wird durch die aktuelle Situation das Radfahren in vielen Vierteln von Großstädten ermöglicht, was die Fahrradbewegungen nach außen oft zu einer Art Fitnessbewegung macht. Aber Radfahren ist auch ein Streit für körpergerechten Raum.23

Ich erlebe im Alltag jedoch vor allem eine fast kurzschlussartige Identifikation mit dem Auto. Immer wieder sind es die sogenannten Fahrradrowdies, die angeblich bei Rot über Ampeln fahren etc. und sich »selbst« gefährden. Ich erlebe, dass Autos haarscharf Radler_innen streifen und die umstehenden sofort ungefragt in Autorechtfertigungen einstimmen: hat man aber auch nicht gesehen, hatte kein Licht, arme Fahrer_in, sicher unter Schock... die spontane, affektive Rahmung ist spontan häufig sehr ungleich gewichtet. Hier artikulieren sich genuine Fragen der Affektpolitik für die Medienwissenschaft.

Empathie, das hat Judith Butler beschrieben, wird produziert, sie wird gerahmt, und eine Rahmung ist immer wieder jene, derzufolge Radler_innen ein unberechenbares Hindernis darstellen. Obwohl gerade in Städten wie Berlin nicht einmal 50 Prozent der Haushalte ein Auto nutzen, hat sich der Diskurs des Autofahrens bisher so ausgebreitet, dass er die Wahrnehmung formiert. Es gibt sicher risikofreudige und einzelne aggressive Radfahrer_innen. Und ja, es sollte mehr für die Verkehrssicherheit in den Schulen und an Universitäten gelehrt werden, weil auch Radfahren gelernt werden muss – dies gehört zur Wertschätzung des Radfahrens dazu. Die Wahrnehmung von Radfahrenden als Aggression liegt auch daran, dass für das Radfahren oft nichts Anderes bleibt als sich Räume zu erobern, da das Radfahren in den überwiegenden Streckenabschnitten schlicht nicht durch eigene Wege geregelt ist.

Fahrradfeminismus: «Xister, are you a psyco«?

In den Diskursen um Mobilität der letzten Jahre ist zu beobachten, dass Frauen* auf Rädern sich organisieren. Diese Bewegung ist nicht auch oder nebenbei, sondern in ihrem Wesen eine feministische Bewegung. Wenn die Ovarian Psyco-Cycle Brigade, eine Gruppe von Women of colour, Latinas und Chicanas, die sich in L.A. an Vollmondnächten zum clitoral mass/black mass treffen, dann spielt die psychosoziale und kulturelle Technik des Radfahrens eine zentrale Rolle: Man versammelt sich um und durch die Bewegung, in Bewegung. Diese wird von den Protagonist_innen der Brigade als therapeutisch beschrieben (siehe diesen Auszug aus dem gleichnamigen Film Ovarian Psychos von Joanna Sokolowski and Kate Trumbull-LaValle dazu: https://www.theatlantic.com/video/index/519744/ovarian-psycos-the-la-bicycle-crew-for-women-of-color/) .

Dabei geht es nicht nur darum, sich frei im öffentlichen stark sanktionierten Raum von East L.A. zu bewegen, sondern dies in der Gruppe angstfrei zu tun. Die Praxis des gemeinsamen Fahrradfahrens wird gerahmt von Consciousness Raising Groups, Open Mics und Diskussionsrunden, in denen die Frauen* Erfahrungen sexueller, rassistischer und struktureller Gewalt aufarbeiten. Das Fahrradfahren ist dabei nicht zufällig eine Form, sich gemeinsam die Straße gegenüber der »car culture«, aber auch der Besetzung des Radfahrens durch weiße Männer24 zu erobern: »OPC exists in Los Angeles because LA is dominated by car culture and bike culture is dominated by middle and upper class white men«.

Das Fahrradfahren wird so zunehmend ein Bereich des Feminismus. Es geht um öffentliche Räume, die nicht nur angeeignet und zurückerobert, sondern die allererst geschaffen werden müssen. Initiativen wie BICLICI in Berlin mit ihrem Fahrrad Salon für Frauen* und Gruppen wie die Ovarian Psycos setzen sich mit sehr unterschiedlichen Feminismen für das Radfahren ein. Immer mehr Frauen* organisieren sich bundesweit, um gemeinsam auszufahren, Straßen zu besetzen und Räder zu reparieren (und wer häufiger in Fahrradwerkstätten unterwegs ist weiß, wie wichtig dies ist).

Gleichzeitig wird Mobilität auf eine Weise fetischisiert und neoliberal mobilisiert, die Radfahren wie Autofahren in nichtwestlichen Ländern zu einer Technik des Fortschritts verklärt. Die Kommerzialisierung des Radfahrens findet aktuell durch Fahrradmode statt, und eine boomende Vlog-Scape erobert sich den Körper der Radfahrer_in und zeigt uns bestimmte Arten, Techniken und Moden, die sich auf das Radfahren draufsetzen. Ich habe oben geschrieben: Sich zu bewegen ist ein Wert an sich. Aber natürlich ist dieser Wert kolonisiert von neoliberalen Körper- und Konsumpolitiken, die diesen Wert abschöpfen. Ähnlich wie die historische Aneignung des Skate Board-Fahrens ist die Fahrradcommunity durchdrungen von Markenbildung und Mode. Daraus einen Vorwurf zu machen wäre allerdings zu kurz gegriffen; Auto zu fahren macht das Problem nicht kleiner.

Motorisierte Gewalt

Nach einem langen Radfahrsommer sagt eine Freundin zu mir: Frauen* auf Fahrrädern, gerade auf schnellen Rädern, sind (immer noch) eine Provokation für Männer. Sie fühlen sich z.B. angehalten, einen durch das offene Fenster zu kommentieren, anzubrüllen oder aufzufahren. Zahlreiche Frauen* in meinem Umfeld werden regelmäßig angepöbelt. Situationen wie bedrängt werden, hupen, erschrecken und auffahren bleiben bei der Polizei oft folgenlos und führen selten zu Ermittlungen und Strafverfolgung.

Häufig, darauf weist Martin Herrndorf hin, wird kein Straftatbestand festgestellt, wenn niemand körperlich zu Schaden gekommen ist oder kein Eigentum beschädigt wurde. Herrndorf beschreibt dies mit dem #motorisierteGewalt, als »situative Waffe« (ebd.), in welcher das Auto von einem sozialen Mittel der Fortbewegung zu einem Mittel der Aggression wird. Dafür werden durch die Idee der Autostraße strukturelle Vorgaben geschaffen; auf der Ebene der Justiz – das haben wir in den letzten Monaten anhand der Verfahren bei Tötung durch Überfahren roter Ampeln und Autorennen gesehen – bleibt es (in der Praxis immer noch) bei verhältnismäßig geringen Strafen. Die Rechtsprechung zu Autorennen als Mord in letzter Instanz ist dazu noch nicht erfolgt.

Motorisierte Gewalt, das deutet Herrndorf an, kann auch als eine Wahrnehmungstötung betrachtet werden. Sie manifestiert sich als eine Objektivierung der Radfahrenden als eigenwilliges Hindernis im ansonsten freien Weg in der Wahrnehmung der Autofahrenden. Durch Berichterstattungen wird diese Wahrnehmung zusätzlich häufig gefördert (auch natürlich, um keiner Vorverurteilung das Wort zu reden), dabei verletzen Radler_innen »sich«, es sind scheinbar nicht Autos, die sie anfahren und verletzen. Das Auto wird sprachlich nicht als (situative und potentielle) Waffe markiert. Auch das strukturelle Parken auf Radwegen gefährdet Radler_innen und erscheint daher als #motorisierteGewalt, da sich diese in den Fließverkehr einordnen müssen; die dabei entstehenden Unfälle werden selten auf die Falschparker_innen zurückgeführt. Das Verständnis für das Radfahren und die Empathie für Radfahrer_innen verkümmert zudem durch das Nicht-Fahrradfahren – es fehlt das körperliche Verständnis, z.B. was es heißt, zu nah überholt zu werden. Diese Maße sind neben gesetzlich angepeilten (leider unverbindlichen) 1,5 Metern eben auch ein Abstand, den man als Nichtradfahrer_in vielleicht schwer nachempfinden kann.25

In den Kulturwissenschaften werden vergleichbare Vorgänge lange seit langem als Naturalisierung bezeichnet. Autokultur naturalisiert, dass auf die existierende Weise Städte zu gestalten alternativlos sei, indem die immer gleichen Muster städtische Umgebungen durch die Bedürfnisse von Autofahrenden wahrzunehmen in der Praxis reproduziert werden, und diese wiederum als alternativlos wahrgenommen werden.26 Praxis und Infrastruktur werden einander zu Spiegeln, die eine soziale Welt hervorbringen, so könnte man es mit Bourdieus Theorie von Habitus und Feld beschreiben.

Radfahrer_innen sind für viele Autofahrende strukturell eine Überforderung und am falschen Ort. Die Wahrnehmung von Autofahrenden ist darauf trainiert, Radfahrer_innen als Hindernis wahrzunehmen und von der Mitte der Straße in den gefährdenden Bereich sich öffnender Autotüren zu drängen. Hier werden durch ein Ensemble an Praktiken – Infrastruktur, Ausbildung in der Fahrschule, Bilder und Filme – Wahrnehmungsmuster produziert, die Affekte verstärken. Der Blick des Autofahrers ist ein kulturelles Produkt und daher zwar an verantwortliche Individuen zurückbindbar, aber als kollektive Disposition (Bourdieu) auch kollektiv und politisch; er folgt nicht einfach einer individuellen Disposition, obwohl sie diese verstärkt oder durch diese verstärkt wird.

Affektive Rahmungen: Die Distribution von Verletzbarkeit

Judith Butler hat darauf hingewiesen, dass Verletzbarkeit nicht einfach da ist, sondern durch Wahrnehmungen verteilt wird und ein Politikum ist. Durch das Zusprechen von Verletzbarkeit wird einerseits Menschlichkeit produziert – und andererseits durch das Absprechen unsichtbar gemacht.27 Sie bezieht sich auf Schauplätze, die weitaus drastischer sind als die Fahrradwelt.28 Dennoch, und situativ in der Mobilitätssituation gedacht: Die aktuelle Infrastruktur und die Diskurse führen dazu, dass die Betrauerbarkeit öffentlich extrem reguliert wird, und das nicht zu einem unwesentlichen Teil auch durch im wahrsten Sinne des Worts eingefahrene Muster. Der Boom des SUV29 am Vorabend der nicht erreichten Klimaziele ist sicher so eine Abschottung gegen Verletzbarkeit, die andere Verletzungen (wir wissen, dass die Abrollbewegung der angefahrenen Person auf der Motorhaube bei Kollision ausfällt) in Kauf nimmt.

Angst beherrscht die Radtopoi. Radtopoi, das sind die Räume des Radfahrens, affektive, soziale Räume. Und Angst, das haben Judith Butler und Brian Massumi auf je eigene Weise gezeigt, reguliert politische Emotionen.30 Angst hindert die Menschen am Radfahren.

Elf tote Radler_innen bis Herbst 2018 in Berlin – und in nicht wenigen Städten sind dies zum großen Teil Frauen* – das ist die Realität, die zu wenig betrauert wird, d.h. zu wenig zu einem Umdenken führt.31 Für Butler hat Trauer eine politische Kraft, die Empathie wiederherstellen kann. Die Gedenkfahrten mobilisieren die öffentliche Wahrnehmung und holen die Toten aus dem Bereich des Verdrängten, z.B. indem auch Ghost Bikes aufgestellt werden.

Ghost Bike

Dabei ist das Benutzen und Besetzen von Raum nicht nur entlang von Gender, sondern auch von anderen Faktoren wie der sozialen Herkunft beeinflusst. Oft wird aber gegenteilig angeführt, dass Fahrradfahren eine Beschäftigung von Mittelstandsmenschen sei. Es zeugt schon von einer gehörigen Verdrehung, wenn man das Auto-Haben im Gegensatz zum Fahrrad-Haben als ökonomisch schlechter gestellte Variante sieht. Historisch war das nicht überall und immer so – Städte wie Kopenhagen haben eine andere Abbiegung genommen, indem sie ihre Städte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durch Autos, sondern durch Räder haben formen lassen.32

Gender_Media_Radfahren

Selbstwirksamkeit, Körpergefühl, Öffentlichkeit – das sind affektive Schauplätze für eine Emanzipation für und wider die existierende Infrastruktur. Hier ergibt sich ein fruchtbares Feld, um Affekttheorie, Feminismus und Infrastruktur analytisch zu verschalten. Ein Feld, welches dringend eröffnet werden muss, um soziale, Verteilungs- und Klimagerechtigkeit auch (und gerade!) in der Medienwissenschaft weiter zu denken. Bewegung, insbesondere öffentliche Bewegung ist aber nicht nur eine vierte Dimension, die viele kritische, analytische Projekte noch einmal anders mobilisiert. Es ist nicht so, dass wir Gender im Radfahren denken oder Männer*, Frauen*, die radfahren. Die Gender Media Studies, wie sie u.a. Kathrin Peters und Andrea Seier im deutschsprachigen Raum vorangebracht haben, zeigen ja gerade, dass Geschlecht und Medien gefügeartig zusammenwirken.33 Angesichts der Bewegung ergibt sich hier ein besonders Gefüge, ein Gefüge in Bewegung, welches auch das fahrende Geschlecht miteinbezieht. Unsere analytischen Auseinandersetzungen können sich auf bereits begonnen Projekte beziehen, in denen Frauen* konstant, aber auf heterogene Weise Räume schaffen und Öffentlichkeit herstellen.

Die Weise, mit der sich das Autofahren in verschiedenen Gesellschaften ausbreitet, ist rasant, immer noch ist kein Ende des Wachstums in Sicht. Der Kampf um Klimagerechtigkeit wird auch im Alltag entschieden. Er verbindet sich mit antirassistischen, feministischen, dis_abled, postkolonialen und Post-Wachstumsdiskursen. Nicht aber nur die additive Verbindung von etwa Feminismus und Fahrrad ist historisch und aktuell zentral. Es ist das intrinsische Gefüge aus Fahrrad und Feminismus, das feministischen Kämpfen noch einmal anderes Gewicht verleiht.

Oder anders gesagt: Ich radele durch diese Welt und frage mich, wie sich Frauen*, die tägliche Zurückdrängung, Beschimpfung und Objektivierung gefallen lassen, die vom Autoverkehr ausgeht, die man in keinen anderen Räumen außer der Straße über sich ergehen lassen würde. Überall sonst bliebe dieses Verhalten nicht unsanktioniert. Man stelle sich vor, jemand zeigt mir in einer Sitzung den Mittelfinger und schubst mich vom Stuhl, weil ich ihn_sie unterbrochen habe... Die gegenseitige, häufig gewalttätige und verletzende Disziplinierung und Anrufung im Verkehr hingegen scheint hingegen normalisiert. Diese Muster und Naturalisierungen lassen sich durch feministische und medienkulturwissenschaftliche Analysen durchbrechen, die auch die aktuellen politischen und bürokratischen Verschleppungen im Ausbau der Fahrradinfrastruktur in den Blick nehmen.

Ich frage mich aber auch umgekehrt: Was ist die affektive Qualität, gleichsam die jouissance des Radfahrens? Was ist die affektive Kraft des Radfahrens, und wie kann man sie infrastrukturell so fördern, dass Fahrradfahren eine Bewegung wird – eine politische, eine soziale und eine nicht nur für bereits mobile Körper? Umverteilung von Straße bedeutet so auch Umverteilung des Sinnlichen (Jacques Rancière).

Weitere Beiträge zum Thema:

Julia Bee, Biking and her Allies. Vom Recht auf Bewegung im öffentlichen Raum

dies., Radfahren als feministische Praxis: OVARIAN PSYCHOS (USA 2016)

  • 1Marc Augé: Éloge de la bicyclette, Paris 2010.
  • 2U.a. von Deborah Cowen, Anna Tsing, Mimi Sheller. Zahlreiche Anregungen zur Politik der Bewegung verdanke ich Gerko Egerts Projekt Choreopower. Choreography and the Politics of Movement aus dem gleichnamigen unveröffentlichten Manuskript Choreomacht. Logistik, Migration und die Politik der Bewegung. So gilt es nicht Bewegung als der Macht entgegen gesetzt zu denken, wie Egert schreibt – Bewegung ist heute von einem komplexen Ensemble von Machttechniken durchdrungen: »Durch Kontrolle, Modulation, Disziplinierung und Verwaltung entsteht ein kinetisches Regime, das weit entfernt ist von der Vorstellung eines reibungslosen flows und der Gleichsetzung von Bewegung und Freiheit. Ihre kinetische Politik regiert sowohl in als auch mit Bewegung. Sie moduliert Dynamiken und kontrolliert (mittels) rhythmische(r) Operationen. Dabei wird Bewegung nicht einfach als Objekt der Macht adressiert, vielmehr wird sie selbst zu deren Technik: sie wird eine Bewegungstechnik der Macht.« Egert, Choreomacht, 4f.
  • 3Wobei Begriffe wie »Fahrradkrieg«, die diese Auseinandersetzungen beschreiben wollen, dazu führen das »Fahrrad-gegen-Auto-Drama« zu verstärken und die Wut anzuheizen. Zack Furness: »Critical Mass gegen die Automobilkultur«, in: J. Ilundáin-Agurruza, M.W. Austin, P. Reichenbach (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens, Frankfurt am Main 2018, 89-103, 94; vgl. https://programm.ard.de/TV/3sat/der-fahrradkrieg/eid_28007655720819.
  • 4 Der öffentliche Druck auf die Städte hat zugenommen – selbst Autobauer BMW empfiehlt eine Fahrradlösung für Städte wie München. Die Tagesschau Homepage titelte vor kurzem »wir brauchen die Fahrradwende«.
  • 5»[T]he process of rethinking the city through the bicycle is as much discursive as it is physically performative«, Zack Furness: »Bicycles«, in: Peter Adey, David Bissell, Kevin Hannam, Peter Merriman, Mimi Sheller (Hg.): The Routledge Handbook of Mobilities, London, New York 2014, 316-325, hier 322.
  • 6Auch wenn man dies in Berlin nicht unbedingt wahrnehmen kann, da sich trotz immenser Fördersummen kaum etwas ändert, wie das Bündnis Fahrrad in Berlin immer wieder beklagt. Erste Projekte nehmen im Herbst 2018 langsam Form an, etwa im Bereich Fahrradstraßen und protected bike lanes (neu: Helmholtzstraße Berlin). Siehe auch: https://volksentscheid-fahrrad.de/de/willkommen-beim-volksentscheid/
  • 7»[I]t is not as if movement occurs through neutral physical space, but gendered bodies move through gendered social spaces, via material objects and technologies of travel and communication that themselves are often profoundly gendered.« Georgine Clarsen: Feminism and gender, in: Peter Adey, David Bissell, Kevin Hannam, Peter Merriman und Mimi Sheller (Hg.): The Routledge Handbook of Mobilities, London und New York 2014. 94-102, hier 97. Es bleibt in der Formulierung »often profoundly gendered« die Frage offen, welche Technologie den nicht gegendert ist oder Geschlechtereffekte produziert. Mimi Sheller macht darauf aufmerksam, dass (in den USA) die Geschichte der Mobilitätsgerechtigkeit nicht nur eine gegenderte, sondern als Verknüpfung von race, gender, Sklaverei zu betrachten sei. Mimi Sheller: Mobility Justice: The Politics of Movement in an Age of Extremes, London, New York 2018, 47, 49.
  • 8»Die Möglichkeit der Bewegung ist, so hat sich immer wieder gezeigt weder gut noch schlecht, sie ist vielmehr die grundlegende Bedingung eines Ortes, seiner Geschichte und der damit verbundenen Politik. Diese Bewegung ist eine ontologische, oder besser: Sie ist ontogenetisch. Und es zeigt sich gerade hier – in ihrer Produktion von Orten und Geschichte, eben von Welt – wo ihre politische Kraft zu finden ist. Hier zeigt sich die Ontopolitik der Bewegung.« Egert, Choreomacht, 4.
  • 9Die Verbindung von Infrastruktur und Affekt denkt Judith Butler in Notes towards a performative theory of assembly (Cambridge 2015) anhand der Bewegungen auf dem Tahrir Platz in Kairo im Rahmen der ägyptischen Revolutionen 2011.
  • 10Sheller: Mobility Justice, 69.
  • 11 Vgl. dazu https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/TransportVerkehr/Querschnitt/BroschuereVerkehrBlick0080006139004.pdf?__blob=publicationFile. In Industrieländern stagniert dieser Trend seit einiger Zeit, dafür werden längere Strecken zurückgelegt: Da Mobilität sich beschleunigt, stagnieren die Fahrzeiten. Dabei entfällt mindestens die Hälfte des Verkehrs auf motorisierten Individualverkehr. Auch wenn man von keinem weiteren Wachstum ausgeht, bleibt es ein Charakteristikum zeitgenössischer Gesellschaften, dass sie auf Verkehr gebaut sind.
  • 12Zur Autonomie der Bewegung im Anschluss an Brian Massumis »The Autonomy of Affect« (in: Parables of the Virtual, Movement, Affect, Sensation, Durham, London 2002, 23-45) vgl. Gerko Egert: Berührungen. Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2016, 119-151.
  • 13Zum Begriff des Wertes in der »virtualisierten« Finanzökonomie aus Sicht der Affekttheorie vgl. Brian Massumi: 99 Thesis on the Reevaluation of Value, Minneapolis 2018. In 99 Thesis beschreibt Massumi die Verschränkung der Produktion von affektivem und ökonomischem Wert im Anschluss an Nietzsche, Spinoza, Foucault und andere. Wert entsteht dabei aus Affekten, Affekte werden aber auch abgeschöpft und in Wert gesetzt.
  • 14Von einem Boom zu sprechen, lenkt zwar den Blick auf die Praktiken der Bike Culture, tut aber so, als ob sich bereits eine Entwicklung zum Besseren abzeichnen ließe, was die Gewichtung von Fahrrad und Auto betrifft. So erscheinen politische Forderungen fast gegenstandlos, da ja anscheinend nun jede_r Rad fährt (zumindest im Frühsommer...). Politische Upcycling und DIY Bike Culture existiert schon länger, Fahrradfahren ist mehr als ein momentaner Trend und auch nicht als solcher ausreichend vor dem Hintergrund von weltweiten Mobilitätsengpässen in Städten zu verstehen. Radfahren auf seine Ästhetisierung als Modetrend zu verengen sehe ich daher kritisch. Begrüßenswert ist es jedoch, Radfahren als (medien)kulturelle Praxis zu würdigen und entsprechend zu beforschen. ARTE porträtiert in der oben genannten Reihe leider fast ausschließlich männliche Radfahrende und Upcycling Praktiken. Im Beitrag über Kopenhagen kommen jedoch auch Verkehrsplaner_innen zu Wort.
  • 15Vélo liberté heißt ein Kapitel aus Marc Auges Lob des Fahrrads. Zur Kritik der Gleichsetzung von Bewegung mit Freiheit vgl. Anmerkung 2.
  • 16Das Bewegung eine Aneignung von Raum ist, darauf hat bereits Michel de Certeau in seinem Text gehen in der Stadt hingewiesen. Auch das Radfahren stellt bedeutungsvolle Orte und eine für das Subjekt bedeutungsvolle Stadt her. Vielmehr aber stellt es Bedeutung durch und in Bewegung her. Vgl. Michel de Certeau: »Gehen in der Stadt«, in: ders.: Kunst des Handelns: Leipzig 1986, 179-187.
  • 17Critical Mass kommuniziert: Wir behindern den Verkehr nicht, wir sind der Verkehr. Critical Mass bedeutet relativ ungeplantes oder ungeführtes Fahren in der Gruppe als ein Verkehrsverband und daher nebeneinander auf der Straße sowie, bedingt durch die Größe des Verbands sogar über rote Ampeln. Angefangen hat die Bewegung in den USA Anfang der 1990er Jahre. In Deutschland dürfen laut §27 der StVO mehr als 15 Radfahrende einen geschlossenen Verband bilden. In verschiedenen Städten rum um die Welt findet meist am letzten Freitag im Monat ein Critical Mass Ride statt. Jack Furness nennt Critical Mass ein »öffentliches Experimentieren mit Freude in einem Zeitalter, in dem Apathie und Zynismus in Bezug auf echten Wandel [...] weit verbreitet sind«. Zack Furness: »Critical Mass gegen die Automobilkultur«, in: J. Ilundáin-Agurruza, M.W. Austin, P. Reichenbach (Hg.): Die Philosophie des Radfahrens, Frankfurt/M. 2018, 89-103, 101.
  • 18Natürlich trägt auch, das muss man kritisch anmerken, Juliet Elliott in ihrem Vlog zur Kommerzialisierung des Radfahrens bei, und verschränkt geschickt feministische Werte mit Fitness und Sportlichkeit. Mehr und Differenzierteres folgt auf diesem Blog.
  • 19Vgl. Egert, Choreomacht sowie Stefano Harney.
  • 20Das Recht auf freie Bewegung ist dabei ebenfalls ein Politikum, da sich natürlich einige Körper anders als andere frei bewegen können. Und nicht nur zwischen Staatsgrenzen, sondern in Städten und zwischen ihnen.
  • 21Siehe zur Rolle der Autoindustrie und zum Fahrradfahren in Metropolen weltweit den Dokumentarfilm Bikes vs. Cars von Fredrik Gertten. Hier der Trailer. Darin wird vor allem die erschreckenden Auswirkung der Autoindustrie auf Städte wie São Paolo dargestellt.
  • 22Hier kommt die Frage der Infrastruktur wieder ins Visier: Protected Bike Lanes und Fahrradautobahnen, die Städte und weit auseinanderliegende Stadteile verbinden, schöpfen neue Bewegungsexistenzweisen und, ganz banal: Sie ermöglichen ein Pendeln mit dem Rad zur Arbeit. Natürlich kommt man dann mal verschwitzt an. Und natürlich kennen alle, die mit dem Fahrrad unterwegs sind, die Sprüche zur Kleidung, die man nun mal auf dem Rad trägt. Vor allem frau* übrigens.
  • 23Und wir reden hier über die Mehrzahl an Autofahrten, die unter 5 km lang sind.
  • 24»Dominant transportation systems [are] planned around the white, male, able bodied, individual, middle-class rush hour commuter therefore have generally marginalized or discounted women’s transportation needs, but also subordinated other non-normative mobile subjects«. Sheller: Transport Justice, 77.
  • 25Durch Wahrnehmungsmuster und Sprache werden auch Unfälle und Todesfälle mit Autos naturalisiert: So etwas passiert. Dies heißt nicht, dass Menschen bewusst Todesfälle in Kauf nehmen. Motorisierte Gewalt ist ein komplexes Ensemble aus Zuständigkeiten. Aber ja, es gibt auch bewusst in Kauf genommene Unfälle. Und was würde passieren, wenn elf Autofahrende durch Radfahrer ums Leben kommen würden, wie es bis jetzt 2018 in Berlin der Fall ist (#visionzero)?
  • 26Durch diverse Radbündnisse kommt langsam Bewegung in die Autostädte – so wird z.B. über E-Lastenräder für die letzten Kilometer für Individuallieferverker diskutiert. Aber diese Entwicklungen sind immer noch keine verbreiteten Modelle, sondern in der Test- und Entwicklungsphase.
  • 27Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Berlin 2014.
  • 28Mimi Sheller schreibt in ihrer instruktiven Studie von einer Verteilung von Mobilitäten, die entlang von Gender, Race und Class Verletzbarkeiten ungleich distribuiert werden. Sheller: Mobility Justice, 77.
  • 29SUVs sind ein ungebrochener Trend mit um 252% Wachstum gegenüber dem gleichen Zeitraum 2017 (vgl. im Falle des beliebten Modells BMW X3).
  • 30Ebd.; vgl. Brian Massumi: »Angst, sagte die Farbskala«, in: ders.: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010, 105-129; weiterführend Angelika Baier, Christa Binswanger, Jana Häberlein (Hg.): Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie, Wien 2014.
  • 31»ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork sagt: ›Abbiegende LKW sind eine Todesfalle für Radfahrende! 15 durch LKW getötete Radfahrer müssen wir in den ersten Monaten des Jahres beklagen – davon elf Frauen* und Mädchen!‹«
  • 32Hier spielen auch die post-materiellen, nicht nur ökonomischen Werte hinein. Auch wenn SUV-Fahren auf eine bestimmte ökonomische Klasse verweist, ist es das Ergebnis einer bestimmten Sozialisation/Milieus, andere Werte als ökonomische anzunehmen, die eben symbolisch auch geachtet werden und zu gesellschaftlicher Anerkennung führen und indirekt auch zu sozialer Mobilität beitragen. Sprich: Radfahren verkörpert heute situativ und milieuabhängig auch symbolisches Kapital.
  • 33Andrea Seier, Kathrin Peters: Gender & Medien-Reader, Zürich 2016.

Bevorzugte Zitationsweise

Bee, Julia: Lob des Fahrradfeminismus. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/lob-des-fahrradfeminismus.

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