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Foto von Finn Hackshaw auf Unsplash.

Open-Media-Studies-Blog

Potentiale und Grenzen von Open Educational Resources (OER): Diskutiert am Beispiel von zwei Kursen im Bereich der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (Teil 2)

Isabel Collien, Inga Nüthen und Maike Sarah Reinerth zu Teilhabe und OER: Offen für alle?!

5.6.2019

Mit der Verbreitung von Open Educational Resources (OER) werden in Hinblick auf Chancengerechtigkeit und Teilhabe große Hoffnungen verbunden. Die EU-Kommission verfolgt mit offenen Bildungsressourcen das Ziel, Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten für alle zu schaffen, indem Barrieren abgebaut und das Lernen für alle zugänglich, breit verfügbar und individuell anpassbar gemacht wird. Einzelne Forschende im Bereich der digitalen Bildung gehen noch weiter, wenn sie betonen, dass digitale Lernformate langfristig von einer Lernmöglichkeit außerhalb des Klassenraums zum sozialen Transformator werden könnten.1 Gleichzeitig existieren wenig empirische Erkenntnisse zur Wirkung von offenen (digitalen) Bildungsressourcen auf die Teilhabe benachteiligter Bevölkerungsgruppen in Deutschland.2

In diesem Beitrag unserer dreiteiligen Serie zu OER erläutern wir anhand von sozialer Herkunft, digitaler Mündigkeit und Inklusion unsere Grundthese zu Teilhabe und OER: Offene Bildungsressourcen können Teilhabe nur dann erhöhen, wenn die Community sich mit gesellschaftlichen Ungleichheiten und deren Auswirkungen auf die Erstellung, Vermittlung und Rezeption von digitalisiertem und digitalem Wissen auseinandersetzt.

Selbstlernanforderungen machen OER sozial undurchlässiger

In offenen Lernumgebungen bekommen die Lernenden häufig die Verantwortung für ihren Lernprozess übertragen. Lernende sollen selbstständig entscheiden, was für sie von Interesse ist, in welcher Reihenfolge und wann sie lernen. Daher erfordert das Lernen mit offenen Bildungsressourcen mehr Selbstorganisation und Selbstlernfähigkeiten als in klassischen Hochschulsettings.3 Auch die Hamburg Open Online University (HOOU), in deren Kontext die beiden OER «Was ist Gender?» und «Diversify!» entstanden sind,4 teilt den Grundgedanken des selbstbestimmten Lernens. Die Befähigung zu selbstständigem Lernen ist jedoch vom sozialen Milieu abhängig.5 Wie im Bildungsbereich generell, so ist auch bei OER davon auszugehen, dass vor allem Personen mit höheren Bildungsabschlüssen an offenen Bildungsressourcen partizipieren und davon profitieren. Denn: Eine hohe Bildungsaktivität und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen korrelieren mit einem höheren Bildungsabschluss.

Zusätzlich spielt eine Rolle, dass OER häufig in Hochschulkontexten produziert werden. So verfolgt die HOOU das Ziel, den Möglichkeitsraum der klassischen Präsenzlehre durch digitale Technologien zu erweitern. Gleichzeitig sollen die OER einen Erkenntnistransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft leisten und akademisches Wissen für Zielgruppen jenseits der Hochschulen öffnen (Third Mission). Hier werden unterschiedliche Zielgruppen angesprochen, deren jeweilige Bildungshaltungen milieuspezifisch stark differieren können. OER-Produzierende stehen also vor der Herausforderung heterogene Gruppen von Lernenden für ihre Inhalte zu interessieren und zudem individuelle Lernwege zu gestalten, die unterschiedliche Einstellungen zu Bildung berücksichtigen – bei gleichzeitig enger Begrenzung finanzieller und personeller Ressourcen (siehe Teil 3).

Möglichkeiten, um die soziale Durchlässigkeit zu erhöhen

Die kostenfreie und lizenzoffene Bereitstellung von Wissen allein reicht folglich nicht aus, um dem Ziel von mehr Teilhabe durch digitale Bildungsangebote gerecht zu werden. Lehrende sollten daher reflektieren, wie sich unterschiedliche Bildungshaltungen auf die Nutzung von digitalen Lernangeboten auswirken. Beispielsweise könnten durch eine gezielte Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen milieuspezifische Hürden beim Zugang zu OER aufgebrochen werden. Kursleiter_innen sollten außerdem überlegen, wie sich der Einsatz digitaler Medien gruppenspezifisch auf deren Rezeption auswirkt (siehe Teil 1). Außerdem sollten die Lernenden, je nach Vorwissen und Lernniveau, unterschiedliche Lernwege durch eine OER nehmen können. Dazu müssten Lehrende allerdings ihre eigene Perspektive auf Bildung reflektieren, um zu verhindern, dass durch Einschreibung des eigenen Habitus Ausschlüsse verfestigt werden.

Eine weitere Möglichkeit OER zugänglicher zu gestalten, ist die Erhöhung der Zieltransparenz.6 Das heißt, es gilt verschiedenen Zielgruppen die Vorteile einer OER sowie die vermittelten Kompetenzen (Kompetenzorientierung) deutlich zu machen. Wenn benötigte Einstiegskompetenzen und im Lernverlauf zu erwerbende Kompetenzen klar definiert sind, können Selbstlernende auch leichter überprüfen, ob eine OER für sie geeignet ist und ob sie deren Lernziele erreicht haben. Lernende sollten bereits in der schulischen Grundbildung verstärkt zu selbstgesteuertem Lernen befähigt werden. Ansonsten werden die motivierenden Effekte von digitalen Lernmöglichkeiten durch multiple Überforderungserfahrungen nivelliert. Außerdem müsste Lernenden vermittelt werden, wie sie qualitativ hochwertige Lernangebote erkennen können. Dies ist besonders relevant, wenn in deren (familiärem) Umfeld wenig Kenntnis über akademische Wissensvermittlung vorhanden ist. Besonders bei gesellschaftlich umstrittenen Themen, wie Gleichstellung oder Gender, wäre es wichtig, Lernende zu befähigen, wissenschaftlich fundierte Angebote zu erkennen.

Es sind doch eh schon alle online, oder?

Der D21-Digital-Index ist der Gradmesser zum digitalen Wandel in Deutschland. Er umfasst neben technischen Aspekten (z.B. Besitz eines Smartphones), Nutzungsverhalten (z.B. täglich online), Wissen zu digitalen Themen und technische Kompetenzen (z.B. Wissensproduktion in WiKis) sowie Offenheit gegenüber dem digitalen Wandel (z.B. Einstellung zur Internetnutzung). Ein Drittel der Befragten gab in der D21-Studie 2018/19 an, dass der digitale Wandel sie durch seine Komplexität und Dynamik überfordere und ein Viertel partizipiert so gut wie gar nicht an der digitalen Welt.

Die sogenannte digitale Kluft wird häufig in einem globalen Nord-Süd-Gefälle als unterschiedlicher Zugang zu Geräten (devices) und zur Internetanbindung (conduit) sowie als abhängig vom Alphabetisierungsgrad (literacy) diskutiert.7 Zugang zu Hardware und Software ist folglich eine wichtige Ressource, die eine Grundvoraussetzung von Bildungsgerechtigkeit im Kontext von OER ist. Die Schwierigkeit besteht darin, mit dem rasanten Fortschritt mitzuhalten, welcher die heutigen Top-Technologien morgen schon wieder alt aussehen lässt. Auch in Deutschland gibt es eine digitale Kluft, die Folgen für die Nutzung von OER hat. Während drei Viertel der in Deutschland lebenden Personen das Internet täglich nutzen, ist etwa ein Zehntel noch offline.8 Besonders ältere Menschen gehören zu den digital Abgehängten und es mangelt an zielgruppenspezifischen Angeboten, um ihnen die Nutzung des Internet nahe zu bringen.9

Die digitale Kluft umfasst außerdem Arten der Techniknutzung – etwa, ob das Internet zur Information oder zur Unterhaltung, eher passiv oder partizipativ genutzt wird. Laut D21-Digital-Index 2018/2019 verfügt nur etwas mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung über uneingeschränkten technischen Zugang, hohe Digitalkompetenz, vielfältige Nutzungserfahrung und große Offenheit im Umgang mit neuen Technologien – zentrale Voraussetzungen, um kollaborative und kommunikative digitale Angebote, wie OER, sinnvoll zu nutzen.

Von digital informieren/konsumieren zu reflektieren/mitgestalten

Die Mehrheit hierzulande greift vor allem auf rezeptive, informationsorientierte Online-Angebote zurück.10 Das heißt, es werden lieber Inhalte konsumiert als diese mitzugestalten oder sich darüber im digitalen Raum auszutauschen. Bildungs- und statushöhere Personen haben hier den Vorteil, dass ihre Bildungssozialisation sie dazu befähigt, das stetig wachsende Medien- und Informationsangebot schneller und effizienter zu nutzen (Wissensklufthypothese). Dennoch sind auch sie noch weit entfernt vom Ideal offener Bildungsressourcen, die von den Lernenden selbst überarbeitet und weiterverbreitet werden. Insgesamt gilt es folglich, die digitale Mündigkeit zu erhöhen. Diese umfasst, neben technischen Kenntnissen, unter anderem ein Wissen um Informationsbewertung oder Fähigkeiten zur Kollaboration in digitalen Umgebungen (Digital Literacy).

Die eher informationsorientierte Nutzung digitaler Angebote in Deutschland wirkt sich auch auf die Erstellung von OER aus. So ist anzunehmen, dass Lehrende OER primär als Informationsangebot verstehen. Im Gegensatz dazu beinhalten offene Bildungsressourcen per definitionem das Versprechen partizipative Medienangebote zu sein. Solche Angebote erfordern ein partizipatives und interaktives didaktisches Szenario, um sowohl fachliche Inhalte als auch haltungsbezogene Lernziele zu vermitteln.11 Gender-Kompetenz ist ein solches Lernziel, welches beispielsweise die Reflexion der eigenen Werthaltung oder die Fähigkeit zum Perspektivwechsel umfasst. Offene Bildungsressourcen sollten daher Möglichkeiten zu wiederholtem Feedback beinhalten, welche besonders bei haltungsbezogenen Lernzielen relevant sind.12 Es wäre wichtig, Lehrende stärker in Hinblick auf partizipativ-interaktive, didaktische Ansätze in digitalen Lernumgebungen zu schulen. Gleichzeitig sollten auch die Grenzen digitaler Lernformate für die Vermittlung haltungsbezogener Lernziele diskutiert werden. In einem Seminar an der HafenCity Universität Hamburg verband Inga Nüthen die OER «Was ist Gender?» beispielsweise mit Präsenzlehre, um Unsicherheiten und Widerstände im Lernprozess abfangen und Selbstreflexionsprozesse intensiver begleiten zu können. Die Evaluationsergebnisse dienen Isabel Collien und ihr dazu, die inhaltliche und technische Zugänglichkeit der Lernressource zu verbessern.

Für Bildungsinstitutionen ist mit dem Thema Digitalisierung die zentrale Frage verbunden, welche Rolle sie für die Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter noch spielen. Wollen Hochschulen beispielsweise nicht zu reinen Download-Zentren verkommen, müssen sie auch deutlich machen, welchen Mehrwert Präsenzlernen in Abgrenzung zu digitalen Angeboten hat. Gerade soziales Lernen, welches beispielsweise Aspekte der Kooperationsfähigkeit oder des Lernens durch Beobachtung Anderer beinhaltet, ist in digitalen Lernräumen begrenzter – oder zumindest anders – möglich als im Rahmen direkter Interaktion. Eine zukünftige Aufgabe im Bereich des Kompetenzerwerbs wird sein, die unterschiedlichen (Möglichkeits-)Profile digitaler und analoger Lernangebote zu schärfen.

Barrierefreie OER erleichtern das Lernen aller

Digitalen Medien wird außerdem großes Potenzial in Sachen Inklusion zugeschrieben. Der Begriff digitale Inklusion umfasst dabei die Steigerung der Teilhabe aller durch digitale Medien sowie die Inklusion in die digitale Gesellschaft. Der Leitgedanke inklusiver OER ist, dass Menschen Material möglichst flexibel nutzen können sollten. Dazu gehört insbesondere, Lizenzen von OER so zu vergeben, dass sie die rechtlichen Möglichkeiten bieten, um die Materialien an die Bedürfnisse der Lernenden anzupassen. Gleichzeitig kann eine möglichst offene Lizensierung gesellschaftlich umkämpfter Inhalte dazu führen, dass Lernangebote entkontextualisiert und damit deren Inhalt verfälscht werden. Aspekte, die wir bei der Produktion unserer OER abgewogen haben (siehe Teil 1).

Die Web Content Accessibility Guidelines verdeutlichen, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, um digitale Bildungsangebote barrierefrei zu gestalten: Screenreader oder flexible Vergrößerungsmöglichkeiten erhöhen die Lesbarkeit ebenso wie bewusst eingesetzte Farbkontraste. Leichte Sprache macht komplexe Inhalte einer breiteren Rezipient_innengruppe zugänglich und eine nachvollziehbare Navigation erleichtert das Selbstlernen. Lehrenden ist also anzuraten, sich frühzeitig mit Barrierefreiheit vertraut zu machen, damit Inklusion kein Nice-to-have bleibt. Denn: Von barrierefreien Lernangeboten profitieren alle Lernenden. Um Lehrende auf ihrem Weg zur barrierefreien OER zur unterstützen, müssen entsprechende Service- und Beratungsstrukturen bereitgestellt werden (siehe Teil 3).

Fazit: Diversität zählt!

Beim Thema Teilhabe und OER bleibt festzuhalten, dass offene Bildungsressourcen in ihrem soziokulturellen Kontext betrachtet werden müssen. Dieser beeinflusst, wie Wissen aufbereitet, rezipiert und verbreitet wird. OER-Gestaltende sollten angeregt werden, die Auswirkungen von gesellschaftlichen Ungleichheiten auf die Erstellung, Nutzung und Verbreitung von OER zu reflektieren. Versäumt die OER-Community eine Auseinandersetzung mit Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit, bleiben offene Lernressourcen ein Wissensvermittlungstool von und für Akademiker_innen. Mehr Begleitforschung zur Produktion und Nutzung von OER wäre außerdem geboten, um dem Teilhabeversprechen ein Stück näher zu kommen. Lernende zu selbstgesteuertem Lernen anzuregen ist ein hoher Anspruch. Deshalb gilt es, ein Bildungssystem zu schaffen, welches sie auch dazu befähigt. Hier muss Bildung als Gesamtsystem betrachtet werden, um frühzeitig der Re/Produktion von Ausschlussmechanismen zu begegnen. Ein Anspruch, der im Zuge der Bologna Reform der Hochschulen formuliert, jedoch bisher nicht eingelöst wurde.

0. Einleitung
1. Medialität
2. Teilhabe und Barrieren
3. Ressourcen und Nachhaltigkeit

Bevorzugte Zitationsweise

Collien, Isabel; Nüthen, Inga; Reinerth, Maike Sarah: Potentiale und Grenzen von Open Educational Resources (OER): Diskutiert am Beispiel von zwei Kursen im Bereich der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (Teil 2). Isabel Collien, Inga Nüthen und Maike Sarah Reinerth zu Teilhabe und OER: Offen für alle?!. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/potentiale-und-grenzen-von-open-educational-resources-oer-diskutiert-am-beispiel-von-zwei-1.

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