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Open-Media-Studies-Blog

Potentiale und Grenzen von Open Educational Resources (OER): Diskutiert am Beispiel von zwei Kursen im Bereich der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (Teil 3)

Inga Nüthen, Isabel Collien und Maike Sarah Reinerth zu Ressourcen, Nachhaltigkeit und OER: Alles umsonst!?

20.8.2019

Wer mit digitaler Wissensvermittlung befasst ist, weiß: Die «effiziente, schnelle, unkomplizierte und kostenlose Lösung».1 Open Educational Resources (OER) bedeutet eine Menge Arbeit. Es braucht Engagierte, die sich den Herausforderungen beherzt stellen und viele persönliche Ressourcen aufbringen. Denn häufig fehlen Unterstützungsstrukturen und bisweilen brennen diejenigen aus, die anfangs noch Feuer und Flamme waren. In diesem Beitrag widmen wir uns nach der Medialität und den Bedingungen der Teilhabe daher einem dritten Thema, das zentral für das nachhaltige Gelingen von OER-Projekten ist: den strukturellen Rahmenbedingungen der Produktion offener Bildungsressourcen.

Unsere Erfahrung mit zwei Kursen im Rahmen der Hamburg Open Online University (HOOU) zeigt, dass mit Blick auf die Rahmenbedingungen von OER zwei Aspekte besonders relevant sind: Erstens die Frage nach den notwendigen Ressourcen für die Erstellung und Pflege der Lehr-Lernmaterialien. Gängige Definitionen von OER als kostenlosen Bildungsmaterialien sind hier missverständlich: Zwar sind OER offen und kostenfrei zugänglich, dennoch brauchen die Produktion und die Betreuung der Angebote finanzielle, technische und personelle Ressourcen2. Der zweite Aspekt fokussiert die Bedingungen für die Nachhaltigkeit des Angebots. Hierbei geht es uns um die Frage, ob OER das Versprechen einlösen können, nachhaltige Angebote für die Lehre zu schaffen. Nachhaltigkeit begreifen wir dabei einerseits im Sinne eines langlebigen und damit effizienten Angebots3 und andererseits als Qualitätsmerkmal eines langfristig wirksamen Lernkonzepts.4

Unabdingbar: Finanzielle, technische und personelle Ressourcen

Auf den ersten Blick wirkt es so, als könnten bestehende Lehrkonzepte einfach in digitale Lehrmaterialien überführt werden, um die Präsenzlehre durch selbst erstellte OER zu bereichern oder sogar zu ersetzen. Dabei wird übersehen, dass das Erstellen und die Pflege von OER einen erheblichen Zusatzaufwand bedeuten, der finanzielle und personelle Ressourcen bindet. Notwendig sind Mittel für Personal, die Nutzung digitaler Infrastruktur sowie Maßnahmen zur Qualitätssicherung, Qualifizierung und Beratung.5 Dabei reicht es nicht, finanzielle, technische und personelle Mittel nur einmalig zur Produktion eines Kurses zur Verfügung zu stellen. Vielmehr bedarf es einer längerfristigen Bereitstellung von Ressourcen, die jedoch selten gewährleistet ist.

Zeitintensiv: Transfer von Lehrmaterialien

Zuerst einmal muss für die Produktion einer OER genügend Zeit eingeplant werden. Das bedeutet ganz konkret: Selbst, wenn für eine schon einmal oder mehrfach durchgeführte Präsenzveranstaltung bereits umfangreiche Materialen zusammengestellt wurden, können diese nicht einfach als freie Bildungsressourcen zugänglich gemacht werden. Mindestens drei Aspekte gilt es bei einem Transfer von Lehr-Lernmaterialen in OER zur berücksichtigen.

Erstens sind Urheberrechtsfragen zu klären. Das bedeutet, die Lizenzen der in der Lehre verwandten Materialien müssen auf ihre Offenheit und ihre Kombinierbarkeit geprüft werden – neben der Entscheidung für die eigene Creative-Commons-Lizenz. Das kann mitunter langwierige Recherchen nach sich ziehen, an deren Ende die Erkenntnis steht, dass große Teile der Materialien für einen Kurs erst selbst produziert werden müssen.

Besonders in Bezug auf gender- und diversitätssensible OER-Angebote kommt zweitens die besondere Herausforderung hinzu, nicht von einer einheitlichen Vorstellung von Lernenden auszugehen, sondern didaktisch wie inhaltlich Normvorstellungen in Bezug auf Wissen, Ressourcen, Vorerfahrungen und Repräsentation zu hinterfragen. Die Auswahl, Konzeption und Produktion passender Materialien setzt – auf visueller wie inhaltlicher Ebene – eine zeitintensive Reflexion voraus, deren Begleitung durch flankierende Beratungsangebote sinnvoll sein kann (siehe Teil 1). Hierfür sollten auch Zeit und Mittel eingeplant und externe Expertise hinzugezogen werden – etwa für das Erstellen von Zeichnungen, Videos oder Fallbeispielen.

Drittens gilt es, sich für eine freie Software zur Erstellung der eigenen Inhalte sowie für eine Plattform für deren Bereitstellung zu entscheiden. Dies setzt viel technisches Wissen voraus. Allgemeine Empfehlungen für Programme und Plattformen werden zwar in der Regel von den zuständigen Stellen an Hochschulen zur Verfügung gestellt. Die Erstellung passgenauer Formate erfordert aber häufig dennoch eine autodidaktische Aneignung der Programme, die im Trial-and-error-Verfahren erprobt werden müssen. Martin Ebner u.a. sprechen daher in einer Bestandsaufnahme zu OER in Deutschland von Kompetenzproblemen bei der Produktion, aber auch bei der Nutzung und Wiederverwertung von OER, die durch Informations-, Beratungs- und Weiterbildungsangebote aufgefangen werden müssen.6 Denn, auch wenn eine kontinuierliche Begleitung gewährleistet ist, bleibt die Aufgabe, Inhalt und Form zusammen zu bringen und in eine OER umzusetzen die Arbeit der OER-Produzierenden selbst. Die hierfür benötigte Zeit sollte unbedingt schon bei der Planung berücksichtigt und nicht unterschätzt werden.

Knackpunkt: Nachhaltige Formate

Diese technischen und inhaltlichen Herausforderungen führen direkt zum zweiten Aspekt unseres Beitrags: der Frage nach der Nachhaltigkeit von OER-Angeboten für die Hochschullehre. Diese betrifft zunächst die Langlebigkeit und Wiederverwendbarkeit von Materialien (Format). Nur wenn langfristige Konzepte für die Produktion, Nutzung und Weiterentwicklung von OER geschaffen werden, bergen einmal erstellte OER das Potenzial auf Dauer die Präsenzlehre zu ergänzen und sogar zu entlasten. Personelle, finanzielle und technische Ressourcen sind auch hier zentral. Wie die Analyse bestehender, frei zugänglicher Bildungsressourcen verdeutlicht, ist gerade die Nachhaltigkeit von OER kostspielig.7 Und zwar sowohl auf der Ebene der technischen Programmierung als auch auf der Ebene der Erstellung und Aktualisierung von Inhalten. Hierfür ist vor allem die Frage einer finanziellen Absicherung über die Anfangsfinanzierung hinaus zentral.8 Das heißt, nachdem einzelne OER-Kurse als abgeschlossene Projekte gefördert wurden, bedarf es einer langfristigen institutionellen Verankerung um Überarbeitung, Aktualisierung, Evaluation und Weiterentwicklung zu ermöglichen und damit die Qualität des Angebots zu sichern.

Einen OER-Kurs einfach als «fertig» ins Netz zu stellen, ist keine Option. Technische und mediale Formate altern schnell, können sich nach einer Evaluation als unpassend erweisen oder ihre Lizenz ändern. So wurde beispielsweise die für die OER «Was ist Gender?» genutzte Plattform nach Fertigstellung an Microsoft verkauft und es war unklar, ob die Openness weiter gewährleistet sein würde. Isabel Collien und Inga Nüthen entschieden sich daher für den Umzug ihres Lernangebots auf einen Blog. Die Evaluation im Rahmen eines Seminars zeigte darüber hinaus, dass die OER für bestimmte Endgeräte noch nicht optimiert war und auch intuitiver zu bedienen sein sollte. Eine einmal erstellte OER bedarf also nicht nur der inhaltlichen Aktualisierung sondern auch der kontinuierlichen technischen Pflege und Einbindung in ein offenes Repositorium, um zugänglich zu bleiben. Ansonsten werden OER-Kurse produziert, die ungenutzt brachliegen oder ihre Qualität und Nutzbarkeit einbüßen – so wird aus «kostenlos» schnell «umsonst».

Bisher fehlt es an projektübergreifenden Lösungen, die einheitliche Standards für Software- und Mulitmediaformate festlegen und nicht nur eine Plattform zur Sammlung der OER-Angebote bereitstellen. Die Verwaltung in Datenbanken (Repositories) und Sammlungen bleibt weiterhin eine der zentralen Herausforderungen für OER-Projekte – gerade wenn diese nur auf Zeit finanziert werden, noch in einer ersten Erprobungsphase stecken und über die Entwicklungsphase hinaus keine langfristen Lösungen garantieren können. Auch die eigentlich anzustrebende Standardisierung durch Metadaten bedeutet einen hohen zeitlichen Aufwand und ist bisher noch nicht umgesetzt. Für eine langfristige Bereitstellung von OER bedarf es also tragfähiger, finanziell, technisch und personell ausreichend ausgestatteter Strukturen – über die einzelne Hochschule hinaus.

Nachhaltige Inhalte: Materialien und Lernerfolge evaluieren

Der zweite Aspekt der Nachhaltigkeit bezieht sich auf die inhaltliche Ebene: den langfristig wirksamen Lernerfolg. Dieser lässt sich in einem ersten Schritt durch einfache Umfragen oder inhaltsbezogene Tests innerhalb der OER messen. Darüber hinaus bedarf es in einem zweiten Schritt jedoch einer inhaltlichen Evaluation, die idealerweise in klassische Präsenzlehre eingebunden ist. So können Feedbackschleifen für OER eingebaut werden, die eine Überarbeitung des Materials angepasst an die Nutzer_innen ermöglichen. Eine erste offene Evaluation im Rahmen eines Seminars zum Kurs «Was ist Gender?» hat etwa ergeben, dass eine gemeinsame Diskussion der Inhalte explizit erwünscht ist. In entsprechenden Blended-Learning-Formaten wird Erlerntes angewendet und reflektiert, Rückfragen können geklärt und Irritationen, Unsicherheiten und Abwehrmechanismen aufgefangen werden. Die gemeinsame, begleitete Reflexion von Erfahrungen und Beobachtungen ist besonders im Kontext haltungsbezogener Inhalte – wie sie gender- und diversitätssensibler Lehre prägen – relevant (siehe Teil 1 und Teil 2).

Konkret bedeutet dies: Wenn Fragen von Geschlecht, Sexualität und Intersektionalität tatsächlich als wichtiger Bestandteil des Wissens von Studierenden verstanden werden, reicht es nicht, diese in einen OER-Kurs auszulagern. Erfahrungen mit dem Einsatz von Erklärvideos aus der OER «Was ist Gender?» im Rahmen der politikwissenschaftlichen Lehre von Inga Nüthen an der Philipps-Universität Marburg haben gezeigt, dass vor allem die bewegten Bilder von den Studierenden erinnert werden. Beispiele, Formulierungen und Grafiken aus den Videos fanden sich in großer Zahl in der Beantwortung der Klausurfragen wieder. Diese Wirkmacht von Bildern erfordert im Besonderen eine gesellschaftskritische Reflexion der Darstellung (siehe Teil 2).

In der Evaluation zeigte sich auch, an welchen Stellen die inhaltlichen Aspekte auf ihre Verständlichkeit hin überarbeitet werden müssen. Zur Qualitätssicherung ist eine entsprechende, der eigentlichen Produktion nachgelagerte Überprüfung von Inhalten, medialer Aufbereitung und Lernzielen also unbedingt notwendig, allerdings nur mit einer entsprechend langfristigen Personalplanung zu leisten. Denn die weitere Betreuung des Kurses kann kaum unabhängig von den Produzent_innen der OER stattfinden. Hierfür gibt es bisher kein überzeugendes Konzept. Die Überarbeitung und Aktualisierung des Kurses hängt so entscheidend von der Initiative der Produzent_innen ab und wurde aus unserer Sicht bei der eher kurzfristigen personellen Ausstattung der HOOU nicht ausreichend mitgedacht.

Fazit: Was Produzierende und Nutzende brauchen

Der Rat für Forschung und Technologieentwickelung hat festgehalten, dass es Hochschulen bisher generell an strategischem Zugang zu OER und E-Learning mangelt.9 Das entspricht auch unserer Erfahrung. Die Folge ist, dass digitale Lehr-Lernmaterialien erstellt werden, ohne dass es hierfür hochschulintern oder -übergreifend einen konzeptionellen Rahmen gibt. Zudem werden die finanziellen, technischen und personellen Ressourcen für die Produktion von OER tendenziell unterschätzt. Erstens bedarf es also Ressourcen, um OER langfristig effektiv einzusetzen Darunter fallen Schulungen und Begleitangebote für OER-Produzent_innen ebenso wie die vollständige Ausfinanzierung der Arbeitszeit, die in OER-Projekte fließt. Darüber hinaus ist zweitens eine langfristige strukturelle Verankerung und die Einbettung in ein institutionelles Gesamtkonzept erforderlich, das idealiter national und international aufgestellt ist.10 Dies würde unter anderem der Tatsache Rechnung tragen, dass Lehrpersonen durch OER-Formate keineswegs überflüssig werden, sich ihre Aufgaben im Zuge einer Digitalisierung der Hochschullehre allerdings absehbar verändern. Drittens bedarf es kontinuierlicher Evaluationen – auch dafür müssen im Projektablauf Ressourcen eingeplant werden.11

Mit diesen Forderungen verfolgen wir eine doppelte Zielsetzung: Einerseits bedarf es der nachhaltigen Gestaltung von OER, die nutzer_innenorientiert ist und die Zugänglichkeit wie auch die Aktualität des Angebots absichert. Anderseits ist eine produzent_innenorientierte Nachhaltigkeit erforderlich, die auf einer ausreichenden finanziellen Infrastruktur für die Umsetzung von OER basiert und so die Arbeit an den frei zugänglichen Materialien wertschätzt und abbildet.

0. Einleitung
1. Medialität
2. Teilhabe und Barrieren 
3. Ressourcen und Nachhaltigkeit

Bevorzugte Zitationsweise

Nüthen, Inga; Collien, Isabel; Reinerth, Maike Sarah: Potentiale und Grenzen von Open Educational Resources (OER): Diskutiert am Beispiel von zwei Kursen im Bereich der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (Teil 3). Inga Nüthen, Isabel Collien und Maike Sarah Reinerth zu Ressourcen, Nachhaltigkeit und OER: Alles umsonst!?. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/potentiale-und-grenzen-von-open-educational-resources-oer-diskutiert-am-beispiel-von-zwei-2.

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