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Web-Extra

Zum Tod von Michel Serres II

29.10.2019

Hinweis der Redaktion: Am 1. Juni 2019 ist der französische Seefahrer, Philosoph und Wissenschaftshistoriker Michel Serres gestorben. Seine Hermes-Bände, Die fünf SinneElemente einer Geschichte der Wissenschaften und ganz besonders Der Parasit sind für die medienwissenschaftliche Forschung wegbereitende Schriften geworden. Mit Erfindet Euch neu! war zuletzt auch die «vernetzte Generation» selbst angesprochen worden. Mit ihren breit gestreuten Themen, einem anscheinend unendlichen Wissensfundus und einem oft überraschenden Sprachumgang, der alle Verbindungen von der Begriffsgeschichte bis zum Silbengleichklang radikal ernst nimmt, sind Serres’ Texte immer auch ein Angebot an neugierige Leser_innen jenseits unserer Disziplin und von academia überhaupt. Deshalb kommen hier zwei Autor_innen aus anderen, anwendungsbezogenen Disziplinen zu Wort: Als Übersetzerin von Musik und Das eigentliche Übel erinnert sich Elisa Barth an die Arbeit an und mit Serres’ Texten. Und der Architekt Kevin Helms folgt den bei Serres angelegten Spuren eines Nachdenkens über Verhältnisse von Haus und Mensch, Stadt und Land, Mensch und Umwelt.



Charles Eisen: Frontispiz zu Marc-Antoine Laugier «Essai sur l’architecture», 1755 (Montage)

Raum und Rotze. Der Architekt als ungebetener Gast bei Michel Serres

«Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor. Vielleicht ist der Wurzelgrund der Dinge gerade das, was der klassische Rationalismus in die Hölle verbannte. Am Anfang ist das Rauschen.»1

Womit also beginnen? Vier Baumstämme, in einem Quadrat zueinander gestellt, verbunden mit vier quer laufenden Rundhölzern, auf denen ein schräges Dach aus kleinen Ästen ruht. Es ist ein imaginierter Beginn der Architektur: die Urhütte. Als Idee bereits bei Vitruv im 1. Jahrhundert vor Christus angelegt, ausgearbeitet durch Marc-Antoine Laugier im 18. Jahrhundert, aufgegriffen als Referenz und Ausgangspunkt des Nachdenkens über Typologien Mitte des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, begleitet die Urhütte den westlichen architektonischen Diskurs. Der Typus behauptet im Rückgriff auf diese imaginierte erste Hütte ideale Grundformen der Architektur, die als Ausgangspunkt des Entwerfens, das immer Abwandeln und Variieren ist, verstanden werden. Die genaue Beschreibung des Typus bleibt dabei schwer zu fassen: Je nach Autor und Entwurfsauffassung verweist er auf Nutzungen oder auch Elemente der Architektur – Stütze, Giebel und Dach – referiert auf geometrische Formprinzipien – Punkt, Linie, Fläche – oder metaphysische Zuweisungen. In seiner Umsetzung oder auch Konkretisierung variierend bringen die Architekt_innen den Typus in die Welt, im Wissen um das intendierte Scheitern am gesetzten Ideal.

Die Urhütte teilt den Raum in Innen und Außen, darunter und darüber, geschützt und ungeschützt. Zwischen die Welt und den Menschen gesetzt, erzeugt die Urhütte auch das Verhältnis Umgebung und Bewohner_innen. Um auf ein weiteres Bild des Anfangs zurückzugreifen: Im Paradies brauchen Adam und Eva noch keine Behausung. Das Haus kommt mit der Vertreibung. Architekt_innen vermitteln zwischen Umgebung und Haus, zwischen Haus und Bewohner_innen. Sie positionieren zur Umgebung und antizipieren späteres Benutzen. Sie sind Serres' Parasit, der eingeschlossene-ausgeschlossene Dritte. Ihr Eingreifen in die ideal gedachte Beziehung von Umgebung und Bewohner_innen lässt diese erst sichtbar werden. Die Architekt_innen schalten sich zwischen – meinen zu ordnen – lassen die vermeintlich klare Beziehung in feinen Verästelungen und sich immer neu ordnenden Bezügen aufgehen. Sie setzen das Spiel in Gang.

«Wo sind wir? Dort, auf den Baustellen, in den Fabriken …, in den Kommunikationsräumen? Sehen wir denn nicht, dass auch diese Verortung sich in Dunst auflöst? Dass Pläne und Zeichnungen zwar unsere gewohnten Orte regelten, die Netze sie jedoch ins Grenzenlose verlängern? Dass wir in virtuellen Räumen arbeiten, die sich nur schwer darstellen lassen?»2

Mit dem Sprung von der Urhütte in die urbanisierte Welt wird die Dreierbeziehung zum vielfältigen Beziehungsgeflecht. Die als klassisch geltende Dualität menschlicher Lebens- und Siedlungsformen – die Unterscheidung zwischen Stadt und Land – ist in Folge der Industrialisierung in Auflösung begriffen und verwebt sich zu einem alles umfassenden Stadt-Land-Kontinuum. Mit dem Entfallen der Befestigungsanlagen als physische Grenze setzt einerseits ein Prozess der Ausbreitung der Stadt über das Land ein, andererseits kommt es auch zu ihrer Verlandschaftlichung, die Parks, Landhäuser und Ähnliches in die Städte bringt. Klare Abgrenzungen und feste Zuweisungen sind nur noch schwer haltbar. Modern und rückständig, kultiviert und ursprünglich, komplex und einfach taugen nicht mehr als wechselseitige Charakterisierungen. In Anbetracht der Umwälzungen versucht die von Italien ausgehende Diskussion zu Fragen der Typologie in den 1960er Jahren die Stadt über die Architektur (wieder) greifbar zu machen. Der Typus wird hier im Blick zurück entworfen und auf die Gegenwart appliziert. Ein wirkliches Verständnis der neuen Zeit findet sich dabei erst langsam. Dennoch Offenheit, Flexibilität, Eigenschaftslosigkeit geraten als Prinzipien flüchtiger Verbindungen in den Fokus.

Entlang der Falten dieses Gewebes folgen wir Serres. Er ordnet das Beziehungsgeflecht ohne Rücksicht auf disziplinäre Grenzen. Er kratzt an der Oberfläche des Alltäglichen und eröffnet tiefgehende Zusammenhänge. Er knüpft Fäden aus der griechischen Götterwelt und den Netzen der Gegenwart, verbindet das Lokale mit dem Globalen. Er legt auf diese Weise auch die feinen Differenzen und Verschiebungen offen, schärft den Blick für die sich bewegenden Beziehungen. Er macht Ordnungen und Traditionslinien kenntlich, Fäden in ihrem Verlauf, ihren Kreuzungen und Knoten sichtbar. Serres führt uns zu Haus und Wald, und zieht die Grenze zwischen wohnen (habiter), Kleidung (habit) und zugehörigen Gewohnheiten (habitudes) einerseits und der uns heimsuchenden (hanter) Natur andererseits in der Sprache nach. Er zeigt uns die oszillierenden Rollen der Land- und Stadtratte und ihres erst schlafenden und sie dann aufscheuchenden Gastgebers beim heimlichen Mahl an der verlassenen Tafel – um von ihnen zu Sokrates, Simonides und Alkibiades in das antike Griechenland zu wechseln, und ebenso leichtfüßig das läutende Telefon auf einer Party in seine Ausführungen einzuflechten. Er nimmt uns mit auf die abgesteckten und bewirtschafteten Felder (Pagus) als Landnahme und Abgrenzung und führt uns von ihnen zum Frieden (paix) und blutig angeeigneten Ländern (pays). In Serres’ Faltung der Welt legt sich aber auch der Frühling seiner Kindheit an der Garonne in Frankreich neben die Obstblüte auf den japanischen Inseln.

«Dem Raum ausgeliefert, entwächst unsere Stärke unseren Schwächen, die in diesen Orten ruhen; ihnen entspringt die Kraft. [...] Wem ein hier fehlt, um sich auszustrecken, wird nicht lange die Kraft haben, sich aufrecht zu halten. Diese Worte sprechen nicht nur über die von Menschen besetzten Räume, denn – ich komme darauf wie auf einen leuchtenden Ursprung zurück – alles Lebende flüchtet sich in solche Nischen […].»3

Der Parasit setzt ein Spiel aus sich verschiebenden Beziehungen in Gang. In der Störung konstituiert er dabei die Kommunikation und in der Verschmutzung den Ort. Spucke, Sperma, Blut, aber auch das Geschrei, das Zeichen und die Schrift bringen uns in die Welt. Ihnen folgend führt uns Serres, öffnet die Kommunikation und steckt auch sein Eigenes ab, setzt bleibende Zeichen und schreibt sich in unseren Diskurs ein. Serres vertraut dabei nicht nur auf die eigenen Markierungen. Vielmehr streift er durch das Bestehende, macht Einschreibungen sichtbar und ihre Grenzen lesbar, setzt sich dazwischen und schafft damit die Möglichkeit des Aufgreifens und Anknüpfens. En passant erschließt uns Serres die Welt im Rauschen der Kanäle.

Der Raum wird vom Körper ausgehend angeeignet. Ich rotze auf den Boden, markiere ihn mit meinem Schmutz und entziehe ihn für den Moment dem Zugriff der anderen. Mit Verschmutzungen greife ich um mich und mit der Abkehr vom Körper als ihrem alleinigen Ausgangspunkt greifen sie schließlich auch um sich. Sie dringen weiter, umfassender in den Raum ein und verwandeln die An- in Enteignung. Der unbestimmte Raum wird von Dämpfen, Flüssigkeiten, kleinsten Partikeln überzogen, durchdrungen – kurz: gänzlich in Besitz genommen. Der Lauteste verdrängt die anderen Spieler vom Feld. Will man die Landnahme brechen, bedarf es noch größeren Lärms, umfassenderer Verschmutzung – oder aber des Gespürs für unbeobachtete Momente und der List des ungebetenen Gastes. Es bedarf des Willens zum Spiel und der Entschlossenheit zum Handeln. Mit Serres öffnen sich Ansätze, zarte Wege innerhalb des uns umgebenden Kontinuums, die Relationen in Schwingung zu versetzen. Serres verortet uns in der Welt: Die Störung ist nicht zu vermeiden, sie ist zu gestalten.

«Wo sind wir und was sollen wir tun? Ja, wohin sollen wir uns wenden, um wohin zu gelangen? Als Sammlung nützlicher Karten zur Orientierung bei Ortsveränderung hilft ein Atlas, solche Probleme zu lösen. Wenn wir uns verirrt haben, finden wir uns mit seiner Hilfe wieder.»4

  • 1Michel Serres: Der Parasit, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 28.
  • 2Ders.: Atlas, Merve Verlag, Berlin 2004, S.115.
  • 3Ders.: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen?, Merve Verlag, Berlin 2009, S. 16–17.
  • 4Ders.: Atlas, S. 9.

Bevorzugte Zitationsweise

Helms, Kevin: Zum Tod von Michel Serres II. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/zum-tod-von-michel-serres-ii.

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