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Wortwolke

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Open-Media-Studies-Blog

Wissenschaftliche Webseiten (Teil 1)

Über existenzielle Fragen und das Verhältnis der Wissenschaft zum Internet

24.9.2019

Ein offenes Netz – das Netzwerk

Um 1970 sah die wissenschaftliche Kommunikation über das Netz zunächst überaus vielversprechend aus. Als erste, vereinzelte Knotenpunkte auf einer Landkarte begann für die US-amerikanischen Universitäten Ende der 1960er-Jahre die Geschichte des Internets. Zunächst finanziert von der 1958 gegründeten DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency, eine Behörde innerhalb des US-Verteidigungsministeriums), war das als ARPANET bezeichnete Netzwerk für die beteiligten Wissenschaftler_innen von Beginn an weit mehr als ein mögliches militärisches Instrument: «The aim of this [ARPA] department, as defined by Joseph Licklider, a psychologist turned computer scientist at the [...] MIT, was to stimulate research in interactive computing».1 Vor allem die in den Netzaufbau involvierte, wachsende Zahl an Computer-Wissenschaftler_innen profitierte von den neuen Vernetzungsmöglichkeiten, denn sie hatten die Expertise, das System zu nutzen und konnten über Forschungsfragen eine Gemeinschaft bilden. Das Netzwerk selbst bildete gleichzeitig Plattform und Thema für oftmals eher experimentelle Entwicklungen.2 Seine Entwicklung spiegelte auch die Counterculture-Lebensweise seiner akademischen Nutzer_innen, wie jener Studierender in Stanford und am MIT, die 1972 im ersten E-Commerce-Vorgang der Netzgeschichte mit Marihuana handelten.3 Für die Wissenschaftler_innen, die an und mit ihm arbeiteten, bot es immer mehr Forschungsraum, Daten und Testumgebungen4 – kurz, es war das ideale Wissenschaftsumfeld.

Video: Distanz und Arbeitsteilung als Impetus für das Internet. Rechte: Melih Bilgi

Wissenschaftliche Nutzung blieb in der weltweiten Entwicklung der Netzwerke ein determinierender Faktor, beispielsweise als dem ARPANET 1986 das NSFNET der U.S. National Science Foundation zur Seite gestellt wurde oder sich die National Research and Education Networks (NRENs) der fünf nördlichen Länder des europäischen Kontinents (Dänemark, Finnland, Island, Norwegen Schweden) 1985 mit ihren nationalen Netzwerken zur Initiative NORDUNET zusammentaten. Diese Netzwerk-Backbones, die viele Organisationen und Institutionen zur Verfügung stellten, um die Forschung zu fördern, stützen bis heute in Teilen die Infrastruktur des globalen Netzes, das wir Internet nennen. In Kooperationen wie NORDUNET, das bis heute von den Bildungs- und Forschungsministerien jener Länder als Firma geführt wird,5 wurde nicht nur das Netz geprägt, sondern auch eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen mit dem Internet verbunden.

Als dieses zum Ende des 20. Jahrhunderts auf globale Größe angewachsen war wurde die Notwendigkeit von Organisations- und Suchstrukturen sowie niedrigschwelliger Zugänge ein zunehmendes Thema. Diese wurden in Form der Webbrowser und des World Wide Web erneut an einer Forschungseinrichtung entwickelt. Mit seinen Kolleg_innen am CERN arbeitete Tim Berners-Lee 1990 an einer Möglichkeit für Wissenschaftler_innen multimediale Datensätze zu generieren und zu teilen.6 Sein Plan über Verlinkungen mithilfe des Hyper Text Markup Language (HTML) und dem Hypertext Transport Protocol (HTTP) war zunächst gedacht als «tool for creating and reading structured documents, such as software manuals»,7 weitete den Blick aber bald auf Ton, Bilder und Videos aus und hat heute, wie Kai Matuszkiewicz aufzeigt, zu neuen Formen des Lesens und Schreibens geführt.

Der Erfolg kam in der Verbindung mit dem Webbrowser Mosaic und auf den bequemen Pfaden einer technischen Infrastruktur, die nun vor den Nutzer_innen ‹versteckt› wurde. Die technische Kenntnis, die Wissenschaftler_innen zunächst gebraucht hatten, um das Netz operabel zu machen, war damit für viele Vorgänge quasi obsolet. Mit diesem World Wide Web als «application that would lure millions of new users» veränderte sich jedoch auch die Wahrnehmung des Netzes: «Instead of being seen as a research tool [...] the network took on new roles as an entertainment medium».8 Die Ziele der seit 1992 aktiven Internet Society und der von ihr 2019 ins Leben gerufenen Internet Society Foundation folgen seit langem der Maxime «The Internet Is For Everyone». Als Non-Profit-Organisation entstand die Society aus der Internet Engineering Task Force (IETF) und verfolgt weiterhin deren «principal rationales», wie der Internetpionier Vincent Cerf sie nennt. Diese sind vor allem «an institutional home for and financial support for the Internet Standards process». Als neutraler Vermittler auf internationaler Ebene steht die Society für Transparenz, Offenheit und freien Zugang zum Internet und fördert über ihre Stiftung nicht nur den Ausbau der Netzwerke, sondern auch gezielt «research and the strengthening of research capacity across technical, economic, and public policy topics impacting the global Internet».9

Dass hierbei zunächst die Forschung an und mit dem Internet gemeint ist, liegt in der Natur der Sache. Bedeutsam ist die Botschaft dahinter: das Internet war und ist Ort für Forschung. Wissenschaftliche Webseiten in diesem offenen Netz, so scheint es zumindest vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, sind also eine ideale Plattform für Wissenschaft. Warum sind sie also nicht der Publikationsstandard? Mehr noch, warum beinhaltete eine wissenschaftliche Ausbildung nicht schon seit den 1990er-Jahren den Umgang mit diesem digitalen Umfeld?

Diese Frage stellten sich bereits 1997 der Biologe Kevin O’Donnell und der Mediziner Larry Winger, deren Internet for Scientists mit der Verwunderung darüber eröffnete, dass es nicht längst ein Handbuch für Wissenschaftler_innen im Internet gebe, «since the net was first set up by scientists for scientists» und ihre folgende Klage: «The Internet is now just so vast, with its own idiosyncrasies and lacking any central index, that the hard working scientist might not have enough time to explore its potential».10 Die daraus folgende Konsequenz, eine Art Anleitung und Findbuch über das Internet zu veröffentlichen, zeigt die gleichsam internalisierte und etwas hilflose Reaktion der Wissenschaft auf das mächtige Netzwerkinstrument.

Ein geschlossenes System – die Wissenschaft

 

Denn natürlich greift die Annahme, dass alle Wissenschaftsbereiche gleichermaßen in das frühe Internet als Publikationsplattform involviert waren, historisch genauso zu kurz wie der soeben absolvierte Spaziergang durch die Internetgeschichte. Die Geisteswissenschaften scheinen nicht nur im Handbuch von O’Donnell und Winger sondern bei wesentlichen Etappen der Internetgeschichte an der Seitenlinie zu stehen.

Aber auch die allgemeine Praxis wissenschaftlichen Austauschs fußt vielmehr auf jenen Traditionen, die Bernard Rentier in Open Science – The Challenge of Transparency skizziert. So lag im Wunsch nach einem Austausch jenseits von einzelnen Briefbekanntschaften und ihren «fragmentary increments»11 im 17. Jahrhundert zunächst der Beginn des Wissenschaftspublikationssystems, wie es heute institutionalisiert und ökonomisiert ist. Im Jahr 1665 formierten sich mit den Journalen Journal des sçavans (Frankreich) und Philosophical Transactions of the Royal Society of London (Großbritannien) die Prinzipien von archiviertem Wissen, der Verteilung an eine ausgewählte Basis, aber auch den aus der Wissenschaft festgelegten Publikationsregeln.12 Diesen Regelungen funktionierten lange gut, wie auch das folgende Video der Wissenschaftscartoon-Seite Piled Higher and Deeper (PHD Comics) zur Funktionsweise von Open Access anschaulich illustriert:

Das Video «Open Access Explained» von Piled Higher and Deeper (PHD Comics)

Mit den neuen digitalen Möglichkeiten und einer Ökonomisierung der Journale scheinen sich die modernen Wissenschaften allerdings selbst in eine Sackgasse manövriert zu haben, die Gayle Letherby und Paul Bywaters mit Rekurs auf Dale Spencer pointiert so zusammenfassen: «‹Research that is not in print does not exist› and to give credibility to our work we need to publish it between the covers of a respectable academic journal or a book».13 Das Volumen von eingereichten und veröffentlichten Artikeln für die Vielzahl an Journals steigt jedes Jahr und ist heute ein Messwert des akademischen Publish or Perish-Systems, denn im Schnitt 70 Prozent des materialbezogenen Budgets von Bibliotheken14 gehen wiederum in den Ankauf von Journalen, für die viele Forschende vorab selbst noch Publikationsgebühren gezahlt haben. Hinzu kommt die ebenfalls lang etablierte Publikation in Büchern über akademische Verlage. Die Situation wird, auch auf der Grundlage der Möglichkeiten digitaler Textangebote in den Netzmedien, durch den dauerhaften Konflikt zwischen der Publikationsindustrie und den Einsparungen im Bildungssektor nur noch weiter verschärft. Das gewachsene System hat also zu einer «doppelten ökonomischen Schwelle» geführt, in der Wissenschaftler_innen wie Leser_innen für Publikationen zahlen. Dass hierbei für die Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften teilweise unterschiedliche Hauptplattformen existieren, ändert an der Gesamtsituation wenig.

Der Versuch sich aus dieser Lage zu befreien, ist ein wesentliches Movens für die Open-Access-Bewegung. Ingrid Mayeur sieht in den Möglichkeiten von Open Access beispielsweise «an opportunity to systematize direct scientific communication, which is not submitted to a peer-review process and takes place in specific infrastructures».15 Diese Infrastrukturen, zu denen der für ihre Diskussion bedeutsame Bereich des wissenschaftlichen Blogs auf einer eigenen Webseite gehört, sind wesentlich an das Internet als Träger geknüpft. In der historischen Logik von den Ursprüngen der modernen Netzwerkkommunikation bis zur heutigen Debatte um Open Access, lässt sich die OA-Bewegung also auch als den Versuch lesen das Internet zurück in die Hände der Wissenschaften zu legen. Das klingt zunächst nach einer wohlmeinenden Utopie, die an der Arbeitsrealität der Wissenschaftler_innen vorbeigeht, und wird durchaus bisweilen etwas spöttelnd beobachtet, wie in einem Artikel der New York Times mit dem geradezu mitreißenden Titel Handful of Scientists Went Rogue and Published Directly to Internet. Es braucht sicherlich keinen absoluten Umsturz aller akademischen Publikationsorgane, sondern vielmehr jene Veränderungen des Publikationssystems, wie Rolf Nohr sie im Interview mit Dietmar Kammerer gefordert hat. Dazu gehört aber auch die Debatte, was Wissenschaft im Internet sein will und kann.

Der Spruch «Welcome to the Internet» in einer Simpsons-Folge nahm in der Meme-Kulture des Internets bald eigene Formen an. Er beschreibt heute die etwas elitäre Perspektive von erfahrenen Internetnutzern auf alle anderen Anwender und nutzt dafür in Bildern häufig Verweise auf ältere oder historische Netzdesigns – wie diese Assemblage schlechter Internetpräsentationen, die ursprünglich zu der populären Meme-Webseite YTMND gehörte und sich heute archiviert auf KnowYourMeme findet. Rechte: Amanda B. auf KnowYourMeme.

«Dann sieht es bald so aus, als ob du nicht existierst» – das Internet der Wissenschaftler_innen

Das Verhältnis von Wissenschaftler_innen zu dem Internet als alternativem Ort ihres Wissens liest sich häufig als ein Balanceakt zwischen den technischen Möglichkeiten und diesen erlernten Strukturen. Dass O’Donnell und Winger, selbsterklärte Computerlaien, ihre eigene Erfahrung in einem Buch fixierten, ist typisch für die ‹experimentelle› Aneignung des Internets. Der Immunologe Arnold R. Sanderson, der das Vorwort verfasste, lobte sie für den Versuch Ordnung zu schaffen. Er bemerkte allerdings auch mit beachtenswerter Weitsicht, dass dieses Werk in Zukunft wohl von den Autoren kontinuierlich erneuert werden müsse und dass es dabei sicherlich nicht bleiben werde: «There will be CD versions and similar presentations for other specialist groups. Eventually of course everything will end up on the Internet itself».16

In genau dieser Logik räumten O’Donnell und Winger am Ende ihres Buches ein, dass Kolleg_innen ein geradezu existenzielles Interesse daran haben könnten, selbst eine Webseite aufzusetzen: «Because, in this geometrically expanding medium, lack of presence means that you, your project, your group, your department, your institution, company or school are not contemporary – worse, it will soon come to appear that you do not actually exist».17

Die argumentative Nähe zu Dale Spencers Argument zum wissenschaftlichen Publizieren ist hier definitiv kein Zufall: Sichtbarkeit ist die Überlebensstrategie der Wissenschaftler_innen im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit. Die wichtigsten Bestandteile einer solchen wissenschaftlichen Webseite seien die Kontaktdaten, eine Zusammenfassung der eigenen Arbeit – am besten in einem eher simplen, zweckmäßigen Design auf einer WWW-Seite – und das Registrieren in den Suchmaschinen.18 Um deren Anforderungen zu genügen, seien zudem regelmäßige Kontrollen und Lebenszeichen notwendig.

An diesen Regeln, scheint es, hat sich seit 1997 wenig geändert. Dauerhafter Wandel, geringe Zugangshürden und Bemühungen um ein wachsendes Netzwerk skizzierten beispielsweise Julian Cribb und Tjempaka Sari 2010 in Open Science als Erfolgsfaktoren für eine gute wissenschaftliche Webseite19 . Diese Anforderungen spiegeln zwar das Berufsfeld von Wissenschaftler_innen, kollidieren in ihrer Umsetzung aber oft auch mit eben diesen, wie die folgenden Teil der Reihe zeigen werden.                 

  1. Einleitung
  2. Existenzielle Fragen und das Verhältnis der Wissenschaft zum Internet
  3. Wissenschaftliche Webseiten planen und umsetzen lassen
  4. Vernetzte Forschung und ein Webseitenarchiv der Zukunft
  • 1Castells, Manuel: The Internet Galaxy: Reflections on the Internet, Business, and Society, Oxford 2001, 10.
  • 2Vgl. Abbate, Janet: Inventing the Internet, London 1999, 100
  • 3Vgl. Markoff, John: What the Dormouse Said: How the 60s Counterculture Shaped the Personal Computer Industry, London 2005, 108
  • 4Lehtisalo, Kaarina: The History of NORDUnet. Twenty-Five Years of Networking Cooperation in the Nordic Countries, Hørsholm 2005, PDF ohne Seitenangabe.
  • 5Lehtisalo, Kaarina: The History of NORDUnet. Twenty-Five Years of Networking Cooperation in the Nordic Countries, Hørsholm 2005, PDF ohne Seitenangabe.
  • 6Vgl. Berners-Lee, Tim et al.: The World Wide Web, in: Communications of the ACM, Vol . 37, Nr. 8, New York 1994, 76–82, 82
  • 7Vgl. Hayes, Brian: The World Wide Web, in: American Scientist 82/1994, 416–420, 418.
  • 8Abbate: Inventing the Internet, 213 f.
  • 9About the Internet Society Foundation, Selbstbeschreibung der Internet Society Foundation, ohne Jahr, https://www.isocfoundation.org/en/about/, gesehen 27.07.2019.
  • 10O’Donnell, Kevin und Larry Winger: The Internet for Scientists, Amsterdam 1997, 1.
  • 11Rentier, Bernard: Open Science, The Challenge of Transparency, Brüssel 2019, 5.
  • 12Mit dem Journal Philosophical Transactions wird beispielsweise der Beginn von Peer-Review-Verfahren in Verbindung gebracht. Wie J. Britt Holbrook anmerkt, lassen sich dafür allerdings auch andere Zusammenhänge aufzeigen. Mit Referenz auf Ray Spier nennt sie beispielsweise das technische apriori des Kopierers (Xerox, 1959) als wesentliches Moment für die Etablierung von Peer-Review-Prinzipien in Journals: Holbrook, J. Britt: Peer-Review, Interdisciplinarity, and Serendipity, in: Frodeman, Robert et al. (Hg.): The Oxford Handbook of Interdisciplinarity. 2. Auflage, Oxford 2017, 485-498, 488.
  • 13Letherby, Gayle und Paul Bywaters: Extending social research: why? In: dies. (Hg.): Extending Social Research – Application, Implementation and Publication, Maidenhead 2007, 19-35, 33.
  • 14Hawker, Jaki: Selling Words. An Economic History of Bookselling, in: Lyons, Rebecca E., Samantha Rayner (Hg.): The Academic Book of the Future, 84–91, 85.
  • 15Mayeur, Ingrid: Importing Knowledge in Humanities. About Some Practices of Scientific Blogging on Hypothèses, in: Chan, Leslie, Fernando Loizides (Hg.): Expanding Perspectives on Open Science: Communities, Cultures and Diversity in Concepts and Practices, Amsterdam 2017, 75–84, 75.
  • 16Sanderson, Arnold R.: Foreword, in: O’Donnell, Kevin und Larry Winger (Hg.): The Internet for Scientists, Amsterdam 1997, ix–x, x.
  • 17O’Donnell, Winger: Internet for Scientists, 255.
  • 18O’Donnell, Winger: Internet for Scientists, 256 und 275.
  • 19Vgl. Cribb, Julian und Tjempaka Sari: Open Science – Sharing Knowledge in the Global Century, Collingwood 2010, 146.

Bevorzugte Zitationsweise

Niebling, Laura: Wissenschaftliche Webseiten (Teil 1). Über existenzielle Fragen und das Verhältnis der Wissenschaft zum Internet. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/wissenschaftliche-webseiten-teil-1.

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