
© Jacob Smith
William Blakes The Sea of Time and Space nach David Lynch
David Lynch ist vor allem als Filmregisseur bekannt, aber er begann seine Karriere als Maler. In Interviews hat Lynch oft zwei Künstler genannt, die ihn beeinflusst haben: Francis Bacon und Edward Hopper.1 Soweit ich weiß, hat Lynch nie William Blake als Einfluss erwähnt, was etwas überraschend ist, da viele Gemeinsamkeiten zu erkennen sind. Beide beschäftigten sich mit dem Aufeinandertreffen von Gegensätzen, so wie Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Himmel und Hölle, und brachten diese in Form von Darstellungen von Sexualität und Blakes Konzept von «nackter Schönheit» zum Ausdruck. Beide kreierten ausufernde persönliche Mythologien, von den ‘Four Zoas’ bis zu den multiplen Universen von Twin Peaks. Sie tendierten zudem beide dazu, kosmische Maßstäbe mit dem ganz Kleinen zu verschmelzen, sei es die Welt in einem Sandkorn oder das Paradies in einer verdammt guten Tasse Kaffee. Ihre Karrieren als Künstler weisen auch einige bemerkenswerte Parallelen auf: So waren beide Multimediakünstler, die in populären Formaten tätig waren (im Druck bzw. im Fernsehen) und aus einer Außenseiterposition in der Kunstwelt heraus agierten.2 Um die Resonanz zwischen diesen beiden Künstlern zu untersuchen, habe ich einen audiovisuellen Essay erstellt, der Bilder aus Blakes Gemälde The Sea of Time and Space (1821) mit Klängen kombiniert, die von Lynch und seinen Mitarbeiter*innen Alan Splet und Ann Kroeber geschaffen wurden.
Ein Teil meiner Motivation für dieses Projekt besteht darin, visionäre Kunst besser zu verstehen. L. Caruana erklärt, dass visionäre Kunst eine Art des Schaffens ist, die von dem Wunsch geleitet wird, «Zeugnis von anderen Realitäten» abzulegen, wie sie in «alternativen Bewusstseinszuständen» sichtbar werden.3 Für Alex Grey basiert die visionäre Kunst auf der persönlichen Erfahrung des Göttlichen und dem Versuch, innere Wahrheiten durch «eine äußere materielle Manifestation» erfahrbar zu machen.4 Carl Jung beschreibt die visionäre Art des künstlerischen Schaffens als eine, die über den «Bereich des Begreifbaren» hinausgeht und die «die Reichweite des menschlichen Fühlens und Verstehens» überschreitet.5 Blake wird oft als paradigmatisches Beispiel eines visionären Künstlers genannt, und er selbst behauptete, dass «Vision oder Imagination eine Darstellung dessen ist, was ewig, wirklich und unveränderlich existiert ... die Natur meiner Arbeit ist visionär und imaginativ.»6
Eraserhead (1976) bietet sich als Fallstudie für die Betrachtung des visionären Status von Lynchs Werk an, da der Film häufig auf seine spirituelle Konnotation untersucht wurde, insbesondere in Bezug auf ein gnostisches Denksystem. Eric G. Wilson stellt heraus, dass mehrere von Lynchs Filmen Themen aufgreifen, die mit der gnostischen Tradition übereinstimmen, die sich auf eine pure Erfahrung des Göttlichen bezieht.7 Für Wilson ist Eraserhead eine «Nacherzählung des grundlegenden gnostischen Mythos vom Sündenfall», da der Protagonist des Films aus einem «ätherischen Reich jenseits von Raum und Zeit» in eine irdische Realität hinabsteigt, die von einem «verwundeten Demiurgen», dem mysteriösen Mann auf dem Planeten, kontrolliert zu werden scheint.8 In einer kürzlich erschienenen Studie nimmt Claire Henry den Gnostizismus als Vorlage für die Interpretation des Films und verweist auf Lynchs Behauptung aus dem Jahr 2006, dass Eraserhead sein «spirituellster Film» sei und dass außerdem eine bestimmte Bibelstelle, die er nicht preisgeben wollte, ein Schlüssel sei, der bestimmte Sequenzen auflöst. Für Henry erfordern Lynchs Aussagen eine mystische, gnostisch kontextualisierte Herangehensweise an den Film.9 Die geheimnisvollen, spirituellen Untertöne von Eraserhead verknüpfen ihn demnach auch mit Blake.
Eraserhead bietet außerdem eine formale Grundlage, um diese beiden Künstler in einen Dialog zu bringen, da der Film für seinen bemerkenswerten Soundtrack bekannt ist. So wie Blake einen unzureichend erforschten Zugang zu Lynch bietet, so bietet Sound einen bislang unzureichend genutzten Zugang zu Blake. Als Dichter und bildender Künstler gefeiert, wurde der klanglichen Dimension von Blakes Werk weniger Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es Berichte gibt, dass er seine Gedichte gesungen und seine Verse mehrfach vertont haben soll. Abgesehen von diesen musikalischen Bearbeitungen gab es bisher keine klanglichen Auseinandersetzungen mit Blake, die die Möglichkeiten der nicht-musikalischen Klangkunst und des Sounddesigns ausschöpfen. Von Initiativen wie dem ‹Soundscapes‘›-Projekt der National Gallery in London inspiriert, bei dem Musiker*innen und Klangkünstler*innen mit der Komposition neuer Audiowerke zu einem bestimmten Gemälde beauftragt wurden, beschloss ich, ein Blake-Gemälde mit einem Lynch'schen Soundtrack zu kombinieren.10 In Anlehnung an das Genre des wissenschaftlichen videografischen Essays habe ich eine filmische Adaption von Blakes The Sea of Time and Space geschaffen, die Lynchs charakteristischen Umgang mit Sound herausstellen soll.
Was genau ist Lynchs charakteristisches Sounddesign? Michel Chion vergleicht den Soundtrack von Eraserhead mit einem Werk der Musique Concrète und beschreibt seine «ununterbrochene Klangatmosphäre», die regelmäßig von «brutalen und plötzlichen Schnitten» unterbrochen wird.11 In Eraserhead sind dichte Umgebungsgeräusche zu hören, die aus industriellen und atmosphärischen Klängen bestehen und die Zuschauenden einhüllen. «Das Geräusch der Maschine und die winzigsten Aktivitäten der einzelnen Partikel versetzen uns in einen sicheren inneren Raum, als befänden wir uns selbst in einer körperliche Maschinerie», schreibt Chion. «Mit den Geräuschen in Lynchs Werk sind wir ständig mitten in etwas drin.»12 Es ist jedoch nicht immer klar, in was genau wir uns befinden. Das Sounddesign in Eraserhead evoziert vielmehr ein beunruhigendes Gefühl, dass wir in mehrere Welten zugleich eingebettet sind, die vom inneren Bewusstsein des Protagonisten über die Umwelt bis hin zu weiten, kosmischen Räumen reichen.
Kommentator*innen wie Chion neigen dazu, dies als Lynchs persönliche klangliche Handschrift zu bezeichnen, aber der Soundtrack zu Eraserhead entstand in Zusammenarbeit mit dem legendären Sounddesigner Alan Splet, der eng mit Lynch an all seinen Filmen zusammenarbeite, von The Grandmother (1970) bis Blue Velvet (1986). Splet wirkte auch an Carroll Ballards The Black Stallion (1979) und Never Cry Wolf (1983) sowie an Filmen von Peter Weir und Philip Kaufman mit. Splet starb 1994 und seine berufliche und private Partnerin Ann Kroeber verwaltete weiterhin das von ihnen gemeinsam geschaffene Tonarchiv. Diese Sammlung and Sound-Effekten, die Sound Mountain Collection, wurde 2017 an das Unternehmen Pro Sound Effects verkauft.13 Ich habe die Sound-Mountain-Kollektion erworben und sie in diesem videografischen Essay als ausschließliche Klangbasis verwendet. Mein Video erinnert daher nicht nur an Eraserhead oder den Stil von Lynch und Splet, sondern ist direkt aus demselben Archiv von Klängen geschaffen.
Das Ergebnis ist ein videografisches Mashup, in dem Lynch durch die Sammlung Sound Mountain und Blake durch The Sea of Time and Space repräsentiert wird. Ich habe mich aus mehreren Gründen für Letzteres entschieden. Erstens zeigt das Bild einen dynamischen Sinn für kreisförmige Bewegungen auf, die auf einen erzählerischen Zeitablauf hindeuten und die ich in meinem Schnitt animiert habe. Zweitens weist es Figuren, Szenen und Themen auf, die gut zu den Aufnahmen im Sound Mountain Archiv passen. Drittens ist The Sea of Time and Space Gegenstand einer reichen neuplatonischen Interpretationslinie, die sich mit den oben beschriebenen gnostischen Untertönen von Eraserhead verknüpfen lassen. Die neoplatonische Interpretation des Gemäldes stammt von der Dichterin und Wissenschaftlerin Kathleen Raine, die diese in Artikeln und Büchern wie Blake and Tradition (1968) darlegte. Im weiteren Verlauf dieses Essays wird Raines Analyse von Blakes Gemälde als Leitfaden für mein Video dienen.
The Sea of Time and Space stellt die geheimnisvolle Passage der «Nymphengrotte» in Buch 13 von Homers Odyssee dar [Abbildung 1].14Raine erklärt, dass Blakes Werk am besten im Zusammenhang mit einer Interpretation dieser Passage zu verstehen ist, die sich in Werken des Philosophen Porphyr aus dem dritten Jahrhundert und des englischen Neuplatonikers Thomas Taylor findet. Raine stellt fest, dass The Sea of Time and Space in der Tat Blakes Darstellung der «wesentlichen Elemente des Neoplatonismus», nämlich «des Abstiegs und der Rückkehr der Seelen,» sowie «der Überquerung des Meeres von Zeit und Raum.»15 In der Tat stellt das Gemälde einen traditionellen Aspekt der neuplatonischen und hermetischen Symbolik dar: Odysseus als Sinnbild für die Reise des Lebens über das «stürmische und unbeständige Meer der materiellen Existenz».16 Das Video beginnt im Fluss der materiellen Existenz, der durch die Wellen auf dem Meer verkörpert wird [Abbildung 2]. Von dort aus treffen wir auf Odysseus, der gerade am Strand in der Nähe seines Hauses gelandet ist, mitten im Abenteuer des Lebens, als Silhouette auf dem sturmgepeitschten Meer [Abbildung 3].
(Abb. 1-3)
Odysseus wirft gerade ein Tuch aufs Meer, das ihm die Göttin Leukothea zuvor geschenkt hatte.17 Leucothea sagte zu ihm: «Wenn du die trockene Erde erreichst, binde das Tuch los/ und wirf es auf das Meer hinaus, weg vom Land,/ und wende dich ab.»18 Es ist dieser Akt des Werfens und Abwendens, den Blake in Odysseus' bidirektionaler Körperhaltung darstellt.19 Draußen in den stürmischen Gewässern sehen wir Leucothea, die von vier Pferden gezogen wird, die wahrscheinlich Blakes ‘Four Zoas’ entsprechen, den vier grundlegenden Aspekten des menschlichen Daseins [Abbildung 4]20 Diese Pferde sind der Grund dafür, dass ich mehrere Pferdeaufnahmen aus der Sammlung Sound Mountain verwendet habe, von denen die meisten für den Film The Black Stallion entstanden sind. Das von Odysseus geworfene Tuch verwandelt sich in eine Wolke, und da Blake Wolken und Gewänder oft als Symbole für den physischen Körper verwendete, sehen wir Odysseus, wie er am Ende seiner Lebensreise seine materielle Verkörperung wie ein altes Kleidungsstück abwirft.21 Luftige Klänge beleben das Tuch, während es sich in eine Wolke verwandelt, und wir bewegen uns nach oben zu einem glühenden Sonnenwagen und einer Schar himmlischer Wesen [Abbildung 5].
(Abb. 4 und 5)
Der Sonnenwagen wird von vier weiteren Pferden gezogen und ist von «hellen, aufsteigenden Seelen» und «strahlenden Geistern» umgeben, von denen einige Musikinstrumente halten [Abbildung 6].22 Die Musik für diese Sequenz besteht aus einem Chor von Wolfsgeheul aus der Sammlung Sound Mountain (aufgenommen für den Film Never Cry Wolf) und einem subtilen Hinweis auf die Orgelmusik von Fats Waller, die die Sequenz ‹Lady in the Radiator› in Eraserhead begleitet.23 Der himmlische Bereich des Gemäldes ist somit mit einem analogen Raum im Film verbunden: der Bühne, auf der die besagte Dame auftritt. Godwin beschreibt ihren «steifen, Shirley-Temple-ähnlichen Tanz», während «spermaartige Dinge» um sie herum auf den Boden fallen: «Sie schreitet zierlich und mit einem verschämten Lächeln umher, bis die Musik aufhört; sie tritt auf etwas und daraus spritzt eine milchige Flüssigkeit auf die Bühne.» Godwin kommt zu dem Schluss, dass dies die Definition des Himmels aus Sicht des Protagonisten ist: «Ein warmer, feuchter, sicherer, geschlossener Ort: die Gebärmutter. Aber eine sterile Gebärmutter. Ihr geschlechtsloser Bewohner und Wächter eliminiert das eindringende Sperma und garantiert so, dass keine Empfängnis stattfindet - und damit keine Geburt, kein Eintritt in die verhasste Außenwelt.»24
(Abb. 6)
In Blakes Gemälde sehen wir eine weitere Bewegung in Richtung eines Wiedereintritts in die äußere Welt und nachdem wir die Aufwärtsbewegung von Leucothea zum Sonnenwagen vollendet haben, machen wir eine seitliche Bewegung nach rechts, wo wir die vier Pferde des Wagens in Begleitung von Frauengestalten finden [Abbildung 7]. Die seitliche Bewegung führt uns in eine Region mit Bäumen und einem kurzen pastoralen Intermezzo [Abbildung 8]. Von hier aus beginnen wir eine vertikale Bewegung nach unten und steigen in die Höhle hinab, die das Herzstück der homerischen Passage ist, die so viele neuplatonische Kommentare hervorgebracht hat. Homer beschreibt den Hafen des Meeresgottes Phorcys in der Nähe einer «schönen, dunklen Höhle, / ein heiliger Ort der Meeresnymphen - Nereiden, / in der Schalen und Amphoren aus Stein stehen, / und summende Bienen Honig bringen. Es gibt Webstühle, / auch aus Stein; und die Nymphen weben purpurnen Stoff, / meer-purpurn - es ist herrlich anzusehen. Es gibt/ zwei Eingänge. Der nördliche ist für Menschen;/ der südliche ist heilig. Menschen können diesen Weg nicht betreten - es ist der Weg der Unsterblichen.»25
(Abb. 7 und 8)
Raine schreibt im Anschluss an Taylor, dass Höhlen seit langem heilige Orte sind, die die Geheimnisse eines passiven Ein- und Ausstiegs in und aus dem Leben verkörpern. «Das Geheimnis der Höhle der Nymphen», schreibt sie, «hängt mit den Mysterien von Schoß und Grab zusammen.»26 Die hinabsteigenden Seelen werden durch summende Bienen dargestellt, die ihren Honig in den steinernen Schalen und Amphoren absetzen, die Blake als schoßartige Urnen darstellt, die von geflügelten Nymphen auf dem Kopf getragen werden [Abbildung 9].27 Die Bienen waren ein Symbol für zurückkehrende Seelen, da sie dafür bekannt waren, über große Entfernungen hinweg zu ihren Bienenstöcken zurückzukehren.28 Die Geräusche der summenden Insekten auf der Tonspur stammen von Sound-Mountain-Aufnahmen, die für den Film The Mosquito Coast (1986) gemacht wurden.
(Abb. 9)
Beim Abstieg über eine Treppe in die tieferen Bereiche der Höhle treffen wir auf Nymphen, die an einem Webstuhl arbeiten [Abbildung 10]. Im neuplatonischen Deutungssystem sind dies die Webstühle der Zeugung, an denen bienenähnliche Seelen beim Abstieg in die materielle Welt Körper aus Fleisch und Knochen erhalten. Die steinernen Webstühle sind die Knochen, auf denen der violette Stoff des Fleisches gewebt wird. Raine schlägt vor, dass das kleine Mädchen rechts neben dem Webstuhl in Blakes Gemälde «in das verstrickt ist, was die drei Nymphen weben. Vielleicht will Blake hier den Prozess der Zeugung darstellen» [Abbildung 11].29Auf der Tonspur wird der Webstuhl vom Rattern der Maschinen begleitet und der Prozess der Verkörperung wird durch den Klang Lynch'scher elektrischer Funken umgesetzt.
(Abb. 10 und 11)
Die absteigende Bewegung kehrt auch im Video zurück und folgt einer Treppe und den Stämmen von vier großen Bäumen, die das Bild von oben nach unten durchziehen. Die Bewegung entlang der Stämme dieser beeindruckenden Bäume führt zu den Wurzeln, die in das dunkle Wasser am unteren Bildrand eingetaucht sind. Raine schreibt, dass diese Bäume mit ihren Wurzeln im Wasser und ihren Kronen, die bis zum «goldenen Land über der Höhle» reichen, andeuten, dass «die Wurzeln des Lebens in der unteren Welt liegen und seine Blätter in der Ewigkeit».30 Wenn man sich den Wurzeln nähert, taucht man in das Wasser ein und hört eine neue wässrige Klanglandschaft [Abbildung 12].31 Die Sammlung Sound Mountain enthält viele Wasserklänge. Wasser ist ebenfalls ein wichtiges Symbol in der neuplatonischen Kosmologie. Raine erklärt, wie nach neuplatonischer Auffassung Seelen, die in die Zeugung hinabsteigen, von der Feuchtigkeit angezogen werden und körperlich werden, indem sie sich zu einem «feuchten Vehikel wie einer Wolke» verdichten. Eine inkarnierende «feuchte Seele» ist in der unteren rechten Ecke des Gemäldes zu sehen, halb im Wasser und «in einen glückseligen Schlaf des letheanischen Vergessens versunken» [Abbildung 13].32
(Abb. 12 und 13)
Nun beginnen wir eine seitliche Bewegung nach links entlang des unteren Bildrandes und bewegen uns entlang des Flusses des Lebens, der sich durch geheime Tiefen bewegt und ins Meer hinausfließt.33 Sound-Mountain-Aufnahmen sorgen für ein Crescendo des Wassers, das sich vom einzelnen Tropfen zu einem tröpfelnden Bach und schließlich zu einem Fluss entwickelt, der auf die tosende Brandung trifft. Der Soundtrack gewinnt an Intensität, während wir mit dieser Strömung an einer Gruppe von Figuren vorbeigezogen werden, die den Meeresgott Phorcys und die drei Schicksalsgöttinnen darstellen. Letztere spulen einen Faden vom Webstuhl ab, der an eine Nabelschnur erinnert [Abbildung 14]. Unten links im Bild hält eine der Schicksalsfiguren eine Schere.34 Während das wässrige Crescendo des Soundtracks seinen Höhepunkt erreicht, konzentrieren wir uns auf die Schere, und die schneidenden Geräusche markieren den Moment der Geburt, wenn die Seele in das Meer von Zeit und Raum zurückkehrt [Abbildung 15]. Die Tonspur wird abrupt still, nur um darauf von den Schreien eines Säuglings durchbrochen zu werden, die eine Geburt andeuten und an das berühmte Sounddesign von Lynch und Splet im Prolog von The Elephant Man (1980) erinnern sollen.
(Abb. 14 und 15)
Nach diesem dramatischen Moment der Geburt/Wiedergeburt kehren wir zu den Wellen des Ozeans zurück, wo wir begonnen haben, und dann noch einmal zu Odysseus an den Ufern von Ithaka. Diesmal folgen wir jedoch der anderen Richtung, die durch seine gespaltene Haltung angedeutet wird, und bewegen uns in Richtung seines Blicks und, was vielleicht noch wichtiger ist, seines ausgestreckten Fußes, der mit einer hinter ihm stehenden Figur Kontakt aufnimmt. Es handelt sich um die Göttin Athene, die Verkörperung der göttlichen Weisheit [Abbildung 16]. Raine schreibt, dass die drei Hauptfiguren im Zentrum des Gemäldes, Odysseus, Leucothea und Athene, einen einzigen kreisenden Rhythmus suggerieren, der sich auf Odysseus selbst konzentriert.35 Ich habe dieses kreisende Muster narrativisiert, indem ich zuerst seine Arme und dann sein Gesicht verfolge. Blake jedoch scheint anzudeuten, dass diese beiden Bewegungen gleichzeitig ablaufen. In den Worten von Raine wird uns in den «kreisenden oder spiralförmigen Rhythmen» des Gemäldes eine «unaufhörliche Runde von Tod und Wiedergeburt» gezeigt.36
(Abb. 16)
Nach der Begegnung mit Athena macht das Video einen letzten Aufstieg, indem es Athenas erhobenem Arm folgt, der Odysseus' Aufmerksamkeit auf die himmlische Sonne lenkt [Abbildung 17]. So wie das Werfen des Tuchs den Tod des materiellen Körpers symbolisch andeutet und der Abstieg durch die Webstühle die Geburt, so finden wir hier eine dritte Ebene: den visionären Blick auf die Ewigkeit im Leben, eine künstlerische Darstellung dessen, «was ewig existiert, wirklich und unveränderlich ist».37 Das Video endet jedoch nicht hier, sondern führt weiter in eine Schlusssequenz, die zwei schlafende Figuren im Bild verbindet. Die erste ist der Sonnengott, der «in tiefem Schlaf versunken» ist.38 Die zweite ist die «feuchte Seele» in den Tiefen der Höhle, die noch nicht zum Leben erwacht ist [Abbildung 18, 19]. Raine schreibt vom schlafenden Sonnengott:
Blake deutet die gegensätzlichen Zustände an, das Leben in dieser Welt und den Tod in der anderen; oder, in diesem Fall, das Erwachen des einen und der Schlaf des anderen. Moderne Psychologen würden sagen, dass das Wachen des Bewusstseins der Schlaf des Unbewussten ist - und in der Tat würde sich dieses ganze Thema ebenso gut für eine psychologische wie für eine metaphysische Interpretation eignen. Unten ist alles wache Energie und Aktion; in der Welt der Unsterblichen herrscht tiefer Schlaf.39
Odysseus befindet sich also im Zentrum zweier Kreise: einem mit Leukothea und Athene und einem anderen mit diesen beiden Schlafenden, die zwei Zustände der Bewusstlosigkeit repräsentieren.
(Abb. 17-19)
Ich fand die Arbeit der Synchronisierung von Lynchs Klängen mit Blakes Bild in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Die Klangpalette von Lynch und Splet zeichnet sich durch ihre emotionale Kraft und Komplexität aus, die sehr gut zu Blake passt. Ihre dunklen, industriellen und eindringlichen Klänge unterstreichen die kosmischen und unheimlichen Qualitäten von Blakes Bild (Qualitäten, die durch einen leichteren, volkstümlichen, romantischen oder pastoralen Ansatz leicht abgeschwächt werden könnten). Ich hoffe, dass diese Paarung mit Lynch andere multimediale Begegnungen mit Blake inspirieren kann. Ich hoffe auch, dass mein Experimentieren mit dem Sound-Mountain-Archiv in diesem videografischen Mashup einen Beitrag zu den Arbeiten von Wissenschaftler*innen wie Liz Greene über Lynchs Sound und Autorschaft leisten wird. Schließlich möchte ich mit diesem Projekt einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte und Ästhetik der visionären Kunst leisten, einem unterirdischen Fluss, der weiterhin unter der Oberfläche des kulturellen Lebens fließt und die Wurzeln vieler künstlerischer Werke nährt.
- 1
Siehe z.B. Martha P Nochimson: The Passion of David Lynch. Austin 1997; Justus, Nieland: David Lynch, Champaign 2012.
- 2
Siehe Howard Becker: Art Worlds, Berkeley 2008.
- 3
L. Caruana: The First Manifesto of Visionary Art, Paris 2010, 3.
- 4
Alex Grey: The Mission of Art, Boulder 1998, 25.
- 5
C.G. Jung: Modern Man in Search of a Soul, Boston 1933, 155-6, 158.
- 6
William Blake: Blake’s Poetry and Designs, New York 2008, 433-4.
- 7
Eric G Wilson: The Strange World of David Lynch, New York 2007, 24.
- 8
Wilson: The Strange World of David Lynch, 35.
- 9
Claire Henry: Eraserhead, London 2023, 66. Siehe ebenfalls David Lynch: Catching the Big Fish, New York 2006, 33.
- 10
Siehe The National Gallery, Soundscapes/Past Exhibition, 2015, https://www.nationalgallery.org.uk/exhibitions/past/soundscapes, 12.6.2024
- 11
Michel Chion: David Lynch, London 1995, 38.
- 12
Chion: David Lynch, 44-5. Siehe auch Leah Toth: Beautiful, If You See it the Right Way: David Lynch and Eraserhead’s Aural Tableau of Industrial America, in: Resonance, Jg. 2, Nr. 1, 56.
- 13
Sound Mountain Collection, https://www.prosoundeffects.com/collections/sound-mountain, 12.6.2024. Bzgl. Splet siehe Liz Greene: The Labour of Breath: performing and designing breath in cinema, in: Music, Sound, and the Moving Image, Jg. 10, Nr. 2, 2016, 109-110; Liz Greene: From Noise, in: Liz Greene and Danijela Kulezic-Wilson (eds.), The Palgrave Handbook of Sound Design and Music in Screen Media, London 2016; Liz Greene: The Unbearable Lightness of Being: Alan Splet and the Dual Role of Editing Sound and Music, in: Music and the Moving Image, Jg. 4, Nr. 3, Fall 2011, 1-13.
- 14
Raine vermutet, dass Blake Porphyrs Abhandlung «On the Cave of the Nymphs» in der von Thomas Taylor übersetzten und 1788 veröffentlichten Fassung begegnete. Siehe Kathleen Raine: Blake and Tradition, Princeton 1968, 67, 75.
- 15
Kathleen Raine: The Sea of Time and Space, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Jg. 20, Nr. ¾, July-December, 1957, 319.
- 16
Raine: The Sea of Time and Space, 323.
- 17
Ibid., 318.
- 18
Homer, Übs. Emily Wilson. The Odyssey. New York 2020, 63. In der deutschen Version dieser Veröffentlichung übernahm die Redaktion die Übersetzung ins Deutsche.
- 19
Raine, The Sea of Time and Space, 319.
- 20
S. Foster Damon: A Blake Dictionary, Hanover 1988, 458. See also Raine: The Sea of Time and Space, 320.
- 21
Raine, The Sea of Time and Space, 320.
- 22
Ibid., 322, 333-4.
- 23
Die Aufnahme von «I’m Coming Virginia» (1927) von Fats Waller ist das einzige Stück des Soundtracks, das nicht aus dem Sound-Mountain-Archiv stammt.
- 24
Godwin, K. George: Eraserhead, in: Film Quarterly, Jg. 39, Nr. 1, Autumn 1985, 41.
- 25
Wilson: The Odyssey, 150.
- 26
Raine, The Sea of Time and Space, 324.
- 27
Ibid., 326.
- 28
Ibid., 327.
- 29
Ibid.
- 30
Ibid., 332.
- 31
Ibid., 321.
- 32
Ibid., 326. Siehe ebenfalls Kathleen Raine: Blake and the New Age, London 1979, 53.
- 33
Raine, The Sea of Time and Space, 325.
- 34
Ibid., 322.
- 35
Ibid., 320.
- 36
Ibid., 333-4.
- 37
William Blake: Blake’s Poetry and Designs, New York 2008, 433-4.
- 38
Raine, The Sea of Time and Space, 333-4.
- 39
Ibid.
Bevorzugte Zitationsweise
Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.