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Cover von Vera Rammelmeyer

Cover von Vera Rammelmeyer @mischen

Open-Media-Studies-Blog

Roger Odin: «Kommunikationsräume» (2019). Ein hybrides Publikationsprojekt (Teil 2)

Über die Relevanz von Roger Odin heute und die Arbeit an der Verbreitung seiner Forschung im deutschen Sprachraum

4.3.2020

«Kommunikationsräume» publizieren

Dieser Post beschäftigt sich mit dem Publikationsprozess der Übersetzung von Roger Odins Monografie Kommunikationsräume. Einführung in die Semiopragmatik, die ich gemeinsam mit Guido Kirsten, Magali Trautmann und Philipp Blum angefertigt habe. Er zeichnet die Entwicklungen nach, die das erste Übersetzungsmanuskript bis zur Erstveröffentlichung bei oa books im September 2019 durchlaufen hat. Am Ende meines ersten Posts, der über Inhalt und Übersetzungsvorgang des Buchs berichtet hat, habe ich behauptet, dass auch Publikationen einen von Odin so genannten «Kommunikationsraum»1 hervorbringen. Diese These, dass Publizieren einen Kommunikationsraum konstruiert, indem es potenziell begrenzte, diskursive Rahmungen für die Kommunikation zu einer bestimmten Thematik konstruiert und so auch institutionelle Zuordnungen schafft, möchte ich im Folgenden weiter ausführen. Hierbei wird es mir auch darum gehen, verschiedene Formen des Veröffentlichens und Zugänglichmachens wissenschaftlicher Texte anzusprechen.

Das erste Übersetzungsmanuskript von Kommunikationsräume ist vor seiner Print- und Open-Access-Veröffentlichung in unterschiedlichen Formen und Rahmungen diskutiert worden.

Workshop: «Semiopragmatik im Spiegel aktueller Forschungsthemen»

Die perspektivische Heterogenität, die dem Werk durch unser Übersetzer_innen-Team zu Teil wurde, bedingte beispielsweise die Entscheidung, den ersten Entwurf der Übersetzung zunächst in dem Workshop «Kommunikationsräume: Roger Odin und der semiopragmatische Ansatz» (Organisation: Robert Dörre, Oliver Fahle, Leonie Zilch) im Dezember 2018 mit einem breiteren Kreis an Interessierten zu diskutieren. Die thematische Kontextualisierung am Austragungsort, im Graduiertenkolleg «Das Dokumentarische. Exzess und Entzug» in Bochum, fokussierte sich erst auf dokumentarisches Filmmaterial – beziehungsweise auf den zugehörigen Diskurs, in dem die Semiopragmatik in Deutschland bislang am stärksten rezipiert wurde.2 Mit der thematischen Breite der Vorträge zwischen der Historizität der Semiopragmatik, begrifflichen Justierungen zu etwa Fiktionalität und Erfahrung und der Anwendung auf aktuelle Medienphänomene wie Selfie-Filme oder Pornografie war schließlich erneut erwiesen, in wie vielen Diskursen Kommunikationsräume Anschluss finden kann.

In dieser Verbindung von Kommunikationsräume mit Forschungsäquivalenzen, mit Kontextualisierungen und mit Material wurde Odins Buch während des Workshops selbst zum Motor eines neuen Kommunikationsraums, der sich als «Semiopragmatik im Spiegel aktueller Forschungsthemen» titulieren ließe. Das Workshop-Format der Veranstaltung exemplifizierte, wie forschungsbedingte Zusammenkünfte unter Hinzunahme einer gemeinsamen Diskussionsbasis ein thematisch eingegrenztes diskursives Feld eröffnen, das sowohl die Verknüpfung von heterogenen Forschungsperspektiven zulässt, als auch die Anschlussfähigkeit disziplinspezifischer Thesen multiperspektivisch evaluiert. Auch deshalb kann die Semiopragmatik als Methode gelten: Weil sie eine gemeinsame Basis schafft, mittels der die theoretischen Grundlagen durch planmäßige und regelgeleitete Anwendung darauf zielen, Erkenntnisse zu gewinnen. In der gemeinsamen Diskussion in Bochum konnte nicht nur entlang der gemeinsamen Textgrundlage argumentiert werden, sondern ebenso konnten Möglichkeitsräume, Grenzen und Potenzial des semiopragmatischen Ansatzes diskutiert werden, die letztlich auf die Konzeption der Übersetzung Einfluss nahmen und Problembereiche des Sprachtransfers aufzeigten.

Ganz im Sinne von Odins Konzept von Kommunikationsraum und seinen Überlegungen, wie dieser in der Forschung angewandt werden kann, erschafft das Buch selbst die Rahmenbedingungen einer thematisch, historisch, ästhetisch und kontextuell begrenzten Diskursivität, die implizit dazu auffordert, beforschte Phänomene und Begriffe in temporären Kommunikationsräumen zu versammeln und so Forschung selbst zu einem Kommunikationsraum werden zu lassen.

Die paratextuelle Rahmung von «Kommunikationsräume»

Aus dem Workshop heraus entwickelte sich auch die Notwendigkeit, dem Text Odins eine kontextuelle Rahmung anzugliedern: Die Publikation ist mit einer thematischen Einleitung von Guido Kirsten und Frank Kessler, einem Übersetzer_innen-Vorwort und einem Nachwort von Roger Odin selbst versehen. Im Sinne von Forschung als Kommunikationsraum bilden diese Texte die «diskursiven Introdukteure»3 (die Vor- und Abspann-Äquivalenzen zum Film), die den Text umgeben und für die Rezeption metatheoretisieren.

Die Einleitung mit dem Titel «‹Ein Denken, das noch auf der Suche ist›. Grundzüge und Geschichte der Semiopragmatik» fußt auf dem Workshop-Vortrag von Frank Kessler. Sie ist – anders als das Übersetzer_innen-Vorwort, das auf formelle und übersetzungsbedingte Justierungen im Text verweist – ein Ausrufezeichen, eine Leseanweisung für den eigentlichen Text. Sie sensibilisiert die Leser_innen des Buches für etwaige begriffliche und konzeptionelle Unschärfen und leistet die historische wie theoretische Verortung von Odins Ansatz, indem sie unter Hinzunahme seiner anderen Schriften eine Diskurshistorie der Semiopragmatik konstruiert. Kirsten und Kessler erläutern die Semiopragmatik als «Work-in-Progress»4 , die mit Odins Habilitation 1982 beginnt und bis heute nicht abgeschlossen ist. Sie rekonstruieren das Forschungsumfeld von Odin, der Christian Metz als wichtigsten seiner Lehrer betrachtet hat und in dessen semiologischem Gedankengut die Semiopragmatik stets verhaftet bleibt, obwohl sich die Grundprämisse der Verzahnung von Semiotischem und Pragmatischem diesem Ansatz eigentlich verweigern müsste. Die Autoren mahnen zur Vorsicht im Umgang mit dem Begriff des «Zuschauers» bei Odin, der stets nicht als empirische, sondern als «konstruierte Entität» auftaucht, sie zeigen auf, inwiefern sich die Vielzahl an Lektüremodi, die Odin im Laufe der Jahre entworfen hat, begrifflich gewandelt haben, welche Modi dazugekommen, welche weggefallen sind und warum. Ähnlich detektivisch rekonstruieren sie Odins Arbeit am Begriff der mise en phase, dessen Bedeutung Odin zwischen der ersten Erwähnung 1983 und den späteren Publikationen mehrfach umgeschrieben hat.

Auf dieselbe Weise justierend und ergänzend hat Roger Odin selbst sein speziell für diese deutsche Übersetzung verfasstes Nachwort konzipiert. In seinem Text blickt er zurück auf Les espaces de communication als Einführungsband zur Semiopragmatik und berichtet über spätere Fortentwicklungen der Thesen, die er selbst und andere vorgenommen haben. Im Anschluss an neue Gegenstandsbereiche wie «Videoclips, Webserien, Interfaces, interaktive Dokumentarfilme, Autobiografien, Tonmontage, Tanz, Malerei, Gesang, digitale Bücher oder Lehrbücher»5 erweitert er das Konzept des Kommunikationsraums in die Richtung eines (tatsächlich existenten oder erträumten) «mentalen Raums»6 und diskutiert, in welchem Verhältnis mentale und reale Räume zueinander stehen. Odin gliedert der Liste seiner Lektüremodi den Making of-Modus als Fokussierung auf technische Fertigkeiten des Films während der Rezeption an und diskutiert neue Modi-Vorschläge anderer Autor_innen – wie und ob etwa der Pastiche-Modus oder Interaktivität als Modus Sinn ergäben. Odins Nachwort fungiert als Ermutigung an junge Wissenschaftler_innen, sich an den Instrumenten der Semiopragmatik zu bedienen und so das Modell zu transferieren, zu transponieren und vielfältig auszutesten.

Einleitung, Vorwort und Nachwort als verschiedene Paratexte der Publikation dienen damit als kommunikationsräumliche Begrenzung und Verortung: Indem sie Weichen für die Buchlektüre stellen, metatheoretisieren, auf begriffliche Unschärfen hinweisen und Möglichkeitsfelder benennen, fungieren sie gleichsam als erweitertes Netzwerk aus Diskursen.

Publikation und Erweiterung des Kommunikationsraums

Wenn also der Odins Buch implizite Diskurs selbst als Eröffnung eines Kommunikationsraums fungiert (weil dieser Forschungsthemen in einem thematisch begrenzten Umfeld versammelt, das wie hier in Form von Tagungen institutionell fundiert wird und somit Bedeutung schafft), muss auch die Herausgabe der Publikation als Positionierung der Forschung in verschiedenen Kommunikationsräumen reflektiert werden. Sarah-Mai Dang hat erst kürzlich in ihrem Blogpost «Forschung Kommunizieren. Verlage, Repositorien, Open Access» darauf hingewiesen: So wie eine geplante Publikation sich inhaltlich in ihrem diskursiven Feld positioniert, so ist auch der Prozess ihrer Veröffentlichung selbst explizit in intentionale Strukturen und Bedeutungshorizonte eingebunden.

So wie es Übersetzungen anstreben, fremdsprachige Inhalte zugänglicher zu gestalten, so stellte sich entsprechend auch bei der Wahl des Verlags für Kommunikationsräume die Frage, wie sich eine Übersetzungsarbeit möglichst zugänglich gestalten lässt: Ist dafür eine digitale Open-Access-Publikation sinnvoller als eine Print-Veröffentlichung? Und: Wäre ein Hybrid aus beiden Formen denkbar, das sowohl eine digitale als auch eine gedruckte Buchform ermöglicht, das aber kostentechnisch weiterhin erschwinglich bleibt und sich zudem für die Beteiligten finanziell auszahlt? Mit solch immensen Anforderungen erweiterte sich der Kommunikationsraum unserer Übersetzung in das thematische Feld von medien- und kulturwissenschaftlichen Publikationsstrategien.

In Zusammenarbeit mit Sarah-Mai Dang und ihrem Open-Access-Verlag oa books wurde es zum Ziel, Odins inhaltliche Vorstellung von der Semiopragmatik als stets offenes Projekt auch in der Publikationsweise umzusetzen: Kommunikationsräume ist als hybride Publikation strukturiert: das Buch ist sowohl kostenfrei Open Access als auch als Print-on-Demand für einen Preis von 18,90 € (Softcover) bzw. 24,90 € (Hardcover) online bestellbar. Weil das Buch damit sowohl eine ISBN als auch eine DOI besitzt, ist es einfacher auffindbar und mithin auf kostenfreien Textplattformen wie MediArXiv und media/rep nachhaltig archiviert. Selbst im Buchsatz wurde Wert auf eine zeitgemäße Visualität gelegt, indem beispielsweise die Buchstabeninnenräume durch das Grafikdesign von Vera Rammelmeyer (mischen) auf eine bessere Lesbarkeit auf Bildschirmen hin konzipiert wurden.

Dass Kommunikationsräume damit nicht in einem herkömmlichen Verlag erscheint, birgt etwa das Risiko der ausbleibenden Bewerbung durch den Verlag sowie das Fehlen des Renommees, das mit einer Publikation in namhaften Verlagen einhergeht. Die Bewerbung des Buches, etwa auf Social-Media-Plattformen, bleibt damit, so wie die Arbeit an der Fertigstellung der Druckfassung, allein bei den Übersetzer_innen und den Verleger_innen. Zugegebenermaßen erscheint das Projekt so als nahezu altruistische Arbeit, deren finanzieller Aufwand – der privat getragen werden muss – sich lediglich mit dem Verkauf der Printexemplare kompensieren lässt. Jenseits dieses Bewusstseins bleibt es allerdings Befriedigung genug, Material egalitär zugänglich gemacht zu haben und zur Bekanntheit der Semiopragmatik im deutschen Sprachraum beigetragen zu haben.

Die Frage, die sich daran anschließend jedoch stellen ließe, wäre jene nach dem Funktionieren von Theoriearbeit heute: In einer Zeit, in der fachwissenschaftliche Buchprojekte zumeist ohnehin kaum finanzielle Gewinne für die Autor_innen, Übersetzer_innen und Herausgeber_innen einbringen, und in der der Wunsch nach digitaler Zugänglichkeit sich mit den technischen Möglichkeiten paart, welche Online-Publikationen bieten – zum Beispiel hinsichtlich der Veröffentlichung anderer Formate wie Datenbanken oder der Einbindung von audiovisuellem Beispielmaterial in den Text. Es wird die Frage zu stellen sein, in welcher Form Wissen zugänglich gemacht werden sollte und wie diese neue Modellierung der Veröffentlichung als ‹Quasi-Ehrenamt› mit der Prekarität von wissenschaftlichen Stellensituationen überhaupt zusammengebracht werden kann.

Jenseits dieser Problematiken jedoch erscheint die hybride Struktur, in der sich Kommunikationsräume während seiner Entstehung und auch jetzt, nach seiner Veröffentlichung, positioniert, als offener diskursiver Rahmen Früchte zu tragen: Mittels einer kommentierten Bibliografie der gesammelten Publikationen, die Hans-Jürgen Wulff erstellt und verfügbar gemacht hat und die auf der Seite von oa books direkt verlinkt ist, werden online zum Buch auch Materialien zum Weiterarbeiten zur Verfügung gestellt. Auch die Präsentation des Buches auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft in Köln im September 2019, auf der insbesondere die Problematiken verschiedener Publikationsformen thematisiert wurden, schließt an diese diskursive Vernetzung von Kommunikationsräume ein. Dass der Publikation (auch international) Aufmerksamkeit zu Teil wird, ist darüber hinaus an den Klickzahlen zu bemerken und daran, dass die nächste Veranstaltung zu Roger Odins Semiopragmatik bereits in Planung ist: Die von Julien Péquignot und Jean-Michel Denizart für Juli 2020 an der Université de Toulon geplante Tagung «États et perspectives de la sémio-pragmatique dans les recherches sur le cinéma, l’audiovisuel et les nouveaux espaces de communication», ist auf die Publikation aufmerksam geworden und hat die Beteiligten eingeladen, teilzunehmen.

So lässt sich vor allem feststellen, dass die Retrospektivität, die Roger Odin jedem Kommunikationsraum dadurch zuweist, dass seine Konstruktion mit Blick auf eine diskursive und institutionelle Diskursbeschränkung und -segmentierung vorgenommen werden soll, aufgegeben werden kann, wenn es darum geht, aktuelle Kommunikationsräume zu konstruieren und zu inspizieren. So wie jeder Forschungsrahmen den Blick ins Heute wahren muss, so kann auch Kommunikationsräume in all seinen verschiedenen Facetten als offene Struktur beschrieben werden, die weit darüber hinausgeht, einfach eine Übersetzung anzufertigen.

Für konstruktive Anmerkungen möchte ich herzlich Sarah-Mai Dang und Guido Kirsten danken.

  • 1Um auch hier den argumentativen Anschluss zum ersten Teil des Beitrags zu wahren: Als «Kommunikationsraum» bezeichnet Roger Odin «ein[en] Raum, der durch ein Bündel an Bedingungen bestimmt ist, das die Aktanten (E) und (R) dazu treibt, Bedeutung entlang derselben Achse der Relevanz zu produzieren», vgl. Odin: Kommunikationsräume, 63f. Zur inhaltlichen Konkretisierung bietet sich der erste Teil des Posts an.
  • 2Vgl. Roger Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Christa Blümlinger (Hg.): Sprung im Spiegel: Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien 1990 [frz. 1984], 125–146.
  • 3Vgl. Odin: Kommunikationsräume, 188.
  • 4Ebd., 13.
  • 5Ebd., 187.
  • 6Ebd.

Bevorzugte Zitationsweise

Mücke, Laura Katharina: Roger Odin: «Kommunikationsräume» (2019). Ein hybrides Publikationsprojekt (Teil 2). Über die Relevanz von Roger Odin heute und die Arbeit an der Verbreitung seiner Forschung im deutschen Sprachraum. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/roger-odin-kommunikationsraeume-2019-ein-hybrides-publikationsprojekt-teil-2.

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