Roger Odin: «Kommunikationsräume» (2019). Ein hybrides Publikationsprojekt (Teil 1)
Über die Relevanz von Roger Odin heute und die Arbeit an der Verbreitung seiner Forschung im deutschen Sprachraum
Warum «Kommunikationsräume»?
Am Anfang stand die Verwunderung darüber, dass es von Roger Odin nur wenige auf Deutsch oder Englisch übersetzte Artikel und keine einzige übersetzte Monografie gibt. Gewahr, dass Französisch als Fremdsprache in den Geisteswissenschaften kaum noch als Voraussetzung gelten kann, wurde aus der Verwunderung eine gemeinsame Übersetzung, die das Ziel verfolgte, Odins langjährige Arbeit an der Semiopragmatik für die deutschsprachige Filmwissenschaft zugänglich zu machen. Aus dem Keim dieser Idee von Guido Kirsten, dem Hinzukommen von Magali Trautmann, Philipp Blum und mir als Übersetzer_innen wurde schließlich ein größeres Projekt, in das nicht nur der für seine Historische Pragmatik bekannte Frank Kessler, sondern auch Roger Odin selbst, das Graduiertenkolleg «Das Dokumentarische. Exzess und Entzug» der Ruhr-Universität Bochum und schließlich der Diskurs um Open Access-Publikationen unter Federführung von Sarah-Mai Dang involviert waren.
Gerade weil die Übersetzung damit als mehrschichtiges Wissens-Konglomerat bezeichnet werden kann, lohnt es sich, die Entwicklungsgeschichte der Publikation, die erst kürzlich (im September 2019) bei oa books erschienen ist, genauer zu betrachten. Denn das Projekt spiegelt in seiner Vielgliedrigkeit und multimodalen Struktur nicht nur das Fach Filmwissenschaft als Forschungs- und Publikationsplattform. Ebenso interessant ist, dass sich auch im Prozess des Publizierens die von Odin in Kommunikationsräume geäußerte Notwendigkeit, in kommunikative Prozesse stets deren «Kontexte» einzubeziehen, finden lässt. Auch Publizieren ist Kommunikation. Meine hiesigen Ausführungen bilden den ersten Teil eines zweiteiligen Posts. Während sich dieser erste Teil stärker mit Inhalt und Übersetzung von Roger Odins aktuellster Monografie beschäftigt, berichtet der zweite Teil des Beitrags in direkter argumentativer Fortsetzung vom Publikationsprozess der Übersetzung.
«Kommunikationsräume» – Lassen sich Film und Zuschauer_in zusammen analysieren?
Roger Odin begann bereits in den frühen 1980er Jahren damit, seine Semiopragmatik im Alleingang zu entwickeln. In seiner Monografie Kommunikationsräume von 2011, die den Untertitel Einführung in die Semiopragmatik trägt, beschreibt er zusammenführend seine jahrzehntelange Suche nach dem analytischen Zusammengehen von dem Filmtext immanenten Bedeutungsstrukturen mit den vielfältigen pragmatischen Rahmungen des Werks. In steter Treue zur Forschungstradition von Christian Metz und der Semiologie zielt Odin darauf, die quasi-kommunikationswissenschaftliche Fragestellung nach dem Funktionieren und Nicht-Funktionieren von Kommunikation und dessen Bedingungen im Rahmen eines filmanalytischen Zugriffs auszuloten. Die Semiopragmatik fußt im Grunde auf dem einfachen Kommunikationsmodell des Herstellens einer kommunikativen Beziehung zwischen medialem Senden und rezeptiven Empfangen.
Odins Differenzierung verschiedener Lektüremodi, die proaktiv und/oder werkgesteuert auf filmische Werke angewandt werden können, analysiert dabei, welche Verstrickungen sich bei den Zuschauer_innen mit dem jeweiligen Film ergeben können: Entscheiden zu können, ob beim Blick auf einen zunächst völlig unbekannten Film von Zuschauenden erkannt wird, dass der Film als fiktionales oder dokumentarisches Werk verstanden werden sollte, ist entsprechend gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass Filme auch per se als Pastiche gelesen oder in einem ästhetischen Modus konstruiert werden können.1
Odins spezifischer Blick auf die verstehensbasierte Transzendenz des Familienfilms zwischen narrativer, affektivenr und historisierender Perspektive erweist dabei, wie anschlussfähig die Semiopragmatik gerade dort ist, wo Filme Migrationen in verschiedene Dispositive und Rezeptionsweisen vollzogen haben. Im Heute des fehlenden technischen Wissens um digitale Prozessualität hinter filmischen Verfahren2 erscheint damit die Aussage von Christian Metz, «Gerade weil der Film leicht zu verstehen ist, ist er so schwer zu erklären»3 aktueller denn je. Wenn in jedes Bewegtbild eine Vielzahl an Lesarten und damit eine unendliche Vielzahl an Bedeutungsstrukturen hineingelesen werden kann, so ist die einzige mögliche Spielart, dieser Heterogenität zu begegnen, die, das rezipierende Subjekt selbst im Vorgang der Bedeutungserzeugung zu untersuchen.
Odin nimmt diese Idee bemerkenswert ernst. Im ersten Kapitel von Kommunikationsräume verfolgt er diesen Gedanken in seine Grundprämissen zurück: Er sucht nach den «universellen Bedingungen» von Kommunikation, die allen Menschen gleichsam innewohnen, und benennt als einzige Gemeinsamkeit das (auch kognitivistisch begründbare) Bedürfnis nach Narration – denn als narratives Gefüge würden Informationen langanhaltender im Gehirn gespeichert. Diese Neugier, Dingen auf ihren Grund zu gehen, zeichnet Odin als Rezeptionsforscher gegenüber jenen Theoretiker_innen aus, welche die Anzahl der Einflussfaktoren auf das Individuum als zu umfangreich empfinden, um aus ihnen wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und deshalb eine ernsthafte Beschäftigung mit der pragmatischen Dimension des Films ausklammern. In seiner Art, nicht nur das Werk, sondern auch die Rezipient_innen ernst zu nehmen, extrahiert Odin im dritten Kapitel seines Buchs dann erstaunlich aktuelle Diskurse wie jenen um die Kolonialisierung von Kunst, indem er beispielsweise beschreibt, dass «in dem aktuellen Prozess der ‹Distinktion› bei Sammlern primitiver Kunst [die Tendenz bestünde, L.K.M.], gerade die Abwesenheit eines Eigennamens aufzuwerten.»4
Sein Ansatz verbleibt bewusst heuristisch, indem Odin sich situative Einzelfallanalysen vornimmt: Er analysiert seinen eigenen Besuch in einem Pariser Café, in dem er sich die 17. Etappe der Tour de France 2010 ansieht; die Forschungsarbeit eines Wissenschaftler_innen-Teams an der Université de Paris VIII zu dem Film Muriel ou le temps d'un retour (Regie: Alain Resnais, F 1963) in den Jahren 1969 bis 1972 und die als Buch publizierte Lektüre eines Gemäldes von Tizian, Die Familie Vendramin vor der Kreuzreliquie (1543-1547), durch Patricia Fortini Brown. Seine methodologische Unbesorgtheit demonstriert Odin, indem er sich – ungeachtet der Übertragungsproblematiken – interdisziplinärer Konzepte aus etwa «Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neurobiologie, Künstliche Intelligenz, Kognitionspsychologie»5 bedient und mithin betont, dass er eine empirische Prüfung seiner Thesen als sinnvoll erachte, womit die Semiopragmatik auch für die Diskussion um digitale Methoden anschlussfähig erscheint.
Odins Semiopragmatik ist in dieser Perspektive für eine Vielzahl an wissenschaftlichen Zugriffen fruchtbar: Sein Modell der Filmrezeption als Kommunikationsprozess ist nicht nur ein theoretischer Zugriff auf Film. Mit seiner Zusammenstellung der verschiedenen Prozesse, die im filmkommunikativen Prozess wirken, wird Kommunikationsräume zur multimodalen Toolbox für eine Film- als Repräsentationsanalyse. Im Rekurs auf aktuelle Methodenfragen der Film- und Medienwissenschaft ist Odins Arbeit und Modellbildung ein sehr konkreter Beitrag dazu, wie Filme als kulturelle Praxen und eingebunden in institutionelle Netzwerke analysiert werden können.
Mit dem Begriff des «Kommunikationsraums» hat Odin vorgeschlagen, wie man Beschränkungen für Forschungsansätze festlegen kann. Einen Kommunikationsraum zu konstruieren, meint gemäß Odin, ein konkretes Forschungsfeld zu rahmen, um Sinn- und Affektproduktionen in diesem konkreten Gegenstandsbereich beschreiben zu können: «Ein Kommunikationsraum ist ein Raum, der durch ein Bündel an Bedingungen bestimmt ist, das die Aktanten (E) und (R) dazu treibt, Bedeutung entlang derselben Achse der Relevanz zu produzieren»6. Gewinnbringend ist dieser Ansatz nicht nur in seiner Konkretheit, sondern auch, weil, wie Odin in seinem Nachwort schreibt, Subjekte grundlegend als ein Sammelsurium solcher Kommunikationsräume existieren7 und wir auf diese Weise uns selbst als Teil kommunikativer Prozesse begreifen lernen.
Kommunikationsräume übersetzen im Jahr 2019
Entsprechend ‹kommunikationsräumlich› erschien auch die Übersetzungsarbeit als historische Rekonstruktion des «Kommunikationsraums» von Kommunikationsräume, weil das Buch im Übersetzungsprozess dafür sorgte, dass wir Odins Forschungsspuren zeitlich zurück verfolgten. Übersetzung, so wurden wir überzeugt, beruht mitnichten lediglich auf der Übertragung eines textuellen Sinngehalts von einer Sprache in die andere, sondern ist stets mit der Rekonstruktion des Forschungskontexts des Originals verbunden. Die Suche nach im Werk zitierten Quellen etwa führte in verschiedene Bibliotheken, was deutlich machte, in wie vielen Disziplinen und Epochen Odin Anregungen für seine Arbeit gefunden hat. Eine Diskrepanz blieb hingegen spürbar: Zwischen der sich mehrheitlich in den 1970er und 1980er Jahren bewegenden und bis maximal Anfang der 00er Jahre reichenden (und damit ggf. veraltet erscheinenden) Literatur, die Odin in Kommunikationsräume verwendet, und der Perspektive, mit der wir als Übersetzer_innen auf das eigentlich gar nicht veraltete Buch blickten, das Odin als Projekt bereits in den 1980er Jahren angekündigt, aber erst 2011 realisiert hat.
So fiel uns die Entscheidung schwer, die geschlechterspezifische Angleichung des generischen Maskulinum nicht vorzunehmen, um Odin in seinem Schreibstil und seinen heuristischen Funktionsbegriffen, die sich jenseits von spezifischen empirischen Subjektkonstitutionen bewegen, treu zu bleiben. Auch in den häufigen Auslassungspunkten des Originaltexts ließen sich Spuren von Odins Denkvorgängen finden. ‹Inwieweit diese Odin'schen Spuren in der Übersetzung beibehalten?›, war nur eine der Fragen, die wir uns stellten, und mehr noch: die uns gleichsam dazu anregten, über verschiedene wissenschaftliche Schreibstile und deren mögliche generationsbedingte Prägung nachzudenken – Fragen, die uns stets ins Gedächtnis riefen, wie sehr wir als Übersetzer_innen und gleichsam Forscher_innen im Jetzt unserer eigenen wissenschaftlichen Existenz verankert bleiben. So ist mit Sicherheit auch unsere individuelle wissenschaftliche Prägung implizit in die Übersetzung eingeflossen. Dass für diese quasi ein Hybrid aus vier verschiedenen Übersetzungsweisen geschmolzen wurde, empfanden wir bezüglich der Vielfalt der Perspektiven als gewinnbringend.
Der Frage, inwiefern somit auch eine Publikation Teil eines Kommunikationsraums wird – diesen sogar möglicherweise erst bedingt, indem ein Text beispielsweise neu abgedruckt oder in eine andere Sprache übersetzt wird – gehe ich im zweiten Teil dieses Beitrags nach, der sich den vielseitigen Prozessen widmet, die Kommunikationsräume nach der ersten Manuskriptlegung vollzogen hat. Dieser zweite Teil bietet somit zugleich einen Kommentar zur aktuellen Situation des Publizierens in der (Geistes-)Wissenschaft.
Für konstruktive Anmerkungen möchte ich herzlich Sarah-Mai Dang und Guido Kirsten danken.
- 1Vgl. Roger Odin: Kommunikationsräume. Einführung in die Semiopragmatik, Übers. & Hg. v. Guido Kirsten, Magali Trautmann, Philipp Blum und Laura Katharina Mücke, Berlin 2019 [frz. 2011], 93.
- 2Beispielsweise auf dem Smartphone, vgl. Nils Röller: Zeitlichkeit aktualisiert. Trost der Philosophie auf dem Smartphone, in: Oliver Ruf (Hg.): Smartphone-Ästhetik. Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien, Bielefeld 2018, 47–62.
- 3Vgl. Christian Metz: Semiologie des Films, Übers. v. Renate Koch, München 1972 [frz. 1968], 101.
- 4Vgl. Odin: Kommunikationsräume, 103f.
- 5Vgl. Ebd., 51.
- 6Vgl. Ebd., 63f.
- 7Vgl. Ebd., 187.
Bevorzugte Zitationsweise
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