Potentiale und Grenzen von Open Educational Resources (OER): Diskutiert am Beispiel von zwei Kursen im Bereich der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (Teil 1)
Maike Sarah Reinerth, Isabel Collien und Inga Nüthen zur Medialität von OER: Digital ist besser?!
Der Begriff Open Educational Resources (OER) bezieht sich auf offene Lehr- und Lernmaterialien in verschiedenen Medienformaten. Dennoch bilden digitale Lernangebote aktuell das Zentrum der OER-Diskussion. Dabei ist das Internet als Ort digitaler Bildungsressourcen kein homogenes Einzelmedium: Begriffe wie «Multimedium»1 oder «Hybridmedium»2 bringen zum Ausdruck, dass im Netz unterschiedliche mediale Ausdrucksformen – Bilder, Filme, Texte, Musik, gesprochene Sprache – in Kombination existieren, die auf unterschiedlichen Endgeräten genutzt werden können. Das Internet ist zudem partizipativ und seine Inhalte und Nutzungsformen unterliegen ständigen, kaum vorhersehbaren Veränderungen. Schließlich sind mit ihm gesellschaftspolitische Hoffnungen verbunden, zugleich werden dort aber auch hochgradig kommerzielle Interessen verfolgt.
Mit dieser technischen, ästhetischen und verwendungsspezifischen Vielfalt sind auch diverse Anforderungen an die Gestaltung und den Gebrauch von Angeboten im Netz verbunden. Ein Problem der Produktion und des Einsatzes von digitalen OER besteht in der vielfach fehlenden Auseinandersetzung der Produzierenden und Nutzenden mit diesen medialen Voraussetzungen. Wir stellen hier die Medialität von OER in den Mittelpunkt und gehen – aus der Sicht von OER-Gestaltenden – insbesondere auf folgende Fragen ein: Was bedeutet Medialität für OER? Können OER tatsächlich als rein digitale Lehrangebote behandelt werden? Und: Welche konkreten Herausforderungen für die Gestaltung ergeben sich aus der Medialität von OER?
Mit digitalen Medien gesellschaftskritisch bilden?!
OER werden im Hochschulkontext häufig von fachlich hoch qualifizierten Wissenschaftler_innen entwickelt. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass diese mit Methoden der digitalen Wissensvermittlung vertraut sind. Dafür gibt es mehrere Gründe: Computergestützte Lernformen sind zwar Teil der Mediendidaktik, allerdings ist der Kompetenzerwerb in diesem Bereich nicht einmal in den Lehramtsstudiengängen verankert und Hochschullehrende benötigen häufig gar keine formale didaktische Qualifikation. Eine digitale Mediendidaktik im engeren Sinn existiert bisher nicht und je nach Begriffsverständnis umfasst die Mediendidaktik unterschiedliche Gegenstandsbereiche.3 Gleichzeitig benötigen E-Learning-Angebote «eine noch präzisere – und zeitaufwendigere – didaktische Planung»4, was unter anderem daraus resultiert, dass Lehrende nicht unmittelbar und spontan auf Fragen und Probleme reagieren können. Neben der didaktischen Medienforschung hätte auch die Medienwissenschaft einiges zum Diskurs um medienvermittelte Bildung beizutragen. Sie hat sich nach Selbstaussage der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) bislang jedoch in «vornehme[r] Zurückhaltung […] gegenüber Fragen zu Bildung, Schule und Unterricht geübt».5
Die Frage, wie Medien Bedeutung erzeugen und Wissen produzieren, wird in Mediendidaktikforschung und Medienwissenschaft zudem unterschiedlich beantwortet. Der Mediendidaktiker Michael Kerres versteht Medien primär als Träger von Informationen und misst ihnen kaum Bedeutung für den Lernerfolg zu.6 In der Medienwissenschaft hingegen wird schon die Art und Weise, wie Medien bildlich, schriftlich und akustisch Informationen kommunizieren, als bedeutungsbildend aufgefasst.7 Hier gelten Medien als soziale Realitäten erschaffend und damit in übergeordneter Weise sinnstiftend: «‹the medium is the message› because it is the medium that shapes and controls the scale and form of human association and action».8
Unserer Ansicht nach sollte insbesondere dieser zweite, bedeutungsbildende Aspekt in der Diskussion um OER und digitale Mediendidaktik eine größere Rolle spielen. Denn: Wenn Bildungsressourcen im Internet angeboten werden, beeinflussen dessen komplexe und teils noch gar nicht bekannte Charakteristika auch unser Verständnis von Bildung – im Kern also Fragen danach, wie, wo und mit wem wir lernen und Wissen teilen wollen. Die Hoffnung auf das emanzipatorische Potenzial offener Inhalte ist dabei geknüpft an das Ideal vom Internet als «demokratische, von Eigentumsverhältnissen unabhängige Netzstruktur»9. Dieses ist allerdings selbst Utopie (siehe Teil 2) und bildet zumindest gegenwärtig nur einen kleinen Teil der tatsächlichen ökonomischen Rahmenbedingungen ab. OER-Produzierende sollten daher die Positionierung ihrer Bildungsressourcen im Internet in seiner Gesamtheit reflektieren. Dazu gehören Fragen danach, wie sich OER von kommerziellen Angeboten abheben, welche Zielgruppen sie adressieren und innerhalb welcher Kontexte Materialien platziert und beworben werden (z. B. über soziale Netzwerke, die zwar enorme Reichweiten versprechen, allerdings kommerziell agieren). Weiterhin stellen OER die sozialen Realitäten her, die sie beschreiben. Dieser Aspekt ist besonders bei Lernangeboten mit stark gesellschaftspolitischem Bezug bedeutsam (z.B. OER «Was ist Gender?»). Erklärfilme sind beispielsweise hilfreich, um pointiert Inhalte zu veranschaulichen. Gleichzeitig greifen die Filmschaffenden dabei oft un/bewusst auf ein kollektives Bildrepertoire zurück, welches stereotype Vorstellungen von Geschlecht, Be_hinderung oder Ethnizität enthält. In der Auseinandersetzung mit diskriminierenden Darstellungsformen stellt sich auch die Frage, ob diese zur Veranschaulichung reproduziert werden müssen bzw. welche kreativen Möglichkeiten, aber auch Grenzen der medialen Kommentierung und Analyse es gibt, um Beispiele für den didaktischen Kontext kritisch-reflexiv und diskriminierungsarm aufzuarbeiten. OER zu Gender und Diversity stehen folglich in besonderer Weise vor der Herausforderung, ihre formulierten Prinzipien der Inklusion, (Chancen-)Gerechtigkeit und Barrierearmut in ihrer didaktischen Konzeption wie auch der Gestaltung ihrer Medien und Inhalte einzulösen, ohne sich damit selbst zu behindern (siehe Teil 2).
Gestaltung und Einsatz von Medien gesellschaftskritisch reflektieren
OER bieten die Möglichkeit, verschiedene mediale Formen miteinander zu verbinden, daraus entsteht allerdings kein automatischer Mehrwert.10 Die grundsätzliche Multimedialität und Interaktivität des Internets ist nicht gleichbedeutend mit einer sinnvollen Medienauswahl, sondern eine Herausforderung, für die es bisher kaum Leitfäden gibt. Zentrale Gründe dafür sind, dass OER inhaltlich die Bandbreite der vorhandenen Disziplinen abdecken und ganz unterschiedliche Zielgruppen adressieren können, Lernen aber situativ, also u. a. in Abhängigkeit von diesen Faktoren, erfolgt.11 Hinzu kommen spezifische Anforderungen an das Design, mit dem OER funktional und ästhetisch an existierende Nutzungsformen des Netzes angepasst werden können, das aber zugleich nicht jedem Trend hinterherlaufen sollte, um nicht gleich wieder ‹out› zu sein.
In einer Handreichung der Hamburg Open Online University (HOOU) empfehlen Mirjam Bretschneider und Sarah Remane Anfänger_innen entsprechend, sich zunächst mit zwei Fragen auseinanderzusetzen: «Welche Medien nutzen Sie/planen Sie zu nutzen?» und «Warum haben Sie sich dafür entschieden?»12 Anschließend geben sie einen hilfreichen Überblick medienbezogener lernpsychologischer Positionen. Die zentrale Frage, was letztlich die «sinnvolle Auswahl und ggf. Kombination von Medien»13 ausmacht, müssen OER-Produzierende allerdings im Hinblick auf Inhalte, Lernziele und Zielgruppe selbst beantworten. Um qualitativ hochwertige Bildungsressourcen zu erstellen, sollten sie für diese zentralen Fragestellungen sensibilisiert sein (mehr zu unbewussten Bildungshaltungen von Lehrende in Teil 2).
Von dem Personenkreis, der mit einer OER angesprochen wird, hängen auch Fragen nach der Durchdringungstiefe der Inhalte ab: Geht es um die erste Auseinandersetzung mit einer Thematik (wie in der OER «Was ist Gender?») oder können bestimmte Kenntnisse vorausgesetzt werden? So adressiert die OER «Diversify!» Lernende, die mit den Grundlagen der Mediengestaltung und -analyse vertraut sind, sich aber wenig mit gender- und diversityspezifischen Themen auseinandergesetzt haben. Hier gilt es, einen Mittelweg zwischen wissenschaftlichem Anspruch und pragmatischer Anwendungsorientierung zu finden. Welches Hintergrundwissen benötigt beispielsweise ein_e Dokumentarfilmer_in oder ein_e Grafiker_in, um das eigene Handeln kritisch zu reflektieren? Personen mit unterschiedlichem Vorwissen können weiterhin verschiedene Angebote innerhalb einer OER gemacht werden. Diese Strategie muss allerdings transparent sein, etwa durch spezifisch gekennzeichnete Lernpfade oder nicht konsekutive Verläufe. Die HOOU verfolgt das Ziel, den Erkenntnistransfer zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu fördern und akademisches Wissen jenseits klassischer Bildungseinrichtungen zu vermitteln. Gerade in OER mit einer potenziell großen Reichweite ist es allerdings notwendig, spezifische Zielgruppen zu definieren – denn die von der HOOU angesprochenen Bürgerinnen und Bürger sind keine homogene Gruppe und verfolgen, anders als Hochschul- oder Schulgemeinschaften, auch nicht unbedingt ähnliche Lern- und Qualifikationsziele. Grundsätzlich ist zu klären, ob eher medien- und technikaffine Personen angesprochen werden sollen (wie mit der OER «Diversify!»), für die aufwändiges Design und professionell produzierte Medien ein Attraktivitätsfaktor sein können. Oder stehen Ungeübte im Fokus, für die z. B. ausführlichere Informationen zur Navigation bereitgestellt werden müssen? Offenere Lernverläufe erfordern nachweislich ein höheres Maß an Selbstorganisation beim Lernen, welches auch je nach sozialer Herkunft variiert (siehe Teil 2).
Einstellungen und Vorurteile in digitalen Lernumgebungen adressieren: Vermittlungsgrenzen und Möglichkeiten
Das Internet bildet vielfach die mediale Plattform, auf der OER bereitgestellt und rezipiert werden, allerdings werden sie nicht selten mit Präsenzveranstaltungen zu Blended Learning kombiniert. Dies ist insbesondere dort hilfreich, wo gesellschaftliche und individuelle Werte thematisiert und dabei existenzielle Fragen der Lernenden selbst berührt werden können, etwa bei der Auseinandersetzung mit Diskriminierung. Mediendidaktische Befunde deuten darauf hin, dass die positiven Eigenschaften kollaborativ-partizipativer Lernprozesse, des Lernens in sozialen Gruppen sowie mit multimedialen Materialien auch in Online-Kursen wirksam werden14 – jedoch nur, wenn sie in ein didaktisches Konzept integriert sind, das Feedback der Teilnehmenden einbezieht und soziale Beziehungen ermöglicht.15 Die Erziehungswissenschaftlerin Maisha Maureen Eggers betont, dass Partizipationsmöglichkeiten und die gezielte Aktivierung von Lernenden durch multimediale und interaktive Angebote Teilhabebarrieren in Lehrveranstaltungen reduzieren und Handlungssouveränität bei den Beteiligten erzeugen.
Bei gesellschaftlich umkämpften Themen wie Sexismus, Rassismus, Klassismus oder Ableismus stellen sich außerdem Fragen nach Qualitätskontrolle und ‹Netiquette› mit besonderer Dringlichkeit: Die Einladung zur Überarbeitung existierender Materialien – noch dazu in der relativen Anonymität des Internet – kann zwar einerseits die Sichtbarkeit marginalisierter Perspektiven fördern und Hemmschwellen der Teilgabe abbauen. Andererseits beinhaltet sie aber auch ein erhöhtes Diskriminierungsrisiko, wenn falsche Fakten, populistische Meinungen und persönliche Angriffe als ‹Informationen› getarnt verbreitet werden (z. B. im Portal WikiMANNia, auf das wir hier bewusst nicht verlinken). Um Unsicherheiten der Lernenden aufzufangen und sie vor persönlichen Angriffen zu schützen, wird eine Begleitung der Lernenden durch Präsenzlehre, betreute Foren oder virtuelle Klassenzimmer benötigt – dafür müssen allerdings ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen (siehe Teil 3). Gleiches gilt für Faktenchecker_innen, die die inhaltliche Richtigkeit der Materialien überprüfen. Existierende Qualitätschecks für OER konzentrieren sich bislang zumeist auf Fragen der Nutzung, Lizensierung und Strukturierung des Materials, während die Qualität der Inhalte gerade durch die Lernenden meistens schwer einzuschätzen ist (siehe Teil 2).
Fazit: Digital ist nicht egal!
Die diskutierten Aspekte zum Thema OER und Medialität – sowie sicher eine Vielzahl weiterer Fragen, die hier nicht erwähnt werden können – gilt es möglichst schon in der Planungsphase von OER zu bedenken. Aus ihrer Beantwortung ergeben sich Konsequenzen für die notwendige Ausstattung und die Ausgestaltung des eigentlichen Produktionsprozesses – besonders auch im Hinblick auf die notwendigen Ressourcen (siehe Teil 3). OER-Produzierende sollten sich insbesondere frühzeitig darüber klar sein, welche konkreten Kenntnisse und Kompetenzen für die Erstellung ihres Angebots benötigt werden – in fachwissenschaftlicher, didaktischer sowie (medien-)praktischer Hinsicht. Die eingangs thematisierte Reflexion der eigenen Position in Bezug auf Bildung, Digitalisierung, Internet und ‹Openness› mag angesichts vieler praktischer Überlegungen in den Hintergrund rücken – wir möchten sie hier jedoch als zentralen Gedanken hervorheben, der letztlich jede dieser Entscheidungen informieren sollte.
0. Einleitung
1. Medialität
2. Teilhabe und Barrieren
3. Ressourcen und Nachhaltigkeit
- 1Michael Kerres: Mediendidaktik. Konzeption und Entwicklung mediengestützter Lernangebote. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage, München 2013, 168.
- 2Joan Kristin Bleicher: Internet, Konstanz 2010, 16.
- 3Daniel Süss, Claudia Lampert, Christine W. Trültzsch-Wijnen: Mediendidaktik. Lehren und Lernen mit Medien. In: dies. Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden 2018, 162ff.
- 4E-Didaktik, online unter: http://wiki.llz.uni-halle.de/E-Didaktik, dort datiert 16.5.2018, gesehen am 23.1.2019.
- 5Gesellschaft für Medienwissenschaft: Forum Bildung, online unter www.gfmedienwissenschaft.de/debatte/forum-bildung, dort datiert 11.10.2017, gesehen am 4.1.2019.
- 6Kerres: Mediendidaktik, 122–123.
- 7Bleicher: Internet, 29.
- 8Marshall McLuhan: Understanding Media. The Extensions of Man, London/New York 2001 [1964], 9.
- 9Bleicher: Internet, 13.
- 10Ebd., 112.
- 11Ebd., 129.
- 12Mirjam Bretschneider, Sarah Remane: Entscheidungsgrundlagen zur Auswahl von Medien für das eigene Lernarrangement, 2, online unter https://www.hoou.de/p/wp-content/uploads/2017/05/entscheidungmedien.pdf, nicht datiert, gesehen am 4.1.2018.
- 13Ebd., 4.
- 14Kerres: Mediendidaktik, 181–200, 290–292.
- 15Ebd., 200–209.
Bevorzugte Zitationsweise
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