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Open-Media-Studies-Blog

Was machen wir mit digitalen Tools und was machen sie mit uns?

Josephine Diecke, Nicole Braida und Isadora Campregher Paiva zum Auftakt der Sonderreihe Forschen, Lehren und Lernen mit digitalen Tools

2.2.2022

In unserem Call for Papers haben wir im Winter 2021 darauf aufmerksam gemacht, dass in den letzten Jahren immer mehr digitale Tools neue Anwendungsgebiete in der film- und medienwissenschaftlichen Forschung und Lehre finden. Seit Ausbruch der globalen COVID-19-Pandemie Anfang 2020 haben sie ihren Stellenwert zunehmend gefestigt. Wir integrieren Videokonferenzen in die Lehre, hantieren in Forschungsprojekten nicht mehr nur mit analogen Quellen, sondern verwalten und visualisieren digitale Daten und organisieren Arbeitspakete über Projektmanagement-Tools.

Kommerzielle Anbieter wie Slack bewerben das Potenzial ihrer Produkte für die Arbeitsorganisation mit Verben wie «redefine», «reinvent» und «reimagine». Sie prophezeien uns eine Zukunft, in der wir – durch sie – effizienter und besser vernetzt miteinander arbeiten können. Diesem Marketingjargon stehen eher kritische Positionen aus dem Bereich der (offenen) Medienwissenschaft und der Digital Humanities gegenüber. Dies betrifft beispielsweise die rein positive Selbstvermarktung, die mithilfe von wissenschaftlichen Ansätzen des Tool Criticism und der Data Literacy auf die Probe gestellt wird.1 Denn entgegen der Annahme, dass es sich bei webbasierten Anwendungen oder offline nutzbaren Softwarepaketen um «neutrale» Werkzeuge handeln würde, machen sich Vertreter_innen eines kritischen Tool-Begriffs dafür stark, nicht dem Irrtum zu erliegen, «künftiges Arbeiten sei ebenso datenbasiert wie datengesteuert, also einerseits ermöglicht von Digitalisierung, andererseits alternativlos abhängig von ihr».2 Sie plädieren auch dafür, die Verwendung von neuen digitalen Tools nicht blindlings als eine Form der technologischen Überlegenheit anzunehmen,3 sondern den Umgang mit computergestützten Methoden daraufhin zu befragen, welche Entscheidungsprozesse in jeder Phase eines Projektdesigns mit ihnen in Verbindung stehen und wie sie unser Handeln beeinflussen.4

Dass digitale Tools unsere Kommunikation und Arbeitsweise in Forschungs- und Lehrkonstellationen beeinflussen, wurde bereits verschiedentlich diskutiert.5 In dieser Sonderreihe möchten wir die Aufmerksamkeit auf konkrete Einsatzgebiete und Arbeitsumgebungen innerhalb der Medienwissenschaft lenken, in denen aktuell digitale Tools mit unterschiedlichen Zielsetzungen erprobt werden. Denn obschon quantitative Methoden und Big Data nicht der eigentliche Untersuchungsgegenstand sein mögen, so ist die Medienwissenschaft trotzdem mit heterogenen Forschungs- und Lehrinhalten konfrontiert, die sowohl in digitalisierter als auch in genuin digitaler Form vorliegen können und in der Konsequenz eine Kombination von verschiedenen Werkzeugen erfordern.

Ziele: Wer macht was, wie und warum?

Im Rahmen der Sonderreihe Forschen, Lehren und Lernen mit digitalen Tools nehmen wir den wachsenden Umgang mit digitalen Methoden zum Ausgangspunkt, um ihn aus verschiedenen Blickwinkeln der Film- und Medienwissenschaft zu betrachten. Sich digitalen Tools und Methoden zu nähern, bedeutet für uns, eine breite Debatte über Werkzeuge und Ansätze fortzuführen, die wir als Geisteswissenschaftler_innen zur Organisation, Kommunikation, Forschung und Lehre verwenden. Hierbei sprechen wir bewusst von Tools und dem oft zitierten Werkzeugkasten, weil sie in mannigfaltigen Kombinationen zum Einsatz gebracht werden, um Arbeitsschritte zu erleichtern oder überhaupt erst ausführen zu können. Doch auch wenn solche Zusammenführungen einen wesentlichen Anteil an der Konzeption von Forschungsfragen und Forschungsergebnissen haben, konzentriert sich das Gros der Einführungen zu spezifischen Tools zumeist auf die «richtige» Installation und Handhabung dergleichen. Dem Vorbild des Tool Criticism folgend, erheben wir hingegen die kritische Analyse der erwähnten digitalen Werkzeuge und deren medienwissenschaftliche Einsatzgebiete zum strukturierenden Element und roten Faden aller Beiträge der Sonderreihe. Innerhalb dieser möchten wir deshalb insbesondere der Reflexion von Prozessen Raum geben, sodass Best Practices beleuchtet und kritisch hinterfragt werden können. Wie arbeiten Medienwissenschaftler_innen mit digitalen Tools, für welche Fragestellungen und zu welchem Zweck? Wie viel Zeit wenden sie dafür auf und mit welchem Erkenntnisgewinn?

Die individuellen Beiträge setzen sich deshalb mit konkreten Erfahrungen in der Lehre, in der Forschung und im Projektmanagement auseinander und bieten eine konstruktive Diskussion, die über eine Dichotomie zwischen techno-utopischen Versprechungen und kritischen Positionen hinausgeht. Hierfür nähert sich die Sonderreihe dem Thema aus vier Perspektiven anLehre, Forschung, (interaktive) Webseiten, Projektmanagement- und Kommunikationswerkzeuge.

Lehre und (Selbst-)Studium

Besonders für die Lehre steht mittlerweile eine Reihe von digitalen Werkzeugen zur Verfügung, mit denen teilweise andere Spielregeln der Interaktion und Aufmerksamkeitslenkung einhergehen. Dies betrifft beispielsweise die Gesprächsführung in Online-Räumen, die in großem Maße von den technischen Voraussetzungen der Teilnehmenden abhängt. Doch auch die Vorbereitungszeit, die Studierende und Dozierende je nach Einbezug von Tools in einzelne Sitzungen investieren, weicht zum Teil stark von den Gewohnheiten von Präsenzveranstaltungen ab. Der Beginn der COVID-19-Pandemie und der kurzfristige Umstieg auf Distanzlehre haben auch in der medienwissenschaftlichen Gemeinschaft dazu geführt, dass seither zunehmend Übersichten zu geeigneten Werkzeugen für die Online-Lehre, aber auch Leitfäden für den Umgang damit zirkulieren. Gerade die Anforderungen einer datenschutzkonformen Nutzung mit einer leichten Bedienbarkeit in Einklang zu bringen, wird in diesem Kontext innerhalb der Hochschulen beispielsweise anhand des Einsatzes von Whiteboards diskutiert. Auf dem OMS-Blog haben Andreas Möllekamp und Feng-Mei Heberer über ihre Erfahrungen mit Open-Source-Tools in der (Distanz-)Lehre und über die veränderten Erwartungshaltungen seitens der Lehrenden und Studierenden berichtet. Wie sehen die Einschätzungen zwei Jahre nach Beginn der Pandemie aus?

Forschung

Mithilfe von frei zugänglichen digitalen Tools und den dazugehörigen Einführungen über Plattformen wie The Programming Historian und Ranke.2 oder individuelle Kursangebote von Hochschulen können Kompetenzen beispielsweise im Feld der Programmierung von Tools, Visualisierung von Forschungsergebnissen und in der (digitalen) (Daten-)Quellenkritik selbstständig erweitert werden.6 Dabei bleiben aber die Fragen bestehen, wie niederschwellig solche Werkzeuge in der Praxis sind, und in welchem Ausmaß ihr Design und methodologisches Fundament eine medienwissenschaftliche Herangehensweise zu- oder nachträglich beeinflusst. Darüber hinaus spielt neben der kritischen Reflexion von Teildimensionen eines Tools – wie dessen Anwendbarkeit, Kompatibilität und Relevanz für Forschungsfragen – auch die Dokumentation  von Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle, insbesondere für das Feld des Forschungsdatenmanagements. Das tangiert nicht zuletzt auch die Langzeitarchivierung und die damit verbundenen Nachnutzungsmöglichkeiten von Forschungsdaten, die gerade bei proprietärer Software mit Schwierigkeiten verbunden sind, aber von (unerfahrenen) Anwender:innen im Vorfeld oft nicht vorhergesehen werden. Somit ist die Anwendung von digitalen Werkzeugen in der Forschung in einem Spannungsfeld angesiedelt, in dem sich Medienwissenschaftler_innen damit auseinandersetzen, inwiefern wir Tools nutzen, um unsere Forschungsfragen zu beantworten, oder ob wir umgekehrt unsere Forschungsinteressen an die verfügbaren Datensätze und Werkzeuge anpassen.7

(Interaktive) Webseiten

Neben den Forschungswerkzeugen, die zur Anwendung im Browser oder als heruntergeladenes Programm konzipiert sind, fungieren verschiedene Webseiten als interaktive Portale, welche selbst als Tool genutzt werden können. Webseiten aus interdisziplinären Projektkontexten wie Rhizom Filmgeschichte und der Women Film Pioneers Explorer laden die Besuchenden zur Erkundung eines bestimmten Datensatzes ein. Hierbei bleibt es den Nutzer_innen selbst vorbehalten, in welcher Reihenfolge und mit welchem Ziel sie die einzelnen Werkzeuge und Inhalte verwenden. Darüber hinaus stellt das Format der interaktiven Webseite für die Initiator_innen und Entwickler_innen eine Möglichkeit dar, um mit den Nutzer_innen in Austausch zu treten, ob über das Angebot von Diskussionsforen oder die Bereitstellung von Videomitschnitten. In der Sonderreihe bekommen wir Einblicke in die Herausforderungen, die solche Webseiten für beide Gruppen stellen.

Projektmanagement und Projektkommunikation

Der letzte Themenschwerpunkt liegt auf der Verwaltung des Forschungs- und Lehralltags. Von der Organisation eines agilen Arbeitsumfelds über die projektinterne Kommunikation bis hin zur Dokumentation von Arbeitsaufträgen, all diese Schlagworte sind zunehmend mit computergestützten Prozessen und Werkzeugen verbunden. Aus diesem Grund beleuchten einzelne Beiträge auch diesen (für gewöhnlich eher wenig transparent behandelten) Aspekt des Projektmanagements in medienwissenschaftlichen Kontexten. In welchem Ausmaße aber eignen sich Tools, die für ein privatwirtschaftliches Arbeitsumfeld entwickelt wurden für Forschungsdesigns, die großen Wert auf Selbstorganisation legen? Dass es zumindest zunehmend Redebedarf gibt, zeigte nicht zuletzt ein Beitrag von Fabian Cremer zum Stellenwert von Projektmanagement in den Digital Humanities. Wie verhält sich diese Debatte zu den Bedarfen der Medienwissenschaft?

Die Beiträge der Sonderreihe werden im Laufe des Jahres 2022 veröffentlicht. Weitere Vorschläge und Anregungen können entsprechend der Vorgaben unseres Call for Papers, und gerne auch mit direktem Bezug zu bereits veröffentlichte Beiträge jederzeit per E-Mail (diecke@staff.uni-marburg.de) an die Herausgeberinnen herangetragen werden.

  • 1Siehe hierzu beispielsweise Marijn Koolen, Jasmijn van Gorp, Jacco van Ossenbruggen: Toward a Model for Digital Tool Criticism. Reflection as Integrative Practice, in: Digital Scholarship in the Humanities, Bd. 34, Nr. 2, 2019, 368–385.
  • 2Patrick Vonderau kritisierte diese einseitige Haltung mancher Wissenschaftsdiskurse im Umgang mit Big Data, Patrick Vonderau: Quantitative Werkzeuge, in: Malte Hagener, Volker Pantenburg (Hg.), Handbuch Filmanalyse, Wiesbaden 2017, 1–15, hier 9.
  • 3Patrice Flichy: The Internet Imaginaire, Cambridge, Massachussets 2007, 5.
  • 4Johanna Drucker: The Digital Humanities Coursebook. An Introduction to Digital Methods for Research and Scholarship, Abingdon, Oxon, New York 2021, 1.
  • 5Siehe beispielsweise Michael Ross, Manfred Grauer, Bernd Freisleben (Hg.): Digital Tools in Media Studies. Analysis and Research. An Overview, Medienumbrüche 27, Bielefeld 2009; Richard Rogers: Doing Digital Methods, Thousand Oaks, CA 2019; Fotis Jannidis, Hubertus Kohle, MalteRehbein (Hg.): Digital Humanities. Eine Einführung, 2. Aktualisierte und Erweiterte Auflage, Stuttgart 2021.
  • 6Andreas Fickers spricht in diesem Zusammenhang über eine «geschichtswissenschaftliche Datenkritik», siehe Andreas Fickers: Update für die Hermeneutik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Bd. 17, 2020, 157–168, hier 158.
  • 7Vgl. Charles R. Acland, Eric Hoyt, Kit Hughes: A Guide to the Arclight Guidebook, in: Eric Hoyt, Charles R. Acland (Hg.), The Arclight Guidebook to Media History and the Digital Humanities, Brighton 2016, 1–29, hier 1.

Bevorzugte Zitationsweise

Diecke, Josephine; Braida, Nicole; Campregher Paiva, Isadora: Was machen wir mit digitalen Tools und was machen sie mit uns?. Josephine Diecke, Nicole Braida und Isadora Campregher Paiva zum Auftakt der Sonderreihe Forschen, Lehren und Lernen mit digitalen Tools. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/open-media-studies-blog/was-machen-wir-mit-digitalen-tools-und-was-machen-sie-mit-uns.

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