Starke Gemeinschaft, wertvolle Wissenschaft
Elisabeth Mohr über das Verhältnis zwischen den Forschungsgenerationen
Am Anfang dieses Beitrags stand eine E-Mail. Dabei handelte es sich nicht um einen Themenvorschlag, nein, ich schrieb eine E-Mail an Anna Luise Kiss, um ihr für ihren Podcast Film studies bling bling zu danken. «Zwei Menschen, die sich einfach unterhalten!», schrieb ich ihr spätabends begeistert. Das lockere, zwischen Fachthemen und Persönlichem changierende Gespräch zwischen Kolleg_innen überraschte mich.
Derartige Gespräche sind in meinen Augen Teil des wissenschaftlichen Austauschs und knüpfen an Open-Research-Werte wie Kollaboration, Transparenz und Offenheit an. Letztere haben in einem Pilotprojekt der Bibliothek der University of British Columbia (UBC) bereits im grundständigen Studium einen festen Platz, was laut Aussagen der Initiator_innen positive Effekte hat: Das Wissen darum, wie Wissen «produziert, verbreitet und verarbeitet» wird, führe zu einem Gefühl des «Empowerment», mehr Interesse an Fachthemen und einem höheren Engagement. Es geht im Studium also nicht nur um die Vermittlung von fachspezifischen Fähigkeiten, sondern auch um Erfahrung im gemeinsamen Forschen, Publizieren und Netzwerken. Neben dem Erlernen im Seminarraum müssen diese Kenntnisse auch aktiv vorgelebt werden, und zwar von den bereits etablierten Wissenschaftler_innen.
Mein Beitrag handelt von einer Generationenfrage: Wie können wir die Beziehung zwischen Forschenden und Studierenden – also innerhalb der gesamten wissenschaftlichen Community – inklusiver, gleichwertiger, wertschätzender und kollaborativer gestalten? Auf diesem Blog findet man dazu bereits einiges an Inspiration (etwa zur Hochschule als Ort des Community-Buildings oder zu an veränderte Kontexte angepasste Lehrmethoden), eine individuelle studentische Perspektive ist bislang jedoch noch nicht vorhanden. Ausgehend von meinem persönlichen Erleben im Studium mache ich mich hier auf die Suche danach, welche Bedingungen zur Trennung der unterschiedlichen Statusgruppen beitragen. Dabei beziehe ich mich einerseits auf Studierende im Bachelor- oder Masterstudium, da sie noch nicht so stark im wissenschaftlichen Betrieb verankert sind wie Doktorand_innen, und bereits in der Forschung und Lehre arbeitende Personen andererseits. Aufbauend auf meinen Erfahrungen soll die Frage des Brückenschlagens nicht zu kurz kommen, weshalb ich einige Ansätze vorschlagen möchte, die weitergedacht und ausgearbeitet werden können. Ich verstehe diesen Beitrag folglich als produktiven Ausgangspunkt für eine erweiterte Debatte.
Selbstständigkeit ist nicht gleich Unabhängigkeit
Als Studentin in vier Städten und drei Fächern habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Hochschulkultur zumindest im deutschsprachigen Raum besonders durch Selbstständigkeit auszeichnet. Das schätze ich sehr, da dadurch Freiraum zur Entfaltung auf persönlicher und akademischer Ebene entsteht. Die Studienpläne meiner überwiegend geisteswissenschaftlichen Fächer fördern die Selbstfindung, beispielsweise indem Kurse und Module weitestgehend frei zusammengestellt werden können.
Wenn in diesem System Selbstständigkeit allerdings mit Alleinsein verwechselt wird, zeigen sich einige negative Konsequenzen. Zum Beispiel: Nicht die Gewohnheit zu haben, sich mit anderen über die eigene Arbeit auszutauschen. Wenn ich Essays oder Papers meiner Kommiliton_innen lesen wollte, war das für sie meist überraschend. Oder auch, es alleine schaffen zu müssen, selbst wenn Unterstützung vorhanden wäre: Selbst mit dem Angebot der Sprechstunde fiel es mir schwer, um Hilfe oder Beratung zu bitten. Ist mein Problem wichtig genug? Darf ich überhaupt stören? Selbst wenn diese und ähnliche Fragen in Wirklichkeit nicht zutreffen, geisterten sie doch in meinem Kopf herum. Der Bedarf an Unterstützung besteht hier genauso wie das Angebot, es wird jedoch nicht (ausreichend) wahrgenommen. Woher kommt diese Divergenz?
Hierarchische Barriere
Während der Corona-Krise entstand zwischen den Studierenden und Dozierenden eine gemeinsame, geteilte Ebene diverser Unsicherheiten und Ängste bezüglich der nie dagewesenen Situation. Gleichzeitig ordneten die Videokonferenzprogramme alle Beteiligten im Kachelformat an, ohne die wertende Hervorhebung, die in Seminarräumen rasch durch die Konfiguration der Sitz- bzw. Stehpositionen entsteht. Dies beleuchtete Machtdynamiken, die sonst im Hintergrund abliefen: Die Lehrperson als Autorität, die im Wertesystem oben steht – in mehr als einem Jahrzehnt Schule verinnerlicht verschwindet diese Rolle nicht mit Eintritt ins Studium. «Starre und erkennbar gestufte Hierarchien» ließen sich heutigen Studierenden schlecht vermitteln, schreibt Kai Matuszkiewicz in seinem Beitrag auf diesem Blog über die ‹moderne› Hochschule. Ich vermute, dass das konventionelle Rollenverständnis auch für viele Forschende und Dozierende nicht mehr haltbar ist.
Außerdem entfiel der persönliche Austausch in den Seminarräumen, den Mensen und den Gängen meiner Universität. Dozierende motivierten uns Studierende dazu, einander abseits der Seminarzeiten zu unterstützen, erkundigten sich häufig nach Problemen im ‹Online-Semester› und setzten verstärkt auf kollaborative Lehrmethoden. Während des Semesters dauerte es einige Wochen, bis Blogs und Diskussionsforen genutzt wurden (und auch dann noch begrenzt). Doch die Anregungen wirken nach – seitdem habe ich um Feedback gebeten und auch gegeben, mehr als in mehreren Semestern zusammengenommen. Um eine echte Kultur der Selbstständigkeit zu schaffen, scheint es also stärkere Anstöße zu brauchen. Von entscheidender Bedeutung sind hier die Dozierenden: Sie haben bereits die Erfahrung, dass Austausch notwendig ist und verfügen über die Möglichkeiten, ihn anzuregen. Eine Dozentin setzte beispielsweise auf wohlwollenden Zwang, da sie Hausarbeiten nur nach einer persönlichen Besprechung benotete. Dadurch wurde mir bewusst, wie wertvoll solche Gespräche sein können.
Die Dozentin nutzte ihre Stellung in der Hierarchie, um Berührungsängste zu nehmen und Selbstständigkeit zu fördern. Letztendlich müssen hierarchische Dynamiken jedoch derart abgebaut bzw. verändert werden, damit Druck von außen weitestgehend obsolet wird. So können Dozierende mehr als Austauschpartner und weniger als Autorität wahrgenommen werden. Ähnlich schlägt Matuszkiewicz im bereits erwähnten Blogbeitrag vor, die Beteiligten als unterschiedliche Akteur_innen in einem «wechselseitigen Prozess» zu sehen. Die Konkretisierung dieser Forderung drückt sich in verschiedenen Bereichen aus, auf die ich im Folgenden eingehen werde.
Kapazitäten für Gemeinschaftsbildung
Wenn man die Beziehung zwischen Studierenden und Forschenden stärken möchte, sind finanzielle Ressourcen aus meiner Sicht ein grundlegendes Thema. Förderungen für Forschung sind knapp, die Erwartungen an den Output sind hoch. Neben den beruflichen Bedingungen haben Lehrende auch noch ein Privatleben, mit Partner_innen, Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen. Ich wundere mich regelmäßig, dass Lehrende und Forschende so viel auf einmal schaffen – allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dieser Zustand erhaltenswert ist.1 Es wäre kontraproduktiv, Lehrende zu noch mehr Investition ihrer Zeit und Ressourcen zu drängen. Stattdessen müssen ihnen die Kapazitäten für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verschafft werden. Ähnlich dem Pilotprojekt an der Bibliothek der University of British Columbia (UBC) müssten im Budget der Hochschulen ebenso wie in den Fördergeldern für Forschungsprojekte Posten erstellt werden, die dezidiert der Gemeinschaftsbildung zugeordnet sind. Erstens könnte dadurch die Vernetzung der verschiedenen Generationen am eigenen Institut ausgebaut werden, zum Beispiel durch Präsentationen laufender Forschungsprojekte. Während meines Studiums konnte ich nur teilweise in Seminaren herausfinden, woran die Lehrenden forschten – oder es auf Zetteln in den Gängen lesen. Würden Studierende frühzeitig erfahren, woran in ihrer unmittelbaren Umgebung gearbeitet wird, könnten sie den Kontakt mit den Forschenden auch außerhalb der Seminarräume erhalten. Ebenso ist der Aufbau von Beziehungen in der erweiterten Community wichtig. Hier denke ich zum Beispiel an (mehr) finanzielle Zuschüsse für Konferenzbesuche, die durch Reise- und Teilnahmekosten vielen Studierenden verschlossen bleiben. Mit digitalen Mitteln ließen sich außerdem vergleichsweise einfach und günstig Veranstaltungen organisieren, die explizit der Vernetzung dienen. Dabei könnten regelmäßig Forschende eingeladen werden, die sich selbst und ihre Forschung vorstellen um danach mit den Studierenden ins Gespräch zu treten – keine Fachvorträge also, sondern persönlicher Dialog. Die Lehrenden des jeweiligen Instituts spielen dabei eine essenzielle Rolle, da sie durch ihr eigenes Netzwerk passende Forscher_innen ansprechen könnten. Regelmäßig durchgeführt würden derartige Formate die papierene Abstraktheit der Forschung hin zu einem lebendigen Austausch führen.
Räumliche Hindernisse
Neben der finanziell-zeitlichen Komponente möchte ich auch noch die räumlichen Bedingungen ansprechen, die Studierende von der Forschungscommunity trennen. Es scheint ein gewisser Fokus auf Innenräume zu bestehen – aber warum eigentlich? Insbesondere während und nach der Corona-Pandemie könnte man bei Schönwetter (und wenn keine Geräte benutzt werden müssen) Seminare draußen abhalten. Auch wenn Erlebnispädagogik sich auf Kinder und die Beziehung zur Natur bezieht, macht der positive Effekt der Freiluftumgebung wahrscheinlich nicht Halt vor volljährigen Studierenden, die über Derrida diskutieren. Zusätzlich dazu könnten manche Seminarräume mit unterschiedlichen Möbeln, Teppichen, Sofas oder Sesseln ausgestattet werden. Beispiele von flexiblen und komfortablen Lernumgebungen bestehen bereits für Klassenzimmer in Grundschulen, wobei die Lehrkräfte mehr Engagement und eine erhöhte Motivation der Schüler_innen beobachten. Auch im universitären Kontext wurde beschrieben, inwiefern die Gestaltung der Räume sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden beeinflusst. Unterschiedliche Umgebungen eignen sich demnach für unterschiedliche Ziele und tragen gleichzeitig zu einer positiven Veränderung der Beziehung zwischen Studierenden und Lehrenden bei. Aus eigener Erfahrung werden starre, die Teilnahme und Gedankenfindung negativ beeinflussende Rangordnungen zum Beispiel abgebaut, wenn man sich in der (Klein-)Gruppe außerhalb der Universität trifft. Am eindrucksvollsten bleibt mir ein Kurs an der Universidad Nacional Autónoma de México in Erinnerung: Der sehr motivierte und junge Dozent organisierte neben den regulären Seminarzeiten mehrere Ausstellungs- und Galeriebesuche, über die wir danach beim gemeinsamen Essen diskutierten. Kombiniert mit der wertschätzenden Art des Dozenten, der immer wieder die Gleichwertigkeit der Beteiligten betonte, führte dies zu einem Seminar, in dem keine Minute ohne die produktive Teilnahme fast aller verging. Wird die Relation zwischen Studierenden und Forschenden vielfältiger gestaltet, werden die aufkommenden Ideen und Gedanken davon profitieren.
Frühe Einbindung ins Publizieren und Forschen
Ich habe mich häufig gefragt, wie man in Journals veröffentlicht, wie man sie anschreibt, wen ich kennen muss, oder auch, wie ich ein Projektanträge schreibe. Erst durch eine Stelle als studentische Hilfskraft habe ich einen Einblick in einige dieser Vorgänge bekommen – diese Chance haben jedoch nicht alle. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass nicht alle Studierenden eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen wollen. Doch auch Letztgenannte scheinen vom frühzeitigen Anwenden von Open Research-Prinzipien zu profitieren, wie aus dem Pilotprojekt der Bibliothek der UBC hervorgeht. Zu wissen, wie Forschung funktioniert oder welche Beziehung Wissenschaft zur Gesellschaft hat, sind Beispiele für Anwendungsgebiete außerhalb der Forschungswelt. «We’re hopeful that this applies more broadly, outside the classroom, where students need to make informed decisions as active members of society», schreiben die Initiator_innen. Anstatt mir meinen Weg alleine zu suchen, wünsche ich mir ein von Anfang an offenes, transparentes und kollaboratives Arbeiten zusammen mit Studierenden, Lehrenden und Forschenden.
Derzeit bestehen Publikationsmöglichkeiten für Studierende vorwiegend aus Formaten wie Rezensionen in Sonderpublikationen oder Berichte; Veröffentlichungen in renommierten Fachzeitschriften, also innerhalb ‹regulärer› Kategorien, bleiben in Deutschland eine Seltenheit, wie beispielsweise die FAZ schreibt.2 Selbstverständlich dient das Studium unter anderem dazu, wissenschaftliches Schreiben und Arbeiten zu erlernen und zu üben. An studentische Texte kann demnach nicht der gleiche Maßstab (und Publikationsprozess) angewandt werden. Daher braucht es die Unterstützung der Lehrenden und Forschenden, um eine Gleichwertigkeit trotz unterschiedlicher Erfahrungsniveaus herzustellen. Es wäre fantastisch, wenn sie herausragende studentische Arbeiten für ein Journal, eine Konferenz oder sonstige wissenschaftliche Publikationsformen vorschlagen und die Studierenden bei der Ausarbeitung und Veröffentlichung begleiten würden. So konnte ich nach Anna Luise Kiss‘ ermutigender Vernetzung sowie Sarah-Mai Dangs und Alena Strohmaiers Zusage und Unterstützung diesen Beitrag veröffentlichen.
Denn insbesondere wissenschaftliche Online-Formate, die weniger von Konventionen als gedruckte Journals gezeichnet sind, können Studierenden diese Möglichkeit bieten. Dadurch würde gelernt werden, wodurch sich Journal-Artikel von Hausarbeiten unterscheiden und wie die Publikation abläuft, Studierende würden auch in Kontakt mit Forschenden außerhalb des eigenen Instituts treten. Außerdem würden Menschen mit ähnlichen Forschungsinteressen aktiv und frühzeitig miteinander vernetzt werden. Dies wären auf lange Sicht Ansätze, durch die auch oben beschriebene Hierarchiedynamiken abgebaut werden können.
Gemeinschaft unter einem Dach
Universitäten und Hochschulen haben einen unheimlich großen Vorteil: Sie bieten Räumlichkeiten, in denen verschiedene Generationen, Perspektiven und Ideen unter einem Dach versammelt werden. In dieser Hochschulgemeinschaft haben alle Beteiligten Verantwortung gegenüber den anderen, da sie gemeinsam Teil der wissenschaftlichen Community sind. Die Rolle der Lehrenden und Forschenden besteht unter anderem darin, ein gleichwertiges und für die Studierenden förderliches Ambiente zu schaffen sowie Werkzeuge für die Eigeninitiative in die Hand zu geben. Wie viel Potenzial geht verloren, wenn erst im PhD ernsthaft damit begonnen wird?3 Geht man davon aus, dass Konzepte von Open Research zu produktiverer und qualitativ hochwertigerer Forschung führt, müssen Forschungspraktiken, Netzwerke und Gewohnheiten schon früh vermittelt und die Studierenden aktiv in die Community miteinbezogen werden. Für wissenschaftlichen Nachwuchs braucht es einen passenden Nährboden – die Hochschule muss zum Ort der Gemeinschaftsbildung werden.
- 1«Scaling down is not a luxury, nor is it optional» – was Feng-Mei Heberer in Bezug auf Studierende in einem Post auf diesem Blog schreibt, betrifft meiner Meinung nach auch Lehrende und Forschende.
- 2Ich beziehe mich in diesem Text auf Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Studierenden und Lehrenden bzw. Forschenden, ein studentisch organisiertes Journal liegt hier also nicht im Fokus. Mehr zur Publikation studentischer Arbeiten ist ebenfalls im Artikel der FAZ zu lesen. Eine der beiden Zeitschriften, 360 Grad, existiert seit 2019 nicht mehr. In den USA scheinen studentische Zeitschriften üblicher zu sein.
- 3«‹Student-centered› might be the most misused of all the hyphenates the education field has ever devised; it’s lipstick on a pig, so to speak. […] In spite of our slick buzzwords and ‹flipped classrooms,› the students are nowhere near the center. Many have left the room unnoticed», schreibt Jessica Zeller in “Pedagogy as Protest: Reimagining the Center“.
Bevorzugte Zitationsweise
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