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Beispiel eines digitalen Tagebucheintrags; ein Mapping der Care-Beziehungen.

Beispiel eines digitalen Tagebucheintrags; ein Mapping der Care-Beziehungen.

Open-Media-Studies-Blog

Digitale Medien und Methoden

Über digitale Tagebücher als ‹Media of Care› und Narrative der Flucht

26.1.2021

In unserem Beitrag Die Medienwissenschaft im Lichte ihrer methodischen Nachvollziehbarkeit haben wir (Laura Niebling, Felix Raczkowski, Maike Sarah Reinerth und Sven Stollfuß) dazu aufgerufen, über «gegenstandsbezogene Methoden und Ansätze» zu sprechen. Zur Vorbereitung auf das von uns in diesem Zusammenhang geplante Methoden-Handbuch Digitale Medien und als Beitrag zu einer offenen Methodendiskussion im Fach, kuratieren wir in den kommenden Monaten eine Sonderreihe zu «Digitale Medien und Methoden» auf dem Open-Media-Studies-Blog mit ‹Werkstattberichten› zu den in der medienwissenschaftlichen Forschung eingesetzten Methoden.

Der vierzehnte und letzte Beitrag der Sonderreihe stammt von Monika Palmberger und beschäftigt sich mit der Erforschung digitaler Tagebücher Geflüchteter zwischen Medienwissenschaft, Sozial- und Kulturanthropologie.

Forschungskontext

Seit August 2018 leite ich das Projekt ‹REFUGEeICT – Multi-local Care and the Use of Information and Communication Technologies Among Refugees› (2018-2021, gefördert vom Austrian Science Fund). Darin beschäftige ich mich mit den multiplen Care-Beziehungen (Fürsorge- und Hilfsbeziehungen), die Asylwerber_Innen und anerkannte Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak im Aufnahmeland, aber auch in deren Herkunftsland, pflegen. Im öffentlichen Diskurs bleibt weitgehend unberücksichtigt, dass Geflüchtete nicht nur Hilfeleistungen annehmen, sondern auch Verantwortung für andere Familienangehörige und Freund_Innen über die Grenzen hinweg tragen. Diese transnationalen Sorge- und Verantwortungsbeziehungen werden vorwiegend über neue Kommunikationsmedien ausgehandelt. Daher legt mein Projekt besonderes Augenmerk auf die Bedeutung und Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im Kontext von Flucht und multi-lokalen Care-Beziehungen. Das Projekt steht somit an der Schnittstelle zwischen der Sozial- und Kulturanthropologie und den Medienwissenschaften, besonders in Bezug auf seine Methodik. Letztere möchte ich im Folgenden näher erläutern und erste methodische Erkenntnisse teilen.

Zentral im REFUGEeICT Projekt steht die Frage: Wie erhalten Menschen auf/nach der Flucht innige Beziehungen über geographische Distanzen hinweg und in einem Kontext besonderer Vulnerabilität aufrecht? Bereits beim Schreiben des Projektantrags war mir klar, dass herkömmliche qualitative Methoden, wie qualitative Interviews und die zentrale Methode der Sozial- und Kulturanthropologie, die teilnehmende Beobachtung, allein nicht ausreichend sein würden um die Fragestellung zu beantworten. Die von mir entwickelte/adaptierte Methode der ‹Digitalen Tagebücher› hingegen erlaubt mir, einen tieferen Einblick in die Medien- und Kommunikationspraktiken zu erhalten, eingebettet in den weiteren soziokulturellen Lebenskontext meiner Forschungspartner_Innen. In diesem Beitrag möchte ich erste Erfahrungen und Erkenntnisse in Bezug auf die Methode der digitalen Tagebücher teilen.

Methodischer Zugang des digitalen Tagebuchs

Die Methode des digitalen Tagebuchs soll im konkreten Forschungsprojekt Aufschluss über die Rolle neuer Kommunikationsmedien als ‹Media of Care› geben. Außerdem stellt sie eine Form von alternativer Wissenschaftsproduktion dar. Forschungspartner_innen werden in die Forschung einbezogen und teilen weitgehend die Interpretationsmacht mit der Forscherin. Dadurch sind es auch sie, die sich und ihr Leben repräsentieren. Es geht hier also um geteilte Interpretations- und Repräsentationsmacht auf drei Ebenen:

  • Das digitale Tagebuch beginnt mit der Beobachtung. Konkret beobachten Forschungspartner_Innen ihre Medienpraktiken sowie ihre digitale Kommunikation mit Familie und Freund_Innen über einen festgelegten Zeitraum (von sieben bis zehn Tagen) und halten sie in Form von digitalen Tagebüchern fest.
  • Die Tagebucheinträge können auf unterschiedliche Weise erfolgen. Ob schriftliche Einträge, Sprachaufnahmen oder visuelle Formen der Darstellung gewählt werden, bleibt den Forschungspartner_Innen freigestellt. Die digitalen Tagebücher können kreativ gestaltet werden und z.B. Screenshots, Textexzerpte, Fotos oder kleine Karten der Care-Beziehungen beinhalten. Sie werden entweder elektronisch übermittelt oder beim nächsten Treffen auf einem Datenträger übergeben.
  • Die digitalen Tagebücher werden bei einem eigens dafür vorgesehenen Treffen gemeinsam gesichtet und reflektiert – ein Prozess, der wesentlich zum Erkenntnisgewinn beiträgt. Digitale Tagebücher bieten damit ein methodisches Werkzeug, das zur Reflexion einlädt. Neben den digitalen Tagebüchern sind auch teilnehmende Beobachtung und narrative Interviews zentrale Bestandteile meiner ethnographischen Forschung. Allen digitalen Tagebüchern gingen narrative Interviews voraus, die Einsichten in die Lebensgeschichte und die durch die Flucht geprägte gegenwärtige Lebenssituation gaben. Digitale Tagebücher bieten auch weiterführende partizipative Möglichkeiten, wie zum Beispiel das Digital Storytelling.

Die Idee des digitalen Tagebuchs ist es, Forschungspartner_Innen in den Forschungsprozess einzubeziehen. In gewisser Weise übernehmen sie ein Stück weit die traditionellen Aufgaben der Forscher_In, indem sie ihre sozialen Praktiken beobachten, dokumentieren und schlussendlich in einem gemeinsamen Reflexionsprozess mit dem_der Anthropolog_In aufarbeiten. In einer zunehmend digitalen Welt und mobilen Kommunikation kommen traditionelle Forschungsmethoden oft an ihre Grenzen. Während Anthropolog_Innen in der vor-digitalen Zeit einen guten Teil der Kommunikation beobachten/mithören konnten, so ist dies heute angesichts digitaler Medien nur noch bedingt möglich. Für eine qualitative Analyse der digitalen Medienpraktiken müssen wir also methodisch kreativ sein. Die digitale Ethnographie, in der ich mein Projekt verortet sehe, betrachtet die unterschiedlichen Lebenskontexte zusammenhängend. Das heißt auch, dass Online- und Offline-Aktivitäten nicht getrennt voneinander, sondern als ineinander verflochten verstanden werden. Innerhalb der digitalen Ethnographie richten Forscher_Innen ihren Blick meist auf alltägliche Praktiken. Damit tragen sie dazu bei, Alltagsphänomene sichtbar zu machen und ihre soziale und kulturelle Bedeutung zu ergründen.

Rahmung von Tagebüchern als methodischer Zugang

Die für mein Forschungsprojekt speziell entwickelte/adaptierte Tagebuchmethode lehnt sich an bereits bestehende Tagebuch-Methoden in der qualitativen Forschung an. Die Tagebuch-Methode ist vor allem eine Methode, die dazu beiträgt, Handlungen und Entscheidungen von Menschen in einem größeren Kontext zu verstehen. Bestehende (und historische) Tagebücher wurden traditionell in der qualitativen Forschung, besonders in den Geschichtswissenschaften und in den Erziehungswissenschaften, herangezogen, aber auch in anderen Disziplinen und Forschungsfeldern, z.B. in der Soziologie und in der Gesundheitsforschung. Meist wird die Tagebuch-Methode mit anderen qualitativen oder quantitativen Methoden kombiniert. Tagebücher können wichtige Zeitdokumente darstellen oder Einblick in die Sicht- und Lebensweisen einer bestimmten Generation, z.B. Jugendlicher, geben. Das Schreiben von Tagebüchern wird auch in der Marktforschung eingesetzt, um Praktiken und Verhaltensweisen der Konsument_Innen zu erschließen. Die Tagebuch-Methode variiert also in ihrer Ausrichtung zwischen strukturiert/standardisiert und offen/ethnographisch und wird sowohl in quantitative als auch qualitative Forschungsdesigns integriert. Trotz der relativ großen Verbreitung der Tagebuch-Methode wird sie in Methodenhandbüchern kaum behandelt.

Das Tagebuch als Methode hat den großen Vorteil, dass es als Medium vielen Forschungspartner_Innen vertraut ist. Im Falle des REFUGEeICT Projekts war die vertraute Komponente das Smartphone, das für meine Forschungspartner_Innen so gut wie immer zur Hand war und wo im Nachhinein beispielsweise Screenshots digitaler Kommunikation geteilt werden konnten. Schlussendlich können die Eigenbeobachtung und das Gespräch darüber durchaus von Interesse für die Forschungspartner_Innen sein. Seit den 2000er Jahren wird die Tagebuch-Methode vermehrt und heute fast ausschließlich in elektronischer/digitaler Form umgesetzt. Diese digitale/digitalisierte Tagebuch-Methode, die in der Literatur vor allem als E-Diaries oder als Digital Diaries behandelt wird, scheint an Attraktion gewonnen zu haben und ist auch Bestandteil der Forschungsmethoden der Medienwissenschaft. Digitalisierte Tagebücher bringen neue Möglichkeiten mit sich und beschränken sich nicht auf Texteinträge sondern ermöglichen eine Multimodalität, die u.a. Foto- und Video-Tagebücher miteinschließt. Dieser multimodale Ansatz ist wiederum eng verknüpft mit dem steigenden Interesse an sensorischer Methodologie. Außerdem können digitale Tagebücher auch als eine mobile Methode angewandt werden. Sie ist damit eine, unter anderen digitalen und mobilen Methoden, mit welchen Sozialwissenschaftler_Innen in kreativer Auseinandersetzung digitale Medienpraktiken ergründen.

Analyse von Smartphone-Inhalten als Beispiel einer medialen Form im digitalen Tagebuch

Es bleibt den Forschungspartner_Innen offen welche Beobachtungen und welche Tagebucheinträge bzw. Screenshots sie bei einem eigens dafür anberaumten Treffen teilen möchten. Ein guter Teil der Dokumentation der digitalisierten Care-Kommunikation wurde von meinen Forschungspartner_Innen mit Screenshots, v.a. der Direkt-Messenger-Kommunikation – und hier vor allem WhatsApp- und Facebook-Kommunikation – festgehalten. Die gesammelten Daten werden von mir elektronisch verwaltet, beschlagwortet und kodiert. Schlussendlich bilden sie Teil der ethnographischen Analyse, die Feldnotizen der teilnehmenden Beobachtung und die transkribierten narrativen Interviews genauso berücksichtigt wie die digitalen Tagebucheinträge. Anhand einiger ausgewählter Screenshots möchte ich in aller Kürze aufzeigen welche Einblicke diese in die Care-Beziehungen und Lebenssituationen Geflüchteter ermöglichen.

Wie oben beschrieben geht es im Fall meiner Forschung um die Nutzung digitaler Medien; und hier vor allem darum, wie mit ihrer Hilfe Care-Beziehungen, also Sorge-, und Verantwortungsbeziehungen, über geographische Distanzen hinweg gepflegt werden. Um diese transnationalen Care-Beziehungen zu ermöglichen, müssen bestimmte Grundvoraussetzungen und eine bestimmte Infrastruktur gegeben sein. Ohne beispielsweise Strom- bzw. Internetzugang ist die Kommunikation/der Austausch auf unabsehbare Zeit unterbrochen. Das heißt, nachfragen bzw. Bescheid geben, wie es mit der Elektrizität/Internetempfang aussieht, ist bereits Teil der Sorgebeziehungen, wie aus dem untenstehenden Screenshot hervorgeht.

Beispiel Facebook. Screenshot der Autorin.

Aus den digitalen Tagebüchern geht hervor, dass ausgewählte Familien- und Freundesgruppen – vor allem WhatsApp-Gruppen – einen besonderen Stellenwert für transnationale Care-Beziehungen einnehmen. Diese Gruppen, v.a. der Kleinfamilie und ausgewählter Freundesgruppen werden meist täglich bespielt. Familien, die durch Krieg und Flucht in verschiedenen Ländern und Kontinenten leben, versuchen oft besonders stark, eine tägliche Familienroutine aufrecht zu erhalten bzw. eine neue aufzubauen. So erfuhr ich in der Reflexion des digitalen Tagebuchs mit meinem Forschungspartner Esat, dass seine Mutter jeden Morgen einen Guten-Morgen-Gruß mit einem Blumenbild über die WhatsApp-Familiengruppe schickt, woraufhin ihre vier erwachsenen Kinder jeden Morgen antworten.

Beispiel WhatsApp. Screenshot der Autorin.

Ein anderes Beispiel aus der gleichen Familie zeigt, dass Unterstützung im Alltag auch über diese WhatsApp-Gruppe stattfindet. Wenn die Distanzen eine gemeinsame Mahlzeit nicht erlauben, bleibt der Austausch von Rezepten in der Familien-WhatsApp-Gruppe.

Beispiel WhatsApp. Screenshot der Autorin.

Nicht nur der Alltag wird in WhatsApp-Gruppen geteilt, auch besondere Festlichkeiten. In der gemeinsamen Tagebuchdurchsicht mit Haya, einer meiner Forschungspartner_Innen, kam beispielsweise eine Hochzeit in Syrien vor. Dabei handelte es sich um die Hochzeit einer guten Freundin von Haya. Ihre beiden besten Freundinnen hielten sie über die Geschehnisse und die Stimmung auf der Hochzeit mit Live-Updates, Text- und Sprachnachrichten, und mit Hilfe von Fotos und Emojis, am Laufenden. Dies alles geschah in der WhatsApp-Gruppe, über die die drei Freundinnen seit der Flucht von Haya 2015 aus Syrien im täglichen Kontakt stehen.

Beispiel WhatsApp. Screenshot der Autorin.

Diese Beispiele zeigen, dass digitale Tagebücher einen umfassenden Einblick in die Nutzung neuer Kommunikationsmedien in Kontexten von Migrations- und Fluchterfahrung bieten können. Sie geben Einblick in die vielfältigen Themen, die mit transnationalen Sorge- und Verantwortungsbeziehungen einhergehen. Sie geben außerdem Auskunft über die Regelmäßigkeit des Kontakts und über die gewählte Form der Kommunikation (Applikation, Bild, Ton, Video etc.). Die gemeinsame Durchsicht ist es dann, die zur Reflexion einlädt. Vieles erschloss sich mir erst durch diesen zweiten Schritt. Hier erfuhr ich zum Beispiel von den Schwierigkeiten der digitalen Kommunikation, v.a., wenn Familienangehörige und Freund_Innen über mehrere Jahre ausschließlich von dieser abhängig sind. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder betont wie wichtig die visuelle Kommunikation – auch Emojis – sind, um Emotionen zu vermitteln und so den richtigen ‹Ton› zu finden. Die digitalen Tagebücher geben auch Einblick in genau diese visuelle Komponente der Kommunikation und laden zu einer weiteren Bildanalyse/visuellen Analyse ein.

Eine stark partizipative Methode

Abschließend sei betont, dass die Methode des digitalen Tagebuchs eine stark partizipativ ausgerichtete Methode ist, die auf der Mitwirkung der Forschungspartner_Innen aufbaut. Da diese Methode verhältnismäßig zeitintensiv ist, sind es im REFUGEeICT Projekt nur ausgewählte zentrale Forschungspartner_Innen, die ich in diesen Teil der Forschung einbeziehe. Trotz der Tatsache, dass das digitale Tagebuch einen gewissen Zeiteinsatz verlangt, konnte ich feststellen, dass es einen Mehrwert für die Forschungspartner_Innen bieten kann. Das Erstellen des Tagebuchs und die Reflexion darüber wurde von meinen Forschungspartner_Innen grundsätzlich als ein interessanter und aufschlussreicher Prozess beschrieben. Sie konnten durch die Selbstbeobachtung neue Erkenntnisse über ihre Medienpraktiken und über ihre Care-Beziehungen gewinnen.

Auch wenn die Methode der digitalen Tagebücher einen zentralen Stellenwert in meinem Forschungsprojekt einnimmt, so ist sie integriert in eine ethnographische Feldforschung, die digitale Medienpraktiken eingebettet in weitere Lebenszusammenhänge versteht, wobei die Unterscheidung in Online und Offline nicht zielführend ist. Die Methode der digitalen Tagebücher, wie ich sie für meine Forschung zur Anwendung bringe, spiegelt diese Vermischung von Online und Offline wider. Auch wenn es hier um Online-Praktiken geht, so werden diese nicht Online erforscht, sondern im Gespräch und im gemeinsamen Reflexionsprozess.

Bevorzugte Zitationsweise

Palmberger, Monika: Digitale Medien und Methoden . Über digitale Tagebücher als ‹Media of Care› und Narrative der Flucht. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/open-media-studies-blog/digitale-medien-und-methoden-7.

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