Ausschnitt aus dem Deckblatt des Koalitionsvertrags 2021–2025.
Ansätze zu Medien, Digitalisierung und Bildung sind in der Politik vorhanden, aber es fehlt an Klarheit und Reflexion
Eine Stellungnahme der Foren Bildung und Digitalisierung der GfM zum neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung
Der folgende Beitrag erschien zuerst auf der Website der GfM und erscheint ebenfalls in der Zeitschrift Medienimpulse.
Der Entwurf des Koalitionsvertrags von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 24.11, der am 07.12. von den drei Parteien unterzeichnet wurde, beinhaltet eine Vielzahl an Aussagen zu den Themen Medien, Bildung und Digitalisierung, welche richtungsweisend für die zukünftige Politik sein sollen. Die Foren Bildung und Digitalisierung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) möchten in der folgenden Stellungnahme verdeutlichen, wie diese Aussagen aus medienwissenschaftlicher Perspektive einzuordnen und zu bewerten sind. Diese Perspektive gründet sich auf verschiedene geisteswissenschaftliche Theorietraditionen, die seit den 1980er Jahren als Medienwissenschaft akademisch institutionalisiert sind und seit dem eine Vielzahl differenzierter Theorien, Modelle, Methoden und Analysen zu analogen und digitalen Medientechnologien und -kulturen entwickelt haben. Sie zeichnet sich – bei aller Diversität innerhalb des Fachs – durch folgende Aspekte aus: a) einen ‹starken› Medienbegriff, der Medien nicht als neutrale und damit rein instrumentelle Kommunikationsmittel versteht, sondern als prägende Voraussetzungen für jedwede Produktion von Bedeutung, b) die Untersuchung medienkultureller Praktiken der Hervorbringung und Aneignung von Medieninhalten und -technologien, sowie c) eine kritische Haltung, die Fragen der strukturellen Machtbeziehungen und Subjektpositionierungen in und im Kontext von Medien, ihren Strukturen, Architekturen, Netzwerken und Prozessen problematisiert. Aus diesen seit mehreren Dekaden praktizierten Perspektiven arbeiten wir im Folgenden die Stärken und Schwächen des aktuellen Koalitionsvertragsentwurfs heraus. Abschließend formulieren wir ein Angebot, wie sich die Medienwissenschaft in die Gestaltung zukünftiger Politik im Hinblick auf Bildung und Digitalisierung einbringen kann.
Stärken und Potenziale des Vertrags aus medienwissenschaftlicher Sicht
Das Vorhaben, «Digitalkompetenz» zu stärken,1 ist begrüßenswert. Hier bleibt jedoch unklar, was damit gemeint ist – nicht zuletzt, weil der Digitalisierungsbegriff unspezifisch bleibt (s.u.). Aus medienwissenschaftlicher Sicht müsste sie sich in erster Linie durch die Fähigkeit auszeichnen, sowohl die technischen Grundlagen digitaler Medien als auch die damit verbundenen medienkulturellen Praktiken zu erkennen, zu verstehen sowie ihre Konsequenzen auf Subjekte und ihre Selbst- und Weltverhältnisse zu reflektieren. Im Hinblick auf Bildung ist damit die ebenfalls begrüßenswerte Förderung des Betriebs und der Vernetzung von «Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung»2 verbunden, denn auch hier wird wichtig sein, die gerade skizzierte Form der «Digitalkompetenz» zu fördern, statt sich auf Handhabungswissen und Lernförderlichkeitsfragen zu beschränken.
Der angekündigte «Kampf gegen Extremismus»,3 die «Arbeit gegen Hass im Netz»4 oder auch die vielfach erwähnte Förderung von Vielfalt und Demokratie5 schließen an die kritische Tradition der Medienwissenschaft an. Doch leider finden Begriffe wie Medienreflexion, Medienkompetenz oder Medienbildung keinen Eingang in diese Abschnitte, obwohl sie aus unserer Sicht maßgebliche Zugangsebenen zu diesen großen gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen sind.
Das Recht auf Verschlüsselung und Souveränität6 gegen Überwachung 7 zu etablieren und zu sichern, ist ebenso ein wichtiges Ziel. Der Stopp «der Weitergabe von Überwachungstechnologien an repressive Regime sowie der Schutz ziviler Infrastruktur vor Cyberangriffen»8 sowie die Garantie der Netzneutralität – nicht im Sinne einer Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit, sondern als Gleichstellung und Gleichheit der Zugänglichkeit im positiven Sinne – ist als Ziel begrüßenswert. Darüber hinaus unterstützen wir die mehrfach angesprochene Stärkung von Teilhabemöglichkeiten im Kontext von bzw. ‹durch› Bildung und digitale Medien sehr.9 Hier ist allerdings entscheidend, dass Partizipation auch im Sinne der Mitgestaltung und Mitentscheidung über Lebenswelten durch die Betroffenen ernst genommen wird und sich nicht im ‹participation washing› und in der ‹Ruhigmachung› erschöpft. Insbesondere ist im Blick zu behalten, dass digitale Medien zwar viele Potenziale für Teilhabe haben, diese sich jedoch zum einen bestimmte Individuen und Gruppen ausschließen und zum anderen auch nicht automatisch umsetzen. So haben nicht alle Menschen Zugang zu und/oder hinreichende Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Diejenigen, die Zugang und Kompetenzen haben, nutzen darüberhinaus diese nicht immer und für alle Belange. Gerade im Bildungsbereich ist die im Vertrag erwähnte «Lehrmittelfreiheit»10 immens wichtig, um Teilhabe zu ermöglichen. Dies ist unbedingt gut zu reflektieren. Es gilt zu vermeiden, dass die im Vertrag immer wieder aufscheinende Technikgläubigkeit und die Gleichsetzung von «Digitalisierung» und Verbesserung die Herausforderungen und Probleme überdeckt. Beispielhaft sind hier die beiden herausgehobenen Punkte «Gesetzgebungsportal»11 sowie «Planungs- und Genehmigungsprozesse»12 zu betrachten. In beiden Fällen wird die Möglichkeit der Kommentierung in Aussicht gestellt. Dies sollte ohne zusätzliche Software erreicht werden, vorzugsweise browserbasiert. Damit ließen sich Barrieren hinsichtlich der Zugänglichkeit minimieren. Das Gesetzgebungsportal ist im Wesentlichen textbasiert, was eine einfache Kommentierung ermöglicht. Für Systeme des «Building Information Modelling» ist zusätzlich die Möglichkeit einer grafischen oder gar barrierefreien Annotation und Teilhabe notwendig. Insgesamt sind in beiden Fällen die mehrfach geforderten offenen Standards unverzichtbar. Die so geöffneten Datenbanken, Systeme und Quellen13 müssten dabei gesichert werden, so dass ihre Inhalte auch offen bleiben und nicht an anderer Stelle proprietär verkauft werden. Das lässt sich durch entsprechende Lizenzen und Nutzungsvereinbarungen regulieren (Copyleft, Creative Commons-Lizenzen oder auch genossenschaftliche Abwandlungen davon).
Der Digital Service Act (DSA) und der Digital Markets Act (DMA),14 die im Vertrag erwähnt werden, sind Komponenten des neuen europäischen Datenschutzrechts, das allerdings bislang nur als Entwurf existiert. Ihre Bedeutung liegt darin, dass mit ihrer Hilfe die großen Player, die z.Z. ein Oligopol bilden, eingehegt werden können, gerade auch im Hinblick auf das im folgenden Absatz angesprochenen Problemfeld «Kampf gegen Extremismus» etc. Weder DSA noch DMA sind bisher in Kraft getreten. Es ist darauf zu bestehen, dass die trotz aller guten Absichten eher doch recht unverbindlichen Aussagen im Rahmen der noch ausstehenden Verhandlungen nicht weiter verwässert werden. Auch die Einführung eines für alle zugänglichen, allgemein einsetzbaren, digitalen Euros15 darf nicht mit einer Privatisierung dieser wichtigen Infrastruktur einhergehen. Die angestrebte Barrierefreiheit darf nicht zu Gunsten einer schnellen, aber gewinnorientierten Lösung aufgegeben werden.
Schwächen des Vertrags aus medienwissenschaftlicher Sicht
Der Begriff «Digitalisierung» bleibt im Vertragsentwurf unterbestimmt. Was genau damit gemeint ist, wird nicht näher definiert. In erster Linie wird «Digitalisierung» als Label für abstrakt bleibende Maßnahmen verwendet, die verschiedene Dinge «leichter», «schneller», «effizienter» etc. machen sollen. «Digitalisierung» wird also in ein technikzentriertes und technikgläubiges Fortschrittsnarrativ integriert, das davon ausgeht, «Digitalisierung» würde die jeweiligen Dinge qua Digitalität verbessern. Das trifft auch auf den Bereich Bildung zu, insofern von «digitaler Bildung» und «digitaler Lehre» die Rede ist, ohne zu spezifizieren, was damit gemeint ist. Hier ist es aus unserer Sicht essentiell, das abstrakte Fortschrittsnarrativ zu verabschieden und stattdessen in konkreten Kontexten kritisch zu prüfen und zu reflektieren, was digitale Medientechnologien leisten können, welche medienkulturellen Praktiken damit verbunden sind/werden müssten und welche Folgen sich daraus für die involvierten Subjekte und die Gesellschaft ergeben – und ob das jeweils wünschenswert ist. Das oben erwähnte Spannungsfeld zwischen Inklusionspotenzialen und Exklusionsmechanismen gilt es unbedingt zu reflektieren, sowohl hinsichtlich der politischen Partizipation als auch der Teilhabe an Bildungsmöglichkeiten. Fast gänzlich ausgespart sind die vielfältigen Probleme, welche die Herstellung und Nutzung digitaler Medien für die Umwelt mit sich bringt. So werden weder der Energiebedarf, der Abbau seltener Erden oder das Anfallen von Elektroschrott explizit erwähnt. Stattdessen werden lediglich Klimaneutralität und Umweltmanagement von Rechenzentren, die Zertifizierung von IT-Beschaffungen des Bundes und die Verfügbarkeit von Ersatzteilen und Softwareupdates thematisiert. Dass ein Koalitionsvertrag mit Beteiligung der Grünen hier einen so großen blinden Fleck aufweist, halten wir für bemerkenswert und bedenklich. Und ein weiterer zentraler Punkt: Gegen eine Modernisierung des Landes, die dem Gemeinwohl dient ist nichts einzuwenden. Die Schaffung von Anreizen für private Investitionen überzeugt jedoch nur, wenn sie auch stiftend wirkt und damit die Schaffung von digitalem Gemeingut, auch commons genannt, fördert und voran bringt. Generell muss mit der Öffnung und Zugänglichmachung digitaler Produktion auch die maßlose Kommerzialisierung reguliert, wenn nicht verhindert werden. Hier zeigen digitale Medienkulturen, die sich am Prinzip der freien Software (Free/Libre Open Source Software) orientieren, starken Zuwachs. Großes Potential, eine Allgemeinkultur des bewussten Umgangs mit digitalen Technologien in Anlehnung an den bewussten Umgang mit Lebensmitteln und Zeit zu werden, bildet beispielsweise das sogenannte ‹Slow Computing›.
Jedwede der im Vertrag angesprochenen Maßnahmen, die auf Medien, Digitalisierung und Bildung zielen, muss diese Komplexe kritisch reflektieren. Dies gilt insbesondere für Vorhaben zur Lernmittelfreiheit sowie zur Förderung von Ausstattung und Qualifizierung z.B. im Rahmen des Digitalpakts, des «Zukunftsvertrags Studium und Lehre stärken», dem Programm «Digitale Hochschule» und der «Qualitätsoffensive Lehrerbildung».
Beiträge der Medienwissenschaft zur zukünftigen Politikgestaltung
In unserer Perspektive ist medienwissenschaftliche Expertise sowohl für die Ausgestaltung der hier skizzierten Stärken und Potenziale als auch für die Reflexion der Problem- und Leerstellen notwendig. So können die kritischen Analyse- und Reflexionsperspektiven der Medienwissenschaft auf die gegenwärtigen Medienkulturen im Kontext analoger und digitaler Medien helfen, die guten Ansätze in fundierte Maßnahmen zu überführen, Unklarheiten zu präzisieren und medien(technologie)bezogene Aspekte in den Blick der Politik rücken, die bisher zu wenig Beachtung finden. In Ausschüsse, Beratungskontexte oder auch die Umsetzung konkreter Maßnahmen wie z.B. die Schaffung eines «Kompetenzzentrums für digitale Kultur», die Qualifizierung von Lehrenden, die Ausbildung von Fachkräften und die (Persönlichkeits-)Bildung von Heranwachsenden sollten Akteure mit medienwissenschaftlicher Expertise einbezogen werden, um die kritische Medienreflexion im Hinblick auf kulturelle, politische, soziale und ökologische theoretisch, analytisch und historisch zu fundieren. Wir sind bereit, den angekündigten politischen Auf- und Umbruch zu begleiten, ihn kritisch zu reflektieren und konstruktiv mitzugestalten.
- 1 SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Berlin 2021, 15.
- 2 Ebd., 96
- 3 Ebd., 107
- 4 Ebd., 120
- 5 Ebd., z.B. 116f.
- 6 Ebd., 16
- 7 Ebd., 17f.
- 8 Ebd., 144
- 9 Ebd., z.B. S. 10, 15, 16, 93 und 100
- 10 Ebd., 96
- 11 Ebd., 10
- 12 Ebd., 12
- 13 Ebd., 16
- 14 Ebd., 124
- 15 Ebd., 172
Bevorzugte Zitationsweise
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