Öffentliche Erregung um sexuelle Belästigung – Ein Phänomen der Überdetermination?
von Gabriele Dietze
Sexismuskritik als ureigenes Terrain des Feminismus trägt einen unerwarteten und späten Sieg davon. So scheint es. Viele zwischenzeitlich verstummte oder nicht mehr als Sexismus-Kritikerinnen aufgefallene Feministinnen melden sich zu Wort und bekommen in prominenten Blättern und Sendeformaten Platz eingeräumt. In den USA reißen die Enthüllungsgeschichten über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht ab. Die Welle hat Europa erreicht. In Frankreich appelliert man an Macron, die opferfeindliche Gesetzeslage zu überprüfen, in England ist die politische Klasse unter Beschuss, in der Schweiz muss ein liberaler Islamwissenschaftler um seine Reputation fürchten. Twitterlisten wie #metoo oder #balancetonporc versammeln Opfer, bieten entlastende Kommunikation und Netzwerk-Aktivismus.
Haben wir Feministinnen das nicht genauso gewollt? Es sieht so aus, als habe sich der Lange Marsch durch die Institutionen und Akademien gelohnt und man könne jetzt die Früchte genießen. Warum kommt es mir aber trotzdem so vor, als sei ich im falschen Film? Dauernd denke ich, ich träume.
Die Art und Weise, wie Träume funktionieren, ist gar kein schlechter Ausgangspunkt, das seltsame Phänomen des plötzlichen Interesses und Diziplinierungswillens für sexuelle Belästigung zu untersuchen. Träume sind nach Freud überdeterminiert, womit er meint, dass die «meisten Traumgedanken ausgiebigste Berührungen aufweisen» und so «Knotenpunkte» darstellen, in denen «viele der Traumgedanken zusammentreffen».Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II/III, Frankfurt/M. (Fischer) 1966; folgende Seitenangabe aus: Taschenbuch-Ausgabe der Fischer-Bücherei, Bd. VI: Die Traumarbeit, 239. Die Traumdeutung müsse daher Vieldeutigkeiten Rechnung tragen.
Und in der Tat kommen in der plötzlichen Attraktivität des Themas sexuelle Belästigung viele unterschiedliche Motive zusammen. Manche liegen auf Meta-Ebenen, manche in den politischen Niederungen, manche begleichen andere Rechnungen mit den Mitteln von Sexualpolitik, ein Phänomen, das wir nach dem «Ereignis Köln» in Deutschland beobachten konnten. Die Gewalt der Diskursexplosion um ein lokales Ereignis zeigte an, dass es sich nur marginal um das Thema des Diskurses gehandelt haben kann.
Zurück zu Motiven aus Meta-Ebenen. Eines davon betrifft den Feminismus selbst und führt zu einem Grundwiderspruch, den man auch das «erfolgreiche Scheitern» des Feminismus nennen könnte. Angelika Wetterer hat diesen Terminus von Luc Boltanski und Eve Ciapello geborgt, die von ‹erfolgreichem Scheitern› der Künstlerkritik am Kapitalismus und dessen Kraft, alle progressiven Kräfte zu integrieren und damit für einen Umsturz unwirksam zu machen, sprechen.1 Im Feminismus, so Wetterer, sei ähnliches geschehen; zwar habe es Fortschritte im Geschlechterverhältnis und neue Gleichheiten gegeben, ebenso lasse sich aber ein Trend zur Re-Traditionalisierung der Familienverhältnisse beobachten, z.B. nach dem ersten Kind oder im Alter. Dieses «Zurückschnappen» jedoch sei nicht mehr verbalisierbar, weil man eine Emanzipationsillusion habitualisiert habe.2 Der ebenfalls habitualisierte feministische ‹Aufschrei› in den Konjunkturen der Empörung über sexuelle Belästigung würde demnach die Tatsache kaschieren, dass im ‹commodified› Feminismus die radikale Sexismuskritik weitgehend aufgegeben worden oder, anders gesagt, erfolgreich gescheitert ist.
Bei einer zweiten Meta-Ebene der Aufregung um sexuelle Belästigung könnte es sich um eine Art von ‹Wiederkehr des Verdrängten›3 handeln. Ein Charakteristikum des Konzepts besteht darin, dass das Verdrängte an anderer Stelle, z.B. als Fehlleistung, Symptom oder eben als Traum, wieder erscheint. In den USA ist dieses Phänomen auf einer anderen Metaebene unübersehbar am Phänomen Donald Trump zu beobachten. Dieser Mann wurde zum Präsidenten gewählt, obwohl er für alle Welt via Richtmikrophon hörbar mit seinen sexuellen Übergriffe geprahlt hatte und obwohl bislang 16 (in Worten sechzehn) Frauen ihn der Belästigung bezichtigt haben. (Von zwölf Frauen existieren Bilder, die die möglichen Opfer im ‹Beuteschema› des Präsidenten platzieren, weil sie alle irgendwie seiner Frau Melania ähnlich sehen). Die anhaltende Hochkonjunktur der Enttarnung anderer Männer lässt sich als Symptom der Empörung lesen, dass er damit durchgekommen ist. (Nachtrag, 25.12.2017: Die Liste von Frauen, die Trump der sexuellen Belästigung anklaren, ist auf 22 angewachsen, vgl. Süddeutsche Zeitung: Eine verstörende Liste. Anm. d. Red.)
Verdrängung geht, wie oben gezeigt, in der Regel mit Verschiebung einher. Die direkteste Verschiebung von Trumps Sexismen zeigt sich in der nicht abebbenden Erregung um den republikanischen Senator Ray Moore aus Alabama. Dieser wurde in einer Enthüllungsstory der Washington Post beschuldigt, ein vierzehnjähriges Mädchen (nach amerikanischem Recht handelt es sich hier um Päderastie, child molesting) und ein paar weitere Teenager um die 16 belästigt zu haben, als er selbst 32 Jahre alt war. Die Geschichte ist von höchster politischer Bedeutung, weil sich dieser Senator am 22. Dezember dieses Jahres einer Nachwahl gegen einen demokratischen Kandidaten stellen muss. Sollte letzterer gewinnen, wäre im Senat, der zweiten Kammer der amerikanischen Gesetzgebung, die knappe republikanische Mehrheit gefährdet, die gebraucht wird, um eine immens ungerechte Steuerreform zugunsten der Superreichen durchzubringen. Roy Moore, ein bizarrer Fundamentalist, der bereits zwei Mal sein Richteramt aufgeben musste, weil er sich weigerte, Bundesgesetzen zu folgen und stattdessen auf die Zehn Gebote verwies, bestreitet alle Anschuldigungen von inzwischen zehn Frauen plus Dutzender bestätigender Zeug_innen.
Präsident Trump, der sonst ultraschnell über die Verfehlungen anderer twittert, wartete nach seiner Asienreise zehn Tage, bis er sich äußert – nicht allzu überraschend – zugunsten von Moore, da dieser ja schließlich alles abstreite und deshalb kein Urteil gefällt werden könne. Dass es Trump in Wirklichkeit um die Wahl des republikanischen Mehrheitsbeschaffers gegen den Demokraten Jones geht, sagt er im selben Interview: «We don't need a liberal person in there, a Democrat, Jones. I've looked at his record. It's terrible on crime. It's terrible on the border. It's terrible on military […] I can tell you for a fact we do not need somebody who's going to be bad on crime, bad on borders, bad for the military.»
Es ist unübersehbar, dass Trump von sich selbst spricht, wenn er über Roy Moore spricht. Auch er selbst bestreitet jeglichen Übergriff, obwohl das Verdrängte kurz vor der Wiederkehr steht. Denn das Schweigen der liberalen Medien zu Trumps eigener Belästigungsgeschichte bröckelt. Am Mittwoch vor Thanksgiving 2017 hat der erste Mainstream-Late-Night-Talk-Show-Moderator einer großen Fernsehanstalt (CBS), Steve Colbert, eine Parallele zu Trump selbst gezogen.
Schlägst du meinen Sack, nehm ich deinen Esel. Natürlich haben die Republikaner auch einen demokratischen Belästiger im Senat ausgegraben. Ein paar Tage nach dem Artikel zu Moore wurde der demokratische Senator Al Franken, ehemaliger Stand-Up-Comedian, von seiner Kollegin Leeann Tweeden, die eine Radiosendung in Los Angeles moderiert und ständiger Gast in der rechten FOX-Show Hannity ist, angeklagt, er habe sie bei einer Tournee zu Frontsoldaten in Afghanistan gegen ihren Willen geküsst. Zusätzlich tauchte ein Foto auf, das Franken selbst in Facebook eingestellt hatte. Es zeigt ihn, wie er auf dem Heimflug von der Front seiner schlafenden Kollegin an die Brüste greift (oder jedenfalls so tut).
Abb: SFGate, The Latest: Trump ridicules Franken over groping charge, 16.11.2017
Al Franken war als möglicher demokratischer Gegenkandidat für die nächste Präsidentschaftswahl im Gespräch und hat im Übrigen durchaus Verdienste bei der Unterstützung frauenfreundlicher Gesetzesvorlagen.
Als liberal gelten auch der geoutete New York Times-Reporter, Mr. Thrush, ein Spezialist in der kritischen Trump-Watch, und der beliebte Talk-Show Moderator Charlie Rose. Im Unterschied zu den angeschuldigten Republikanern, die in der Regel alles bestreiten, überschlagen sich die Liberalen mit Entschuldigungen, Ankündigungen radikaler Therapien und Empathie mit ihren Opfern. Für liberale Frauen ist die Welle ‹progressiver› Belästiger durchaus eine Zerreißprobe. In der NYT-Kolummne The men we used to admire schreibt Michelle Goldberg, dass einige Frauen auf jeden Fall verlieren, «either the moral high-ground, or the men we need, admire, and even love».
Kommen wir zurück zur Überdetermination. Wir haben gesehen, dass die gegenwärtige Skandalisierung von sexueller Belästigung zwar auf den unterschiedlichsten abstrakten und konkreten Verschiebungsebenen stattfindet, aber zu einem explosiven Gemisch zusammenfließt. Die Frage ist nun, was ein solches überdeterminiertes Konglomerat bewirken kann.
Der französische Philosoph Louis Althusser entwickelt dazu einen Begriff, den er «überdeterminierten Widerspruch» nennt. Ein solcher könne gleichzeitig ein Grund für Revolution oder einer für anhaltende Stagnation sein. Als revolutionäres Beispiel wählt er die russische Revolution, wo die Widersprüche eines ausgebeuteten städtischen Proletariats, mittelalterlicher Leibeigenschaft auf dem Land, eine verkommene herrschende Aristokratie und ein schwaches, korrumpiertes Bürgertum zu dem berühmten Diktum Lenins führten, dass die einen (die Ausgebeuteten) nicht mehr wollen und die anderen (die Herrschenden) nicht mehr können.4
Ebenso könne, so Althusser, eine Fülle von sich gegenseitig ausschließenden Widersprüchen zu einem Stillstand der Entwicklung führen, wie es etwa im Wilhelminischen Deutschland vor 1914 der Fall war, wo das Bürgertum eine eigene Revolution und jegliche Demokratie zugunsten von Wirtschaftsfreiheit aufgeben hatte, eine veraltete Junker- und Offiziers-Clique neben einem autokratischen Kaiser herrschte und Sozialisten und Frauenrechtlerinnen durch Versammlungsverbote gefesselt waren.5
Es bleibt abzuwarten, ob die überdeterminierte Aufmerksamkeit für sexuelle Belästigung nach der einen oder anderen Richtung ausschlägt. Oder sagen wir es bescheidener, welche Ergebnisse die kulturelle Arbeit des Topos möglicherweise zeitigt.
Man sollte dabei das Instrument nicht mit seinem Gegenstand verwechseln. In den USA ist es im Bereich des Denkbaren, dass die Skandalisierung von sexual harassment sich als ein wichtiger Hebel erweist, Trump zu stürzen. Seit er vom Kandidaten zum Präsidenten avanciert ist, wurden die journalistischen Recherchen um sexuelle Belästigung im Zusammenhang mit seiner Person eingestellt. Eine große Anzahl von Medien kritisierte ihn weiterhin politisch, ließen aber die Sexismuskritik fallen. Sicherlich als Verbeugung vor Aura und Macht des Amtes. Trumps rein taktisches Verhältnis zu den sexuellen Verfehlungen von Parteifreunden könnte aber zu erneuten Rückschlüssen auf sein eigenes Verhalten führen und den Tabubruch des Präsidentensturzes ermöglichen oder zumindest befördern.
Ob damit die Grundstruktur des Heterosexismus als einer körperlich gefühlten und körperlich ausgetragenen Überlegenheitsüberzeugung an der Wurzel bekämpft werden kann, bezweifle ich. Dieser – wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe – ‹Androsadismus›6 macht Spaß und basiert auf einer habitualisierten affektiven Wohlfühlgrundlage, die nicht durch Aufklärung und möglicherweise auch nicht durch Abschreckung und Strafe beseitigt werden kann. Ihr müsste die Machtbasis entzogen werden, auf der sie wuchert. Aber ein Sturz des Heteropatriarchats – denn um nichts weniger ginge es hier – ist nicht in Sicht. Meine historische Erfahrung als ‹Altfeministin› zeigt, dass die gegenwärtige nicht die erste Konjunktur von Belästigungskritik ist und dass sie, wenn sie früher aufgetaucht war, jedes einzelne Mal ‹erfolgreich gescheitert› ist. Was ich damit allerdings nicht sagen will ist, dass ich mich nicht wie eine Schneekönigin über jedes Arschloch freue, das erwischt und beschämt wird.
- 1Luc Boltanski, Eve Chiapello, Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, in: Berliner Journal für Soziologie 11, 2001, 459-478.
- 2Angelika Wetterer, Das erfolgreiche Scheitern feministischer Kritik. Rhetorische Modernisierung, symbolische Gewalt und die Reproduktion männlicher Herrschaft, in: Erna Appelt, Brigitte Aulenbacher, Angelika Wetterer (Hg.), Gesellschaft. Feministische Krisendiagnosen. Münster (Westfälisches Dampfboot) 2013, 246-266.
- 3Sigmund Freud, „Die Verdrängung“ [1915], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt/M. (Fischer) 1966, 247-264.
- 4W. I. Lenin, Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus, 1905.
- 5Louis Althusser, Contradiction and Overdetermination [1962], in: ders., For Marx, London 1979, 87-128, hier 99.
- 6Gabriele Dietze, Ethnomasochismus und Androsadismus. Bausteine einer geschlechtersensiblen Affekttheorie des Rassismus, in: Brigitte Bargetz, Eva Kreisky, Gundula Ludwig (Hg.), Dauerkämpfe. Feministische Gegenwartsanalysen, Frankfurt/M. (Campus) 2017, 229-238.
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