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Screenshot eines Smartphones, das die Textmessage "Are you feeling ok?" zeigt, darunter steht Gay Panic

Still aus der Serie Heartstopper @Netflix

GAAAP_ The Blog

Heartstopper

Ein Sommerlochtraum

13.8.2023

English Version

Nachdem ich im letzten Sommer völlig süchtig nach P-Valley war (eine Erfahrung, die mich immer noch ab und zu beim Träumen von der Gründung einer queeren Pole-Dance-Gruppe in Berlin heimsucht), habe ich mein Herz diesen Sommer wieder an eine Serie verloren. Warum ich in nur einer Woche auf die britische Coming-of-Age/Coming-out-Serie Heartstopper abgestürzt bin, hat sicher Gründe eines Sommerloch bedingt anderen Freizeitverhaltens, aber auch mit dem Interesse an einem Aspekt zu tun, den ich im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit queerer Theorie und Ästhetik bisher wenig berücksichtigt habe und der im Zusammenhang mit der unter dem Zeichen von Gen Z stehenden Neuverhandlung von Jugend zu tun haben könnte.
 
Which is interesting. So, I have questions.
 
Wahrscheinlich aber keine Antworten, da dies kein medienwissenschaftlich analytischer Text über die Serie sein soll, sondern ein assoziativer Kommentar, der sich vor allem um die Frage dreht, ob wir es hier mit einer asexuellen Ästhetik zu tun haben, die Geschlecht und sexuelle Orientierung als nur zwei Facetten queerer Machtkritik ausweist und die im Zuge dessen, dass in Besprechungen immer wieder gesagt wird, Heartstopper sei eine queere Utopie,1 das Potenzial einer Zukunft darstellt, die noch nicht ist, aber den Horizont unserer Politiken und unserer Sehnsucht illuminiert, wie es José Esteban Munoz beschreibt.2
 
Dass es sich bei Heartstopper um eine asexuelle Kritik handeln könnte, mag erst einmal überraschen, steht die Geschichte der zwei sich ineinander verliebenden cis-männlichen Jugendlichen Charlie Spring und Nick Nelson im Zentrum der Netflix-Verfilmung der Graphic Novels von Alice Oseman. Das seit der ersten Folge konsequent erzählte, anhand von animierten Comic-Elementen durch die Luft schwebender Blätter und Schmetterlinge visualisierte und mit Knistergeräuschen auditierte Schockverliebtsein (als einer möglichen Übersetzung von "heartstopper")3 der beiden Protagonisten wird, statt in der Zeitlichkeit jugendlicher Hast, in die Länge zweier Staffeln gezogen. Mit Hilfe eindeutiger Kapitelüberschriften, die den Lebenslauf einer am klassischen Drama orientierten ersten Liebe nur wenig kaschieren, wird minutiös die Gefühlslandschaft mit warmen, immer wieder in Regenbogen-Spektrallicht getauchten Farben ausgemalt.

 


Der erste Blick in Regenbogenfarben

Verliebtsein wird in der Zeitlichkeit der suspension erzählt; einer Zeit, in der dem kleinsten Detail die größte Bedeutung beigemessen wird und in der sich der 100. Kuss (und wir sehen vor allem in der zweiten Staffel nicht 100, aber – OMG – sehr viele) wie der erste anfühlt. Die Serie schafft es, die Zeit stillzustellen und das Sich-Verschleifen von Verliebtsein so herauszögern, dass eine*r hooked on love wird. Ähnlich wie es Nick in der letzten Folge der ersten Staffel beschreibt: "One starts love liking." Dieser dem Alter der Protagonist*innen entsprechende Idealisierung des Gefühls bzw. des Fühlens an sich, steht wiederum ein Maß einer aufgeklärten Reflektiertheit gegenüber, die nur vermeintlich mit Erwachsensein assoziiert werden kann. Zwar treten Erwachsene in ihrer Rolle elterlicher Verantwortung auf, es sind aber vor allem die Jugendlichen selbst, die regelrecht aufgeräumt Verantwortung füreinander übernehmen: So ist es nicht nur Nick, der Charlie vor homophobem Bullying schützt, sondern ist es Charlies Freund Tao, der seiner besten Freundin Elle während ihrer Transition im extradiegetisch erzählten Schuljahr zuvor zur Seite gestanden hat. Zu dieser stets konsensorientierten und konfliktauflösenden Kommunikationsweise der Jugendlichen passt, dass im Gegensatz zu den Serien Sex Education und Euphoria, in denen Sexualität nicht nur diskursiv, sondern explizit als inhärenter Teil queerer Jugendkultur zum Ausdruck kommt, die Lustgrenze nie über den Kuss hinausgeht bzw. der Kuss dergestalt romantisiert wird, dass er nicht einmal mehr als Stellvertreterrepräsentation für Sex dient. Verglichen mit der sexuell aufgeladenen Konnotation des Vampirbisses/-kusses, wie er in True Blood regelrecht zelebriert wird, ist auch der in einem Knutschfleck endende Kuss von Nick auf den Hals von Charlie das von Erregung bereinigte Gefühl des Verliebtseins. Die Überraschung, überhaupt zu so etwas wie einem Kutschfleck in der Lage zu sein, bezeugt die Vorstellung einer von sexueller Lust befreiten Intimität.

Oh, my God, es ist ein Knutschfleck


An den Stellen, an denen Verlangen doch ins Spiel kommt, wird die Szene entweder unterbrochen oder ins uneigentliche Sprechen der Andeutung ausgewichen („I didn’t think we‘d do ... that right now.“, „I do... I do want to“). So distinguiert sich über emotionale Zustände und Ängste ausgetauscht wird, so sehr bleibt das Sprechen über queeren, schwulen Sex oder bisexuelles Begehren eine Leerstelle oder ein – jedenfalls durch mich (generationenbedingt?) – kaum mehr entschlüsselbarer Code.
 
Zugegeben: Mich lässt das etwas ratlos zurück, schlichtweg weil ich mich im Rahmen meiner Beschäftigung mit Queerer Theorie viel mit schwulem Sex und queerem Begehren im Sinne eines affektiven Potenzials zur Transgression normativer Erwartungen an Körper und psychische Gesundheit auseinandergesetzt habe und Intimität als kritischen Verhandlungsort gesellschaftlicher Vorstellungen von Familie und Reproduktion wichtig finde. Gleichzeitig muss ich an Heather Loves Auseinandersetzung mit der spinster als einer queeren Figur denken.4 Diese literarische Figur zieht Aufmerksamkeit auf Einsamkeit und impossibility als gelebte Erfahrung aufgrund der Feindseligkeit von Gesellschaft. Sie fungiert somit als analytisches Brennglas für gesellschaftliche Missverhältnisse. Als filmische Figur ist sie auch im Film Moonlight zentral. Einsamkeit und sexuelle Enthaltsamkeit Schwarzer schwuler Männlichkeit verweisen auf Rassismus und toxische Männlichkeitskultur in Schwarzen Communities. Das meint, dass sich in Reaktion auf die dehumanisierende und erniedrigende Erfahrung des Rassismus eine Idealisierung von Cis-Maskulinität, Heterosexualität und Familiarität in Schwarzen Communities herausgebildet hat. Die Tragik des Protagonisten Chiron besteht darin, dass die Unmöglichkeit, als Schwarzer schwuler Mann zu existieren, mit Hypermaskulinisierung und Gewalt kompensiert wird.


Diese Kompensation lässt sich – als Nachklapp zu P-Valley, meinem „Heartstopper“-Moment in 2022 – hinsichtlich des Schauspielers J Alphonse Nicholson beobachten. Mir scheint, dass er sich in Folge seiner Rolle als Lil Murda, also eines Schwarzen Gangsta Rappers, der sich in Uncle Clifford, den Schwarzen, gender-bending schwulen Besitzer des Pole-Dance-Clubs Pussy Valley, verliebt, bewusst/unbewusst dazu veranlasst sah, überbetonen zu müssen, dass er heterosexuell und Vater sei. Die groß inszenierten Hochzeitsfotos können als Kulmination dessen verstanden werden, den Möglichkeitsraum schließen zu wollen, er könne selbst schwul sein. Kit Connor, der Schauspieler, der in Heartstopper Nick Nelson, also den sich als bisexuell outenden Jungen verkörpert, scheint wiederum den – durch eine offensichtlich mittlerweile toxische Fankultur entstandenen – Druck zwar nicht mit der Beschwörung von Heterosexualität kompensieren zu wollen, aber mit einer Einkörperung eines bestimmten, nämlich muskelwehrhaften Männlichkeitsbildes.
 
Ohne hier zu tief in ferndiagnostische Psychogramme mir nicht weiter bekannter Schauspieler abzugleiten, meine ich, dass – und hier versuche ich Anschluss an meine Frage zu finden – Heartstopper eine Repräsentation asexueller schwuler Männlichkeit im Sinne einer Kritik an genau den gesellschaftlichen Verhältnissen ist, die Menschen dazu veranlassen, sich gemäß vermeintlicher Erwartungen zu verhalten. Insofern kann der scheue Ausdruck schwulen/bisexuellen Verlangens als ein Versuch verstanden werden, Gefühle gesellschaftlicher Zurückweisung in ein Moment romantischer Zuwendung zu übersetzen. Vielleicht ist das in Anbetracht virulenter Incel-Kulturen, die Gegenteiliges tun und (sexuelle) Zurückweisung in (misogynen) Hass umformatieren, tatsächlich eine queere Utopie. Eine queere Utopie, die noch etwas Nachholbedarf in Sachen Intersektionalität hat, da – obwohl Schwarze Protagonist*innen Teil des Sets sind – Rassismus keine Rolle spielt und auch Behinderung nur der Diversifizierung dient, nicht aber der Infragestellung von Ableismus zum Beispiel an Schulen, insbesondere an Kunsthochschulen. So irritiert, dass es ausgerechnet die*der rollstuhlfahrende Felix ist, die*der in der zweiten Staffel sagt, Kunsthochschulen seien der bessere Ort, unter anderem wegen der Partys.
 
Well, I can relate to that.
 
Und doch wissen wir im Zuge der Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch vor allem auch an Kunsthochschulen und vor allem auch aufgrund der Verwischung der Grenzen zwischen Vermittlung und Party um die Fragilität dieser Räume, die sich zumeist zuungunsten marginalisierter Personen auswirkt. Dass dem so ist, diskutiert wiederum die Serie. So sind nicht die Partys die queeren Heterotopien, sondern die Nebenschauplätze. Nicht auf der Tanzfläche wird die Narration zwischen Charlie und Nick vorangetrieben, sondern im Nebenraum. Um sich näherzukommen, braucht es nicht das Spotlight der großen Bühne. Im kleinen Raum daneben ereignet sich für die queere Geschichte das Wesentliche.5 Aus diesem kleinen Raum nicht herauszutreten, ist kein Verlust.
 
So, stay put becoming minor.
 
Zumindest bis zur Release der vierten Staffel von Sex Education 😊

 

  • 1Shirley Li: Heartstopper and the Era of Feel-Good, Queer-Teen Romances, in: The Atlantic, 11.5.2022, https://www.theatlantic.com/culture/archive/2022/05/heartstopper-netflix-love-victor-coming-out/629827/; Xualin Tham: Heartstopper season 2 smartly shatters the show's utopian vision of growing up queer, in: British GQ, 2.8.2023, https://www.gq-magazine.co.uk/article/heartstopper-season-2-shatters-queer-utopia.
  • 2José Esteban Muñoz: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York, London 2019, 1.
  • 3Vielen Dank an Martin Schleker für den Übersetzungshinweis.
  • 4Heather Love: Feeling Backwards: Loss and the Politics of Queer History, Cambridge, London 2007.
  • 5Gilles Deleuze: Kafka: Toward a Minor Literature, Minneapolis 1986.

Bevorzugte Zitationsweise

Köppert, Katrin: Heartstopper. A summer hole dream. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/en/online/heartstopper.

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