Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie II. Tod, Theorie und Fotokunst, Paderborn (Fink) 2015
Die Tode der Fotografie II
Katharina Sykora: Die Tode der Fotografie II. Tod, Theorie und Fotokunst, Paderborn (Fink) 2015
«Den Spiegel mit Gedächtnis», so sagte der Fotograf Minor White einmal über die fotografische Praxis, solle man behandeln, «als wäre die Kamera eine metamorphotische Maschine und die Fotografie eine Metapher.»1 Diesem Versprechen der Verwandlung fotografischer Artefakte in sprachliche Chiffren folgt die Fototheoretikerin Katharina Sykora im zweiten Band ihrer groß angelegten Studie zu den – von Jacques Derrida nach dem Tod seines Freundes Roland Barthes so benannten – Toden der Fotografie. Die Wirkung der Verbindung von Fotografie und Tod gehe so weit, so die zentrale These Sykoras, dass die «sprach- und bildmächtigen Ergebnisse» an «einer Vervielfältigung des Denkens» arbeiteten (S. 21). Der Clou dieser Vervielfältigung des Denkens findet sich in Sykoras grundlegender These, dass der fotografische Pakt mit dem Tod nicht etwa die mortifizierende Qualität einer mechanischen Apparatelogik hervortreibt, sondern der «tote Spiegel der Welt» immer wieder durch Belebungen, Re-Animationen und Beseelungen der Rezipienten in den Fluss des Lebens rückgeführt wird (S. 13). Dieser, in den letzten Jahren vor allem in der Filmwissenschaft diskutierte Topos2 einer paradoxalen Struktur zwischen Leben und Tod, der im Arsenal der filmischen Medien gespeichert scheint, wird in Sykoras Studie auf die Geschichte der Fotografie und ihre Metaphern bezogen und verbindet den ersten Band zu den sozialen Gebrauchsweisen der Totenfotografie mit dem vorliegenden zweiten Band zu Fototheorien und fotokünstlerischen Positionen. Die Gedanken zur Re-Animation wiedersprechen dabei jedoch diametral der formalen Gestaltung des Buches, das vorn und hinten von mehreren pechschwarzen Seiten eingefasst wird, als müsse man den Inhaltstext aus einem dunklen, abgeschiedenen Grab heben. Jenseits der Betriebsamkeit des Diskursgeschehens, das zwischen den Buchseiten tobt, wird hier die Fotografie in schwarz gehüllt und schweigsam zu Grabe getragen.
Entgegen des ersten Bandes der Studie von 2009, der die Totenfotografie im sozialen Gebrauch untersuchte und die Verschränkung der Trias von biologischem, sozialem und symbolischem Tod als Schwellenphänomene herausstellte, liegt der Schwerpunkt des zweiten Bandes auf der Fototheoriegeschichte des Todes in Verbindung mit künstlerischen Positionen. Der als systematische Diskursgeschichte ausgewiesene erste Teil des Buches führt nicht nur die Metaphern der Fototheorien zum Tod auf, sondern bohrt sich in das Diskursgeflecht der Denkfiguren hinein, das die mortifizierende Qualität der Fotografie in ihren verschiedenen, manchmal geradezu gegenteiligen Konnotationen aufzeigt: So kommt Sykora zu dem Ergebnis, dass der Fotoabzug einmal als Abdruck einer Negativform gefasst wird, in die sich ex negativo eine vergangene Präsenz einschreibt – die Abwesenheit des fotografischen Referenten ist hier konstitutiv für den fotografischen Akt (Barthes, Georges Didi-Huberman). Im anderen Fall regt die Fotografie zur positiven Denkfigur als Bewahrerin einer lebendigen Substanz der Wirklichkeit an (Oliver Wendell Holmes). Die Analyse dieser Konjunkturgeschichte des fotografischen Aktes zeigt, dass sie unmittelbar mit der Perspektivierung der fotografischen Konstellation verknüpft ist, wie sie Roland Barthes in seinem die fotografische Spur stark machenden Essay Die helle Kammer von 1980 einführt: Wie über den Konnex von Fotografie und Tod gesprochen und nachgedacht wird, ist entscheidend an die Scharfstellung der Perspektive des operator (Fotografen), des spectator (Betrachters) oder die sich durch eine gespenstische Qualität (welche Barthes das spectrum genannt hat) auszeichnende Eigenaktivität des fotografischen Abzuges gebunden. Aus der Sicht des aktiven Fotografen kann sich der operator als «Jäger» begreifen, der sich beispielsweise im Deutschen Kamera Almanach von 1907 den «Hauptbetriebsarten der Jagd» mit der Kamera hingibt: «Fallenstellen, Treiben, Ansitz, Pirsche» (S. 31). Aus Perspektive des Betrachters, zugespitzt in der Erstarrung des eigenen Antlitzes im fotografischen Abbild, weicht diese Sprache des aktiven Einverleibens der äußeren Wirklichkeit im Archiv fotografischer Doubles einem Schock, sich selbst wie einem «aufgespießten Schmetterling» seiner lebendigen Beweglichkeit beraubt zu sehen. Auf der Ebene, die nur den Einzelnen vor der Kamera betrifft, hat Barthes dies als einen Akt der Ausklammerung des Selbst beschrieben, den Moment, in dem man sich selbst zur Pose erstarren sieht, «im kleinen das Ereignis des Todes». Die Studie Sykoras zeichnet sich dadurch aus, dass sie diesem Befund – der sonst verkürzt zitiert in die Fototheorien eingeht – genealogischen Tiefgang verleiht, indem sie zeigt, dass sich die Denkfiguren zum Tod im historischen Verlauf verändern und zeithistorische Bezüge aufweisen. So liest es sich überraschend, dass sich, bedingt durch die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert «die Metaphorik zunehmend von der Jagd- zur Kriegssprache» verschiebt, die den Mann mit der Kamera im «fröhlichen Blitzkrieg» mit geladener Kamera und Blitzpistole dem Soldaten an der Front anverwandelt (S. 31).
Es sei dahingestellt, ob in diesem Blitzgewitter der Moderne der Fotografie wirklich die Aufgabe zugeschrieben werden kann, das kulturhistorische Erbe der effigies, und damit der materiellen Kultur von abendländischen Totenriten, anzutreten. Überzeugend ist jedoch, vor allem auch mit Blick auf die Lektüre des frühen Fotografie-Aufsatzes von Siegfried Kracauer von 1927, dass mit der Metapher eines «riesigen Leichentuches», welches das Reale zu «überdecken und zu ersticken droht», die fototheoretischen Auseinandersetzungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Massenkultur der Moderne und das reproduzierende Bild bezogen werden (S. 34). Nur in dieser Perspektive wird nämlich klar, warum die gespenstische Aktivität fotografischer Abzüge, die ihren ursprünglichen Kontext verloren haben, als Treibbojen verlorener Spuren ihre Rezipienten in Unruhe versetzen können. In der Verlängerung dieses Gedankens in unsere Gegenwart hinein, könnte nicht nur das Barthes‘sche Kammerspiel bedeutsam sein, in dem der Fotograf und der sich zum Objekt verwandelt sehende Referent mit einem Gespenst umgehen lernen, sondern die immer wieder vollzogene technische Reproduktion des massenmedialen Bildes. Sykoras Entscheidung, das Wesen der Fotografie in der Vielfältigkeit ihrer Geschichten und – gemäß des Buchthemas – ihrer Tode im Plural zu zerstreuen, zeigt sich nicht zuletzt durch die Verknüpfung der Fototheorien der drei Protagonisten dieses Feldes – Barthes, Kracauer und Derrida – mit der Theoriegeschichte eines Geschlechterkampfes. Paradigmatisch hierfür steht die über längere Passagen entwickelte Denkfigur der Medusa, in der das plötzliche Abschlagen des Kopfes vom Körper mit der Schockerfahrung der Bildwerdung in eins gesetzt wird und von Julia Kristeva und Jean Clair in Anschluss an Sigmund Freud «als Gleichnis für den Bilderstreit» figuriert, «in dessen Kern ein offener (Geschlechter)kampf um die Blickmacht herrscht.» (S. 57) Interessant liest sich, wie der alte Mythos des Abtrennens und der gleichzeitigen Versteinerung des Blickes als Denkfigur der Bündelung von fotografischer Aufnahme- und Rezeptionssituation im Vorzeichen tödlicher Gefährdung dienen kann. Diese Verschränkung des fotografischen Dispositivs mit der griechischen Mythologie fällt erfrischend unkonventionell heraus aus dem Reigen der zwar interessanten, aber doch in der Historiografie und Theorie fast schon konventionell anmutenden Metaphern des Abdrucks, der Spur oder des eidolon, mit denen die Fotografie auf der zeichentheoretischen Ebene konstant mit Indexikalitätsmodellen verknüpft wird. Dies gilt generell für den Konnex von Fotografie und Tod: In der Bezeugung der Toten, im Prozess der Ablösung vom toten Körper und seiner Erinnerung tritt die Fotografie – scheinbar im Rücken aller Versuche, sie als Zeichen eines kulturellen Codes zu entlarven – als Garant eines im Verschwinden begriffenen Realen auf.
Die Aufgabe, sich diesem Realen angesichts des Todes zu stellen und die Grenze seiner Unabwendbarkeit zu verschieben, kommt in Sykoras Studie den künstlerischen Positionen zu, die sie im zweiten Teil des Buches verhandelt. Fast alle ausgewählten Beispiele von dokumentarischen und inszenierten Fotografien richten sich an einer zentralen Frage aus: Wie können ästhetische Strategien als (auch scheiternde) Selbstermächtigung des lebenden Subjekts angesichts des Todes fungieren? So geht Sykora dem Motiv der Totenmaske einer Unbekannten aus der Seine nach, die Man Ray oder Albert Rudomine in ihren Fotomontagen in einem Seerosenteich versenken oder mit lebendigen Augen versehen, welche den Betrachter geradewegs ansehen. Es ist immer wieder der im Übergang vom Leben zum Tod sich befindende Körper, der Körper im Schwellenzustand, der aufgebahrt, präpariert, aber nicht verwest oder zerstückelt in die künstlerischen Arbeiten eingeht. So verlässt in Duane Michaels konzeptueller Fotoserie The Spirit Leaves the Body von 1968 die Seele in sukzessiver Abfolge den auf einem Totenbett aufgebahrten Körper. Oder die Serie Noch mal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben (2003/2004) der Journalistin Beate Lakotta und des Fotografen Walter Schels stellt im en face-Doppelporträt der Aufnahme eines lebenden todkranken Menschen sein post mortem-Porträt zur Seite. Dieser Fokus von Sykoras Studie auf die Zeit des Übergangs oder – in anderen Beispielen – des Re-Animierens, des Re-Enactment oder der Fiktionalisierung der toten Körper (z. B. Claudia Reinhard, SARAH (Sarah Kane), 2001) liest sich als Wunsch (und teilweise auch als Überhöhung der künstlerischen Positionen), einerseits die Theoriegeschichte des ersten Teils in Kunst materialisiert zu sehen und andererseits dem Bereich der künstlerischen Fotografie als aktiver Arbeit gegen den Tod viel zuzutrauen. Umso markanter erscheint vor diesem Hintergrund die Entscheidung, das Buch mit der Arbeit Weegees Their First Murder vom 9. Oktober 1941 zu schließen, in der durch den fotografischen Schuss in die schaulustige Masse angesichts eines Ermordeten auf einer Strasse in Brooklyn die fotografische Konstellation von operator und spectator zum Schauplatz des Voyeurismus wird. Dieser Schluss kommt einem Appell gleich: Die Fotografie unserer Toten, als auch das Hinwenden und Abwenden des Blickes auf ihre toten Körper, führt immer wieder zu uns selbst zurück: den Lebenden, den Schauenden.
- 1Minor White zitiert nach Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt / M. 2006, 7. Diese Rezension ist in leicht veränderter Form zuerst erschienen in englischer Sprache bei CAA.reviews, dort datiert 17.8.2017, www.caareviews.org/reviews/3184, gesehen am 23.8.2017.
- 2Vgl. Chris Tedjasukmana: Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino, Paderborn 2014 (Film Denken); Adina Lauenburger, Chris Tedjasukmana, Lisa Akerwall, Sulgi Lie (Hg.): Waking Life. Kino zwischen Technik und Leben, Berlin 2016.
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