Was ist «Meinungsfreiheit»?
Kurzbeitrag zur Veranstaltung «Wissenschaftsfreiheit und Redefreiheit. Ein klärendes Gespräch»
Anlass für diese Veranstaltung war und ist die Auseinandersetzung mit dem Seminar des philosophischen Kollegen Dieter Schönecker an unserer Universität: «Denken und Denken lassen». Die Veranstaltung, sagte er zuletzt öffentlich, sei ein «Experiment» gewesen. Ein Experiment zur praktischen Meinungsfreiheit, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Universität heute – wie Herr Schönecker oft kritisierte – eine «Echokammer» sei, eine Echokammer, in der «linke» Meinungen dominierten und vom Mainstream abweichende Positionen tabuisiert und Sprecher geächtet würden.
Das kann man so aus mehreren Gründen nicht stehen lassen. Erstens: Ein «Experiment» ist eine kanonisierte Methode der kontrollierten Datenerhebung und ‐auswertung. Das ist hier offensichtlich nicht der Fall. Umgangssprachlich macht die Wortverwendung noch eher Sinn: also die Veranstaltung als eine «Demonstration» oder auch «Provokation» dieser «linken Echokammer». Aber «Experiment» klingt natürlich wertneutraler und unbefangener. (In der anschließenden Diskussion distanzierte sich Herr Schönecker vom Ausdruck «Experiment»; dieser sei ihm von der Presse zugeschrieben worden.)
Zweitens: Die sogenannte linke «Meinungsherrschaft» an der Universität ist eine Chimäre, eine Behauptung, die – soweit ich sehe – nicht ein einziges Mal belegt wurde. Der Großteil der deutschen ProfessorInnen ist tendenziell wertkonservativ, mal grüner, mal liberaler, oder versteht sich als unpolitisch. Die studentischen Fachschaften – also der «kommunistische Sumpf» (wie es der ehemalige Ministerpräsident und Nazi‐Richter Hans Filbinger mal formulierte) – sind zwar nicht «ausgetrocknet», aber dank Bologna und Arbeitsmarktausrichtung erfolgreich versickert. Der Mittelbau kämpft gegen seine Prekarisierung, hat für Revolutionen schlicht keine Zeit. Und in großen, Ton angebenden Universitäten werden seit einigen Jahren wieder die Talare aus dem Keller geholt. Kurzum: Von einer «linken» Hegemonie kann keine Rede sein. Damit zum dritten Problem:
Die Veranstaltung war referentenseitig oft geprägt von der pauschalisierenden Dichotomisierung von «links» versus «rechts», Begriffen, die nicht ein einziges Mal definiert wurden. Sie lassen sich auch kaum wissenschaftlich definieren und fungieren in fast allen Domainen als politische Kampfbegriffe. Die Polarisierung von «Links-rechts»‐Schablonen diente den Protagonisten hier rhetorisch der Gleichsetzung von sogenanntem «linkem Antifaschismus» und «rechtem Rassismus und Faschismus», um die jeweils eigene Position normalisierend als ‹liberal-gewährende Mitte› zu inszenieren.
Allein zu diesen drei Aspekten könnte man jeweils eigene Vorträge halten. Ich will stattdessen schlaglichtartig auf das – meines Erachtens nicht eingelöste – Thema der Veranstaltung eingehen: Was ist Meinungsfreiheit?
(1) Meinungsfreiheit ist ein Grund‐ und Menschenrecht. Es geht der Idee nach auf die Französische Revolution zurück und ist seit 1949 – also nunmehr seit 70 Jahren – in Art. 5 Abs. 1 der Verfassung verankert. Das BVerfG verleiht ihm regelmäßig eine weitreichende Geltung, als konstitutives Grundelement demokratischer Praxis. Nur wenn der Einzelne ohne Angst vor staatlicher oder privater Repression seine Gedanken über die Welt äußern kann, ist eine freiheitlich‐demokratische Staatsordnung gewährleistet. Die Meinungsfreiheit ist aber keine Einbahnstraße. Sie findet ihre Schranken am Recht auf Schutz der Persönlichkeit, dem Recht auf Wahrung der persönlichen Integrität des Individuums. Dieses korrespondierende Grundrecht leitet sich sogar direkt aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) des Grundgesetzes ab, es wurde – wenn ich recht sehe – in der gesamten hier diskutierten Veranstaltung nicht einmal erwähnt.
Letztlich steht die Meinungsfreiheit aber im gleichen Dienst wie der Schutz von Persönlichkeit und Menschenwürde: Es geht darum, in Deutschland gesellschaftliche Zustände (wie 1933 ff.) zu verhindern, in denen die Herabwürdigung von Andersdenkenden zu bloßen Objekten veralltäglicht und damit der Boden für Verfolgung und Vernichtung von Menschen gelegt wird.
(2) Was nicht gesetzlich untersagt ist, ist Teil der Handlungs‐ und Meinungsfreiheit. So gut, so recht. Richtig ist aber auch: Nicht alles, was nicht verboten ist, ist auch angemessen: Schon die Griceschen Konversationsmaxime lehren uns, dass wir im kommunikativen Austausch auch ohne juristische Kenntnisse automatisch sozialen Normen folgen, um Missverständnisse oder Gesichtsverletzungen zu vermeiden. Wir haben kraft Sozialisation ein Gespür dafür, wie wir Konflikte oder gar gewalttätige Eskalationen vermeiden oder auch bewusst provozieren können.
Darüber hinaus gelten in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen auch verschiedene institutionalisierte Regeln und Normen für die Gestaltung des diskursiven Umgangs miteinander, für die Gültigkeit von Aussagen über die Welt und die Überzeugungskraft von Argumenten. Rhetorisch persuasive Formen der Streitinszenierung, die in der politischen Kommunikation eines Parlaments heute populär sind, genügen nicht den Anforderungen eines spezialisierten, auf Erkenntnis ausgerichteten Funktionssystems wie einer Forschungseinrichtung oder einem Gerichtssaal.
Die Diskurs‐ und Konfliktforschung füllt ganze Bibliotheken zu diesen Fragen und zeigt ganz generell: Eine bewusst auf gegenseitigen Respekt angelegte Interaktion schließt polemische Spitzen in der Debatte nicht aus – auch nicht in der wissenschaftlichen Debatte; wenn aber Polemik oder gar personalisierte Stigmata zum Grundmodus der Interaktion werden, befördert das die Wahrscheinlichkeit für Kooperationsblockaden, Unverständnis und Ressentiments. Wer die Meinungsfreiheit als Legitimationstopos für diese Form der Interaktion missbraucht, handelt rechtlich vielleicht einwandfrei, aber ohne Verantwortung für die Pflege öffentlicher und institutioneller Debattenkultur.
(3) Was verhindert in Vergangenheit und Gegenwart die praktische Meinungsfreiheit? Eine global herrschende «links‐grün‐versiffte Gesinnungspolizei»? Sicherlich nicht. Moralkommunikation gehört heute zum Alltagsgeschäft aller Parteien und übrigens auch vieler Unternehmen (Knobloch 2018). Die Einschränkungen freier Meinungsäußerungen sind heute wesentlich diffiziler und struktureller Art: Was sind die innerinstitutionellen Wahrheits‐Scharniere in Wissenschaft, Massenmedien, Rechtsdogmatik oder Parlament? Wie wird in einer Zeitung das Tagesbild über die Welt konstituiert unter den Bedingungen von Ressortleitung, Lesererwartungen, Marktkonkurrenz und Wegrationalisierung von selbst recherchierenden Redakteuren? Wie wird die Wahl und Bearbeitung von Forschungsthemen an Universitäten praktisch – und überwiegend politisch gewollt – eingeschränkt durch prekäre Stellenbefristungen, Drittmittel‐Abhängigkeit der Forschung oder Bürokratisierung der Lehre? – Das sind Fragen, die es zu diskutieren gelte – genauso wie aktuelle medientechnische Entwicklungen und ihre Folgen: Digitale Überwachung durch Staat und Privatwirtschaft; Social Scoring; schwarze Listen; Predictive Policing; manipulative Partizipation in Unternehmen usw. usf.
(4) Die Frage nach praktischer Meinungsfreiheit müsste natürlich auch positiv gewendet werden: Ich halte es für ziemlich grotesk, wenn Angehörige privilegierter sozialer Gruppen – Professor_innen, Politiker_innen, Redakteur_innen – lautstark und wiederholt fordern, man müsse ihrer – ich betone: ihrer Meinungsfreiheit gerecht werden. Wie sieht es eigentlich aus mit der Meinungsfreiheit eines Gärtnermeisters oder einer Realschullehrerin, der/die von politisch motiviertem Berufsverbot bedroht oder betroffen war, aber keine Kanzel zur Verfügung hat? Wie mit Millionen von Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, arbeiten und Steuern zahlen, aber bis heute nicht einmal das Wahlrecht haben? Wie können wir von der Garantie der Meinungsfreiheit sprechen bei einer Rate von 14% funktionaler Analphabeten in der erwerbsfähigen Bevölkerung (Grotlüschen/Riekmann 2011)? Wenn mangelnde Grundfinanzierung der Schulen und Universitäten mit symbolpolitischen Kampagnen für «Leichte Sprache» kompensiert wird? Mit anderen Worten: Was sind die Bedingungen für eine praktische Meinungsfreiheit jenseits des bloß nominellen Rechts? Wie ist eine Gesellschaft einzurichten, damit ein partizipatorisches, demokratisches Sprechen für den Einzelnen, Subalternen möglich wird?
Eine demokratische Interaktionsform erfordert, «dass die Beteiligten habituell sowie verfahrensmäßig in die Lage versetzt werden, sich auf Basis von überprüfbaren Informationen eine kollektivierbare Meinung zu bilden und ihre damit verbundenen Bedürfnisse adressatengerecht kommunizieren zu können» (Vogel/Knobloch 2015). Demokratische Kommunikation setzt auf «strukturelle Dialogizität» (Felder 2018), sie ist auf die Möglichkeit zum Widerspruch auf Augenhöhe angelegt, auf die Wahrung der Integrität von Adressaten, Mitgemeinten und Zuschauern.
Ich komme zum Fazit: Die bisherige Diskussion von «Meinungsfreiheit», ja das Unternehmen «Denken und denken lassen» als Ganzes geht meines Erachtens an den eigentlichen Fragen vollkommen vorbei. Die einschlägige Forschung zum Thema wurde weitestgehend ignoriert und durch Repetieren unbelegter oder anekdotischer Behauptungen ersetzt. Vom wissenschaftlichen Anspruch übrig geblieben ist eine politische Provokation.
Literatur
- Felder, Ekkehard (2018): Anmaßungsvokabeln: Sprachliche Strategien der Hypertrophie oder der Jargon der Anmaßung. In: Martin Wengeler und Alexander Ziem (Hg.): Diskurs, Wissen, Sprache. Linguistische Annäherungen an kulturwissenschaftliche Fragen. Berlin: De Gruyter Mouton (Sprache und Wissen (SuW), 29), 215-240.
- Grotlüschen, Anke; Riekmann, Wiebke (2011): leo. Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Presseheft. Online verfügbar unter http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf, zuletzt geprüft am 23.1.2019.
- Vogel, Friedemann (2014): Linguistik als Kampfsport. Auf der Suche nach Paradigmen demokratischen Sprechens in Alltag, Medien und Recht. In: Linguistik online 69 (7). Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.13092/lo.69.1658, zuletzt geprüft am 12.01.2015.
- Knobloch, Clemens; Vogel, Friedemann (2015): "Demokratie" – zwischen Kampfbegriff und Nebelkerze. Was können Sprach-, Medien- und Kulturwissenschaften zur Demokratisierung von Gesellschaft beitragen? In: Linguistik online (73). DOI: 10.13092/lo.73.2190.
- Knobloch, Clemens (2018): Kritik der medialen Moralisierung politischer Konflikte. In: Philosophische Gespräche (49), S. 5–63.
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