The new normal?
Wie das Zurück zur ‹Präsenz› als Schließungsmechanismus diskutiert werden muss
Spätestens mit dem Beginn des Sommersemesters 2022 war die Mehrheit der deutschen Hochschulen in den Modus der Präsenz als jenen Regel- und ‹Normalfall› zurückgekehrt, der universitäre Lehre, Forschung und Gemeinschaft vor Ausbruch der Corona-Pandemie ausgezeichnet hatte – und es auch fortan wieder tun sollte.1 Im konkreten Universitätsalltag erforderte dieser Schritt, wie auch schon die Anfangsphase der Pandemie zuvor, sowohl für Studierende als auch für Lehrende eine tagesaktuelle Anpassungsfähigkeit. Während zu Beginn vielerorts noch Abstandsregeln, Maskenpflicht und Kontaktdatenerfassung verpflichtend waren, wurden die meisten Regeln sukzessive zu – mal mehr und mal weniger dringenden – Empfehlungen. Rückschläge, wie eine neue Erkrankungswelle im Herbst 2022, stellten das sicherlich allseits ersehnte, jedoch vielerorts vorschnell ausgerufene ‹absehbare Ende› der Pandemie in Frage – ohne aber gleichzeitig zu neuen, verpflichtenden Vorsichtsmaßnahmen zu führen.
Wie unser eigener Erfahrungsaustausch innerhalb des Arbeitskreises Gewaltprävention Online des Forum Antirassismus Medienwissenschaft (FAM) offenlegte, war die Kommunikation über konkrete Bedingungen, Regeln und Spielräume an vielen Hochschulen weder eindeutig noch transparent. Der Workshop der Kommission für gute Arbeit in der Wissenschaft zu (Post-)Covid-Belastungen und den Folgen der Pandemie für die wissenschaftliche Arbeit auf der GfM-Tagung 2022 zeigte überdies, dass vielerorts Möglichkeiten und Bedeutung fortgeführter digitaler Lehre seither kaum thematisiert wurden.
Wir möchten mit dem vorliegenden Beitrag zweierlei:
1) Wir möchten wissenschaftspolitische, -kulturelle und soziale Dimensionen ansprechen, welche die Präsenzlehre zu Zeiten erhöhten Infektionsgeschehens (auch wenn dieses als ‹nur noch› endemisch zu begreifen sein sollte) betreffen, und ihre seit dem Sommersemester 2022 wieder vielerorts alternativlose Durchführung problematisieren.
2) Wir möchten für mediale, institutionelle und infrastrukturelle Aspekte sensibilisieren, die bei einer zukunftsweisenden und konstruktiven medialen Gestaltung des Hochschulalltags Beachtung finden sollten.
Es ist uns ein Anliegen, innerhalb unserer Fachgemeinschaft zu sensibilisieren und ins Gespräch zu kommen, weil wir insbesondere in der Medienwissenschaft das Potenzial sehen, über die technischen Konstellationen und Kontexte nachzudenken, die den wissenschaftlichen Modi der Begegnung zugrunde liegen. Von hier aus lassen sich über das Fach hinausgehende Debatten in interdisziplinären Zusammenhängen anregen. Der vorliegende Beitrag versteht sich entsprechend zuvorderst als ein beobachtender und fragender Text mit Blick auf eine anhaltend dynamische Situation. Diese gibt uns auf, über verschiedene Möglichkeiten nachzudenken, wie universitäre Begegnungen in Situationen besonderer und vielfältiger Verletzlichkeit möglichst offengehalten werden können.
Wissenschaftspolitische, -kulturelle und soziale Machtordnungen
Die dem Begriff und Verständnis von ‹Präsenzlehre› inhärenten Annahmen über die normative Abgrenzung einer vermeintlich grundlegend ‹besseren› Lehre vor Ort gegenüber einer als grundlegend ‹schlechteren› Lehre in digitalen Settings und virtuellen Räumen offenbaren eine längst überkommene Differenzierung von Realitätsdimensionen. Entsprechend scheint es gerade für die medienwissenschaftliche Auseinandersetzung nicht nur gewinnbringend, sondern auch notwendig, die Lehr- und Lernsituationen auf ihre impliziten Medien- und Körperverständnisse hin zu untersuchen, ebendiese zu hinterfragen und damit für eine Öffnung der Perspektive einzustehen. Denn auf Grundlage der Befragung der (überaus voraussetzungsreichen sowie zu kritisierenden) normativen Differenz von online und offline Lehr-/Lernsettings im Sinne einer generalisierenden Politik der Vereindeutigung lässt sich dann auch darüber nachdenken, wie Zugänge geöffnet bzw. offengehalten werden können – und zwar gerade in vielfältigen Zwischenräumen. Ein Abwägen von unterschiedlichen Verletzbarkeiten, Risiken und Zugangshürden einerseits sowie das Produktivmachen von digitalen Möglichkeiten zur Öffnung und Partizipation (nicht nur in pandemischen Zeiten) andererseits erfordert ein gemeinsames Nachdenken über ganz unterschiedliche Öffnungs- und Schließungsmechanismen. Das gilt sowohl für Begegnungen vor Ort als auch in digitalen Settings.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Prozess der Wiederherstellung von ‹Normalität› zumindest erklärungsbedürftig: So hatten einige Universitäten2 etwa im Wechsel zur Präsenzlehre im Sommersemester 2022 ohne Rücksprache mit den Lehrenden bestehende Lizenzen für Videomeeting-Software nicht mehr verlängert oder die Abhaltung von digitalen Lehrformaten unter die Bedingung gestellt, dass diese erst in einem begründeten Antragsverfahren genehmigt werden müssen (beides sind Beispiele der Universität Bayreuth; siehe auch FN 1). Diese mehrheitlich aus den Hochschulleitungen und -verwaltungen stammenden Entscheidungen verwunderten, schließlich waren die Varianten des Coronavirus SARS-CoV-2 und die Risiken einer Ansteckung nicht plötzlich verschwunden. Es blieb zudem wahrscheinlich, dass Fragen des Infektionsschutzes zukünftig, möglicherweise sogar dauerhaft, einen Platz im Alltag der Lehrenden und Lernenden haben werden. Dass wissenschaftliche Veranstaltungen für Teilnehmer*innen nach wie vor ein Infektionsrisiko bargen, zeigte das Beispiel der Konferenz der International Communication Association (ICA) im Mai 2022, die – bei virtuellen Teilnahmeoptionen – überwiegend in Präsenz in Paris stattfand: Im Anschluss an die Konferenz teilten die Veranstalter*innen per E-Mail mit, dass sich über 160 Personen gemeldet hätten, die positiv auf COVID-19 getestet worden waren.3 Die Beschränkung von digitalen Seminaren und Vorlesungen als eigenständigen Lehr‑/Lernformaten (oder andersherum: das Einziehen von Hürden hierfür) irritiert auch deshalb, da digitale Formate inzwischen didaktisch gut eingeübt sind und damit flexibilisierte wie auch vergleichsweise barrierearme Möglichkeiten des Arbeitens bzw. Studierens bieten. Vor dem Hintergrund komplexer Abwägungen scheint der politische Druck zur Vereindeutigung sowie zur Generalisierung notwendigerweise als ein Problem, denn er kann dem Ziel einer offenen, diskriminierungsarmen Hochschule kaum gerecht werden. Während es mittlerweile vielerorts Audits zur Sicherung dieser Zielsetzung an Universitäten gibt, haben sich zahlreiche medienwissenschaftliche Institute zusätzlich über den 2017 auf der Mitgliederversammlung der GfM verabschiedeten Kodex für gute Arbeit in der Medienwissenschaft selbst verpflichtet, faire und diskriminierungsfreie Arbeitsverhältnisse, Vielfalt, Familienfreundlichkeit sowie Mitbestimmung anzustreben. Das hierin ebenfalls formulierte Anliegen, Menschen mit (Schwerst‑)Behinderung die Arbeit in der Medienwissenschaft zu ermöglichen, lädt unserer Ansicht nach dazu ein, die Möglichkeit einer im Arbeits- oder im Studienumfeld erworbenen Erkrankung mit potenzieller Langzeitnachfolge (wie Long- oder Post-Covid) ernster zu nehmen und konkret Prävention mitzudenken. Auch die Frage, wie Wissenszugänge für Studierende mit (Schwerst‑)Behinderungen medial ermöglicht werden können, schließt hier an.
Mit Blick auf prekär Beschäftigte zeigen sich an dieser Stelle grundlegende Zusammenhänge mit Debatten zur Prekarität im Wissenschaftsbetrieb und zwar insbesondere mit den multiplen Verdachtsmomenten, denen sich prekär Beschäftigte politisch ausgesetzt sehen: Die Erschwerung von Arbeitsbedingungen und die damit zusammenhängende Prekarität werden allzu oft in der politischen Debatte außerhalb von Hochschulen als notwendige Motoren für Produktivität und Fortschritt gerechtfertigt (#IchBinHanna). Wo generell erwartet wird, bei halber Bezahlung bzw. Teilzeit volle Leistung entsprechend einer Vollzeitstelle zu erbringen oder sich mit knappen Befristungen abzufinden, steht auch schnell der Vorwurf im Raum, zu wenig bereit zu sein, zu leiden oder zu investieren, wenn diese Verhältnisse infrage gestellt werden. Ein offen formulierter Wunsch nach weiter bestehender digitaler Lehre könnte in solch einer Diskussion leicht in den Verdacht geraten, es sich bloß einfacher machen zu wollen in einem System, das Selbstaufgabe und Selbstgefährdung romantisiert und zuweilen zur Voraussetzung für einen vermeintlichen Aufstieg innerhalb der academia macht. Wer also glaubt, dass Online-Lehre allein deshalb angeboten wird, um sich auf die faule Haut zu legen, verkennt den gewaltvollen Zynismus bei der Adressierung von Wissensarbeiter*innen, die sich deutlich mit ihrer beruflichen Tätigkeit identifizieren und eine Inkorporation neoliberaler Verständnisse von Arbeit ohnehin kaum noch vermeiden können.
Auf Grundlage dieser fundamentalen wissenschaftspolitischen Schieflage sind weitere, wissenschaftskulturelle und soziale Aspekte zu berücksichtigen. Hierbei geht es um unterschiedliche Problemstellungen, die zu adressieren im besten Fall dazu beitragen kann, eine Offenheit der Hochschullehre kritisch zu befragen, Schließungsmechanismen ausfindig zu machen und ihnen konstruktiv entgegenzuwirken:
Übergeordnet betrifft dies die Überlegung, wie sich der Wunsch nach persönlichem Austausch und sozialer Begegnung vor Ort mit einer Durchsetzung immer wieder notwendiger lokaler Schutzmaßnahmen dauerhaft vereinen lässt. Hinzu kommt, dass es hierbei vielfach ungleiche Voraussetzungen, begrenzte Wahlmöglichkeiten und spezifische Belastungen gibt, die es bei Präsenzveranstaltungen mit zu bedenken gilt. Gerade für die Lehre, die vielfach von einem nicht nur inhaltlichen, sondern auch situativ-performativen Austausch lebt, stellen sich für Studierende wie Lehrende in der neuen Gegenwart des ‹Post-Digitalen› weiterhin wichtige Fragen, die verdienen, gemeinsam adressiert und miteinander ausgehandelt zu werden. Diese betreffen:
Consent und neue/alte Hierarchiegefüge: Fühlen sich alle in der Präsenz der Lehre damit wohl, ihre Atemluft ohne Maske mit anderen zu teilen? Inwiefern kann und muss die Situation vulnerabler Personen weiterhin mitbedacht werden? Welche unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten gibt es für Lehrende und Studierende, die abseits von Härtefallregeln eine pragmatische, wertschätzende und vor allem inklusive Teilhabe ermöglichen? Wie kann man sowohl gruppenspezifisch als auch individuell auf Wünsche nach Sicherheit und selbstbestimmtem Verhalten eingehen? Welche Abstimmungs- und Diskussionsmöglichkeiten gibt es dafür off- wie auch online und welche Entscheidungsspielräume bieten das eigene Institut/Seminar, die Fakultät und/oder Hochschulleitung? Wer ist verantwortlich für eine entsprechende Adressierung? Welche Rollen spielen hierbei Hierarchien oder individuelle strategische Fragen?
Auch abseits der Lehre kommen Fragen des Selbst- und Fremdschutzes zum Tragen: Kann ich etwa als Bewerber*in nach Hygienekonzepten fragen oder um eine digitale Teilnahme bei Probevorträgen und Konferenzen bitten? Und welche Zuschreibungen riskiere ich damit? Welche Rolle spielt ein sozialer Druck zur augenscheinlichen Normalisierung der Verhältnisse? Wie können durch die dynamischen Verhältnisse und variierende individuelle Betroffenheit spezifische Formen der Verletzlichkeit sowie Zugangsbarrieren entstehen und dabei einer Selbstverantwortung unterliegen, die doch immer schon durch Hierarchien, Abhängigkeiten und asymmetrische Machtverhältnisse beschränkt wird?4
Krankheit und (Selbst)Ausbeutung: Insbesondere mit Blick auf weniger gefährliche Virusvarianten und ihre oft zitierten milderen Krankheitsverläufe ließ sich eine Normalisierung im Umgang mit Covid-19 erkennen, welche auch zu einer veränderten Einschätzung der Belastbarkeit von Arbeitenden bei oder nach Infektion führte. Während Studien nahelegten, dass Schonung förderlich ist, um Nachwirkungen wie Post- oder Long-Covid weniger wahrscheinlich zu machen, fand in vielen Arbeitsstätten indes ein Umdenken statt. Arbeitgeber*innen betonten immer häufiger direkt und indirekt, dass ihre Mitarbeiter*innen auch während des Krankenstandes von zuhause aus arbeiten könnten und hoben somit einen Umstand von Erreichbarkeit und Produktivität trotz Erkrankung als erstrebenswert hervor. Es lohnt zu überlegen: Wirkt eine solche Haltung und Kommunikation nicht noch zuspitzend auf ein bereits vorhandenes Klima der Selbstausbeutung ein? Die individuelle Selbstsorge von Wissenschaftler*innen stand auch zuvor schon vielfach hinter der wissenschaftlichen Karriereplanung zurück. Wenn in Arbeitszusammenhängen aber Selbstgefährdung aus Solidaritätsgründen propagiert wird (um Kolleg*innen zu entlasten, Gemeinschaftssinn zu zeigen etc.), schafft dies problematische Zwänge.
(Langzeit-)Folgen einer Infektion: Long- und Post-Covid stellen für Wissensarbeiter*innen und damit die Wissenschaft im Allgemeinen eine ernstzunehmende Gefahr dar: Was passiert, wenn ein hochgradig qualifiziertes Personal über längere Zeit ausfällt? Welche Folgen hat es für die individuelle und berufliche Entwicklung, aber auch für den Arbeitsmarkt, wenn Studierende keinen Abschluss erreichen können? Die Effekte eines noch nicht erhobenen, aber durchaus wahrscheinlichen Covid-19 brain drain sind noch nicht absehbar. Gerade in Kombination mit dem Umstand, dass Wissenschaftler*innen und Studierende überdurchschnittlich häufig von Mental Health-Problematiken5 betroffen sind, ergibt sich angesichts eines Drucks zur Präsenz vor Ort in der Pandemie eine Dringlichkeit, über Gesundheit, Wohlbefinden und Sorge zu sprechen. Gibt es durch die jeweiligen Beratungsstellen der Hochschulen bereits genug Unterstützung in Bezug auf Erschöpfung, Stress, Depression, Verunsicherung der sozialen Lebensverhältnisse oder gar Arbeitsunfähigkeit? Oder müssen hier noch weitere, spezifischere Angebote entwickelt werden?
Mediale, institutionelle und infrastrukturelle Aspekte
Für Lehrende und Studierende bedeutete die ad hoc Umstellung auf Online-Lehre, stetig Kompromisse zwischen eigenen Ansprüchen und begrenzenden technischen Bedingungen, Idealismus und Pragmatismus, Zufriedenheit und Erschöpfung finden zu müssen. Auch vor der Pandemie waren die Rahmenbedingungen (z.B. Betreuungsschlüssel, Räume), die Zielsetzungen und die didaktischen Konzepte der Hochschullehre vielerorts fragwürdig. Es lohnt deshalb an dieser Stelle festzuhalten: Vor der Pandemie war nicht alles besser, oft war es nicht einmal gut! Statt also direkt zu einem vermeintlich besseren, vormaligen Zustand zurückzukehren, bietet die Unterbrechung der Gewohnheiten und organisatorischen Routinen die Möglichkeit, über Curricula, Zielsetzungen, Werte und handlungsleitende Orientierungen – und die ihnen inhärenten Medienverständnisse – bei der Planung und Durchführung von Lehrveranstaltungen nachzudenken. Die in der Pandemie erprobten Möglichkeiten unterschiedlicher Online-Formate in der Lehre sollten dabei nicht voreilig wieder aufgegeben werden: Vielleicht ist die internationale Perspektive in einem Videokonferenz-Format manchmal wichtiger als die Geselligkeit im Seminarraum? Und ist nicht gerade einer vielseitigen Disziplin wie der Medienwissenschaft eine gewisse Flexibilität in den Vermittlungsformen zuträglich? Können nicht manche Themen und Lehrformate von einem digitalen Format (z.B. Schnittkurse/Materialanalysen/forschendes Lernen) besonders profitieren, wohingegen andere für die Präsenzlehre geeigneter erscheinen (z.B. Diskussionsformate, gemeinsame Lektüren und Mediensichtungen, Exkursionen)? Lassen sich die erlernten digitalen Formen der verteilten, kollaborativen Arbeit nicht noch weiter entwickeln (z.B. Co-Teaching mit internationalen Kolleg*innen, ortsverteilte Arbeitsgruppen, kollaborative Publikationsprojekte)? Wie können Online-Angebote die Vereinbarkeit von Studium, Erwerbstätigkeit und/oder Familienaufgaben erhöhen?6
Besonders fruchtbar und relevant scheinen diese Fragestellungen, weil sie uns ermöglichen, Problemstellungen im Kontext von Mobilitätsanforderungen und Nachhaltigkeitsbestrebungen7 gemeinsam mit einer aktiven Umgestaltung von Arbeitssituationen zu adressieren: Aufgrund von befristeten Anstellungsverhältnissen ist eine langfristige Lebens- und Berufsplanung für viele Wissenschaftler*innen nicht möglich. Da die Kosten und sozialen Verluste stetiger Umzüge für kurzzeitige Tätigkeiten nicht tragbar sind, pendeln viele Wissenschaftler*innen dauerhaft. Eine in dieser Hinsicht sehr erleichternde Erfahrung aus den letzten beiden Jahren ist, dass viele Aufgaben von Gremien und Arbeitsgruppen der Hochschulen in Videokonferenzen sehr gut bearbeitet werden können und so manche Fahrten unnötig machen. Oft erweist es sich auch als einfacher, gemeinsame Termine für Online-Meetings zu finden als für Treffen vor Ort. Eine Flexibilität im Organisatorischen sollte ebenso wie individuelle Entscheidungen für mobile Arbeit oder Homeoffice ermöglicht werden – über alle Statusgruppen hinweg.8
Auch bei der Planung von wissenschaftlichen Veranstaltungen und Konferenzen gilt es grundsätzlich zu bedenken, ob die Reisetätigkeit zahlreicher Personen zwingend notwendig ist. Die gegenwärtige Zurücknahme von Möglichkeiten der Remote-Teilnahme an Konferenzen erscheint mit Blick auf Zugänge und ungleiche Bedingungen für Tagungsreisen (Familienaufgaben, Finanzierung) problematisch. Denn die Möglichkeit, Tagungsreisen unternehmen zu können, ist ein Privileg: Abhängig von Hochschulzugehörigkeit, Statusgruppe, Dis/Abilities, Wohnort, Staatsangehörigkeit (Visumspflichten) oder persönlicher Lebenssituation sind die Möglichkeiten und der Aufwand für eine Konferenzreise zwischen Personen höchst unterschiedlich verteilt. Formen der digitalen Beteiligung sollten deshalb bei der Planung von Veranstaltungen immer mit in Betracht gezogen werden.
Das Zögern bei der Umsetzung dieser digitalen Möglichkeiten mag auch mit der Sorge zusammenhängen, es könnten der Wissenschaft noch mehr Gelder gekürzt werden, weil diese ja nicht mehr zwingend für Reisen oder umfassende Büroausstattung benötigt würden. Insofern ist uns wichtig zu betonen, dass es uns nicht darum geht, für eine weitere Ausbeutung von Wissensarbeiter*innen zu plädieren, die nun dauerhaft ihr eigenes Zuhause als Büro sowie Strom- und Heizkosten und Geräte bereitstellen sollen oder auf Reisen verzichten. Es geht uns auch nicht um ein Entweder/Oder von digitaler Lehre oder Präsenz, sondern um die Offenhaltung von breiten Möglichkeitsräumen und den konstruktiven Umgang mit diesen. Zentral ist hierbei die Anerkennung und Abwägung spezifischer Prekaritäten, sowie weiterhin die Bereitstellung von Ressourcen.
Ein Beispiel, wie ein konstruktiver Umgang aussehen könnte, zum Abschluss: Ein Lehrauftrag wird vielerorts mit unter 1000 € im Semester vergütet; es scheint naheliegend und umsetzbar, dass der Lehrperson ermöglicht werden sollte, neben fachlichen Abwägungen auch auf Grundlage der jeweils spezifischen Lebenssituation die Frage nach dem Lehrmodus (vor Ort/hybrid/digital; synchron/asynchron) zu stellen und situationsspezifisch zu beantworten. Dabei sind bspw. finanzielle (keine Reise-, aber Stromkosten im Homeoffice vs. ggf. kostspieligere Reise und Übernachtung) oder auch familiäre Aspekte (z.B. vereinbar mit Betreuung?) von Bedeutung. Ähnliches ließe sich auch mit Blick auf die Flexibilisierung von Arbeitszeiten vor Ort anwenden: Situationsspezifische Lösungen sollten diskutiert und gefunden werden, die auf Grundlage eines Austauschs zwischen der Verwaltung und den Mitarbeiter*innen auch zu einer Optimierung von Raumverfügbarkeiten führen könnte – hier müsste seitens der Hochschulen großes Interesse bestehen. Bestenfalls handelt es sich bei der konstruktiven Nutzung der in der Pandemie neu gewonnenen Möglichkeiten also um einen Zugewinn an Zugänglichkeit durch vielfältige Lehr-, Lern- und Arbeitssituationen – und keinesfalls um eine Rechtfertigung, Prekarität weiter zuzuspitzen. Dies setzt notwendigerweise voraus, unsere vielfältigen Verständnisse von ‹Präsenz› wiederholt zu hinterfragen.
Bio (Zusatz zu den Individualbios):
Die Autor*innen sind Mitglieder des Arbeitskreises Gewaltprävention Online im Forum Antirassismus in der Medienwissenschaft (FAM). Aus einer kritischen medienwissenschaftlichen Perspektive heraus beschäftigt sich der Arbeitskreis mit dem Einsatz von Videokonferenz-Software und Plattformen in der Hochschullehre, mit wissenschaftsfeindlichen Diskursen und Praktiken sowie mit spezifischen Handlungs- bzw. Widerstandsmöglichkeiten gegen Diskriminierung und Gewalt im digital erweiterten Raum der Hochschulen.
- 1 Aus der HRK-Meldung für das Sommersemester 2022: «Für das Sommersemester 2022 besteht die Perspektive, Lehrveranstaltungen wieder weitgehend in Präsenz durchführen zu können. Hochschulen und Ländern streben daher an, dass alle Studierenden Lehre und Studium wieder in Präsenz erleben können – ohne Abstände».
Beispielhaft für die zahlreichen Anschreiben und Bekanntmachungen, welche die Präsenzlehre als erstrebenswerten neuen Regelfall einstuften, sei auf folgende Stelle aus einem Schreiben der Universitätsleitung der Universität Bayreuth an alle Lehrenden im Januar 2022 verwiesen: «[Die Impfquote] bestärkt uns darin, den Weg zurück zu einem möglichst normalen Universitätsalltag weiter konsequent zu gehen. In Abstimmung mit den Studiendekanen und dem Studierendenparlament hat die Hochschulleitung beschlossen, das Sommersemester standardmäßig als Präsenzsemester umzusetzen und digitale Anteile als wertvollen, ergänzenden Baustein der Präsenzlehre zu definieren. Das heißt konkret: Ausschließlich Online angebotene Seminare und Vorlesungen können nur auf begründeten Antrag über die Studiendekane in der Lehre eingesetzt werden.» (Herv. d. Verf.)
- 2Wir klammern innerhalb dieses Texts den Sonderfall der Fernuniversität aus.
- 3Das seien lediglich 4 % der Gesamtteilnehmenden, so der relativierende Zusatz. Da es sich aber lediglich um aktive Meldungen der Teilnehmenden ihrer symptomatischen und bestätigten Infektionen handelte, blieb ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung zu vermuten, dass die Dunkelziffer deutlich höher war.
- 4Siehe auch die Erläuterungen zu komplexen Hierarchiegefügen in der Wissenschaft in: Maja Figge, Guido Kirsten, Chris Tedjasukmana, Julia Zutavern: Exzellenz und Elend. Zu den institutionellen Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Bd. 8, Nr. 1 2016, 137–141, hier 140.
- 5Überblick verschaffen u.a. das Einstein Center for Neurosciences und die stetig erweiterte thematische Sammlung «Science careers and mental health“ des Fachjournals Nature.
- 6Dass Studierende an der digitalen Lehre vor allem die wegfallenden Anreisezeiten sowie die bessere Vereinbarkeit mit Erfordernissen ihres jeweiligen Alltags schätzten, zeigen erste Erhebungen, vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1236182/umfrage/corona-krise-die-groessten-vorteile-des-digitalen-sommersemesters/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1236142/umfrage/corona-krise-gruende-fuer-den-besuch-von-mehr-lehrveranstaltungen-im-sose/.
Wir möchten zudem auf Hanna Haags und Daniel Kubiaks von der GEW veröffentlichte Studie «Hochschule in krisenhaften Zeiten» hinweisen, die für die Lehre Folgendes resümiert: «Am Beispiel digitaler Lehre etwa ist erkennbar, dass diese Form der Wissensvermittlung einerseits neue Chancen eröffnet, etwa die Partizipation von Nicht-Muttersprachler*innen oder Hörgeschädigten zu erleichtern, um nur ein Beispiel zu nennen. Gleichzeitig können sich aber durch einen schlechten Internetempfang oder unzureichende Wohnverhältnisse für ein ruhiges Arbeiten neue Zugangsprobleme ergeben. Auch die Einkommenssituation spielt bei beiden Gruppen – Lehrenden wie Studierenden – eine erhebliche Rolle; wie wir sehen konnten, verzeichnen viele Studierende erhebliche finanzielle Einbußen im Zuge der Pandemie, was zur Verstärkung ohnehin bestehender Ungleichheiten führt. Diese Aspekte gilt es in besonderem Maße auch aus einer intersektionalen Perspektive im Hinblick auf die Verschränkung unterschiedlicher Ungleichheitskategorien zu untersuchen» (2022: S.79).
- 7Uns ist bewusst, dass es sich bei dem Verhältnis von Umweltschäden durch Mobilität (insb. Flug- und Autoreisen) sowie durch digital gestreamte Veranstaltungen (Ausbeutung von Ressourcen wie Rohstoffe, Energie etc.) um einen Problemkomplex handelt, der kontextabhängig ggf. einer ausführlicheren Diskussion bedarf.
- 8An dieser Stelle ist auch die Politik gefordert, auf Grundlage vergangener Erfahrungen gesetzliche Änderungsvorschläge zu machen, die eine solche Flexibilität von Hochschulen und ihren Mitgliedern juristisch absichern. Im Herbst 2021 hat beispielsweise der Landtag NRW ein Digital-Gesetz verabschiedet, das Rechtssicherheit für das digitale Management von hochschulischer Lehre und Verwaltung in Krisen- und Katastrophensituationen bieten soll.
Bevorzugte Zitationsweise
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