Trumps letzte Tage
Der bittersüße Zauber der Verleugnung – von Gabriele Dietze
Setting the Stage
Das Phänomen ist bekannt. Der Ethnopsychiater Octave Mannoni hat es in den Merkspruch gegossen, «I know very well, but all the same …» (natürlich weiß ich das, denke/glaube aber trotzdem …).1 Mir ist diese griffige Formulierung immer wieder durch den Kopf gegangen, als ich mit zunehmender Fassungslosigkeit beobachtete, wie Trumps Anhänger:innen und er selbst trotz gegenteiliger Evidenz an der Behauptung festhielten, dass die Präsidentenwahl gefälscht sei und dass – ebenfalls gegen alle Regeln, die die Verfassung vorsieht – das Wahlergebnis auf irgendeinem politischen Weg noch umkehrbar wäre. Es ist kaum möglich, dass sie nicht wissen, dass die Fakten gegen ihre Wünsche sprechen. Und doch dominiert der Wille, die Welt anders zu sehen und anders haben zu wollen. Diese Haltung wurde in offenbar sinnlose politische Pläne übersetzt, wie geplante Einsprüche von zunächst 140 Kongressabgeordneten und 14 Senatoren der republikanischen Partei gegen die Korrektheit des Wahlergebnisses auf einer Sitzung, die nach der Verfassung lediglich vorsieht, den mehrfach überprüften Wahlsieg des Demokraten Biden, der durch das Wahlleute-Gremium nach Einzelstaaten ausgezählt wurde, zu addieren und dann zu zertifizieren.
Paradoxien der Verleugnung
Bevor ich auf die konkreten historischen Details dieser massenhaften Verleugnung eingehe, möchte ich zunächst den psychoanalytischen Mechanismus rekonstruieren, welcher der Formel «I know very well, but all the same» zugrunde liegt. Der Psychoanalytiker greift hier auf eine Ableitung von Sigmund Freud bezüglich einer wichtigen Komponente männlicher sexueller Sozialisation zurück, die allseits bekannte Kastrationsangst. Danach imaginiert der Knabe, dass die Mutter wie er selbst mit einem Penis ausgestattet ist. Als er später nackte Mädchen sieht und deren Penislosigkeit gewahr wird, wendet sich ihnen seine Phantasie begehrend zu und, er beginnt zu masturbieren. Von erziehenden Erwachsenen wird er dieses Vergnügens beraubt, indem man ihn damit bedroht, dass der Vater ihm zur Strafe den Penis abschneiden wird. Der entsetzte Knabe schützt sich mit einer psychischen Operation, indem er der Mutter einen Phallus zurück-imaginiert, obwohl er weiß, dass sie keinen haben kann. Insofern hat keine Kastration stattgefunden, und es wird damit auch an ihm keine stattfinden. Der mütterliche Phallus wird zu einem Fetisch – einem Ding, von dem man weiß, dass es nicht das ‹Ding an sich› ist, es aber stellvertretend verehrt.
Freud schreibt dazu in der kleinen Schrift «Ich-Spaltung als Abwehrvorgang»:
«[Das Kind] antwortet auf den Konflikt mit zwei entgegengesetzten Reaktionen, beide giltig und wirksam. Einerseits weist es mit Hilfe bestimmter Mechanismen die Realität ab und läßt sich nichts verbieten, anderseits anerkennt es im gleichen Atem die Gefahr der Realität, nimmt die Angst vor ihr als Leidenssymptom auf sich und sucht sich später ihrer zu erwehren. Man muß zugeben, das ist eine sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit. Beide streitende Parteien haben ihr Teil bekommen; der Trieb darf seine Befriedigung behalten, der Realität ist der gebührende Respekt gezollt worden. Aber umsonst ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten eines Einrisses im Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrößern wird. Die beiden entgegengesetzten Reaktionen auf den Konflikt bleiben als Kern einer Ichspaltung bestehen.»2
Man muss den anthropologisierenden Fabulationen der Psychoanalyse über kindliche Sexualphantasien nicht unbedingt folgen, um die Logik der Konstruktion einsichtig zu finden oder Fragmente davon im eigenen Seelenhaushalt wiederzuerkennen. Wichtig an der Denkfigur ist, dass beide Anteile der Verarbeitung eines ungeliebten Faktums – die Verleugnung seiner Existenz und die Behauptung, dass das Gegenteil richtig ist – gleichermaßen präsent bleiben. Das ungeliebte Faktum wird nicht nur als nicht existent bestritten, das wäre die Negation, noch wird es vergessen, aus dem Bewusstsein vertrieben, das wäre eine Repression. Sondern es wird verleugnet, also in einem Zustand konserviert, wo es gleichzeitig da und nicht da ist.
Von der Qual der Wahl
Diese Paradoxie tritt in Zusammenhang mit Trump bei den leidenschaftlichen Aufrufen vom Januar 2021 auf, unbedingt in Georgia die Kandidat:innen für den Senat – Kelly Loeffler und David Purdue – zu wählen, an deren Wahlgewinn die republikanische Mehrheit im Senat hing. Diese Aufrufe werden von denselben Trump-Unterstützer:innen bejubelt, die noch im November zum Boykott der Senatswahl aufgerufen hatten, weil angeblich Wahlfälschungen großen Ausmaßes Trumps Wahl zum Präsidenten verhindert hätten. Das heißt, sie fordern dazu auf, sich eines Wahlverfahrens zu bedienen, dessen Integrität von ihnen selbst im gleichen Atemzug massiv bestritten wird. Man kann das Phänomen auch mit Trumps eigenen Worten verdeutlichen. In einem inzwischen berühmten Telefongespräch mit dem Wahlleiter von Georgia, dem republikanischen Innenminister Brad Raffensperger, versuchte der Noch-Präsident den Mann davon zu überzeugen, 11.780 Stimmen zu ‹finden›, damit die knappe Mehrheit für Joe Biden in Georgia kippt. Ein Mitschnitt des Gesprächs protokolliert Folgendes: «And you can’t let it happen, and you are letting it happen. You know, I mean, I’m notifying you that you’re letting it happen. So look. All I want to do is this. I just want to find 11,780 votes, which is one more than we have because we won the state.»
Abgesehen von der Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten hier einen Amtsträger dazu auffordert, die Wahl zu fälschen – er soll zusätzliche Stimmen ‹finden› – gibt er zu, dass sie nicht existieren («one more than we have», mehr als wir haben). Interessant ist auch der Einstieg in die Aufforderung zur kriminellen Handlung einer Wahlmanipulation: «You can’t let it happen», du darfst/kannst nicht erlauben, dass es passiert. Das entspricht genau der Ausgangssituation der Verleugnung: Es existiert/passiert irgendetwas, das auf keinen Fall passieren darf, deswegen erfindet man in Freuds Terminologie einen imaginären mütterlichen Phallus (sprich imaginäre Stimmen für Trump), um sich nicht der Angst vor der Kastration, sprich des Verlustes des Präsidentenamtes aussetzen zu müssen.
Besetzungsliste eines Aufstandstheaters
Nun sind in diesem Spiel mindestens drei Parteien involviert: die Partei, die das Amt verliert, also der jetzige Präsident; die Partei, die unbedingt daran glauben will, dass er, der Präsident, es unrechtmäßig verliert: die Trump-base. Die dritte Partei besteht aus republikanischen Mitgliedern des Kongresses, Abgeordneten und Senator:innen, die zu entscheiden hatten, ob sie die wahnhafte Ichspaltung mitmachen und am 6. Januar in der Zertifizierungssitzung für die neue Präsidentschaft Einspruch gegen den Sieg von Biden erheben, obwohl sie wissen, dass sie dafür nicht die erforderliche Mehrheit haben, oder ob sie der Stimme der Vernunft folgen wollen und im Theater der Verleugnung nicht mitspielen. Nach Freuds kleiner Skizze zur Ichspaltung als Abwehrvorgang vermeidet der Knabe, sich auf lange Dauer der Kastrationsangst auszusetzen. Er verschiebt die Drohung auf einen ebenfalls schrecklichen – wenngleich nicht so intimen – Horror, nämlich auf die Angst, vom Vater gefressen zu werden.3 Fragt man sich nun, warum 140 Abgeordnete und 14 Senator:innen, in der Regel gut ausgebildete Leute und fast immer Millionär:innen, sich einem illusionären Verhalten anschließen, von dem sie wissen, dass es rein rhetorischer Natur sein wird, könnte man als Antwort die Angst vor dem Vater als Kinderfresser einsetzen. Und die ist berechtigt. Senator Thune aus North Dakota hatte spöttisch über seine Trump-hörigen Kolleg:innen gesagt: «We're locked into doing it, we’ll give air to the objections, and people can have their day in court». Vater Trump reagiert entsprechend gefräßig: «Politcal career over», twittert er zu Thunes Bemerkung. Das heißt, dass er den Senator bei der nächsten Wahl nicht unterstützen wird. Damit ist der Senator politisch tot, das heißt er wird vom Vater gefressen.
Nun ist leicht einzusehen, was Trump psychisch zu verlieren hat, wenn er seinen Verlust nicht verleugnet: nämlich das Amt des mächtigsten Mannes der Welt, die höchte denkbare phallische Ermächtigung. Dass die Vorstellung einer Kastration gleichkommt, konnte man an folgender Geschichte studieren. Donald Trump wurde bei der Thanksgiving-Rede an die Nation 2020 so von der Seite fotografiert, dass sein Hinterteil auffallend voluminös wirkte. Darauf erhob sich ein Twittersturm unter dem Hashtag DiaperDon, der dem Präsidenten unterstellte, er trüge Windeln. Twitter selbst vermeldete, dass in der Kategorie United States Politics der #DiaperDon die Spitze der Trends übernommen habe. Damit war #DiaperGate geboren. Trump erklärte Twitter daraufhin zu einem nationalen Sicherheitsrisiko und plädierte dafür, dass das Immunitätsgesetz, das Internetplattformen vom Inhalt der Posts straffrei stellt, abgeschafft werden muss. Diese Geschichte eines möglicherweise inkontinenten Präsidenten stellte seine politische Männlichkeit4 in Frage und war so die ultimative Kastrationsdrohung.
Was jedoch haben die Millionen von Trump-Wähler:innen so schmerzlich zu verlieren oder zu befürchten, dass sie Bidens Sieg verleugnen und sich massenweise in die Dolchstoßlegende einer gestohlenen Wahl flüchten? Viele Gründe sind sozioökonomischer Natur, und sicher spielt in dem wohnsitzmäßig immer noch stark segregierten Land peer-group pressure eine Rolle. Ich möchte aber zwei kulturelle Gründe herausgreifen, die die rassistisch-sexistische Regierungsperiode Trumps gekennzeichnet haben und für seine mehrheitlich euroamerikanische, das heißt weiße, männlich dominierte, Wählerschaft wichtig waren: Da ist zum einen die (zum großen Teil uneingestandene) Furcht, dass weiß zu sein keinen finanziellen Vorteil und keinen ‹natürlichen› Führungsanspruch mehr bedeutet. Und zum zweiten handelt es sich um ein Festhalten an der Vorstellung männlicher Souveränität. Letzteres manifestiert sich im Unwillen (oder diffusen Unbehagen), eine als – wie die Privilegierung von Weißen – ‹natürlich› betrachtete Geschlechterhierarchie, die Männern Definitionsmacht und Frauen Versorgung garantiert, aufzugeben. Es manifestiert sich insbesondere in Misogynie und rabiatem Anti-Feminismus des alt-right-Flügel der Trumpunterstützer.
Unsichtbare Privilegien
Weißsein heißt, mehr zu verdienen, gesünder zu sein (wie wieder einmal Covid-19 klargemacht hat) und eine bessere Ausbildung und damit bessere Lebenschancen zu haben als Nichtweiße. Inzwischen jedoch holen einige Minderheiten wie Hispano-Amerikaner:innen auf. Das beunruhigt Amerikaner:innen europäischer Herkunft, die in einigen Bundestaaten bald nicht mehr in der Mehrheit sein werden und die befürchten, mit ‹Anderen› um bessere Lebensbedingungen konkurrieren zu müssen.5 Trump organisierte die Kernthemen seiner Politik um diese ‹Sorge›: Mit Einwanderungsfeindlichkeit, Mauerbau, Deportation der Kinder von illegal Eingewanderten, Trennung von Eltern und Kindern beim Grenzübertritt, mit Versuchen, die Wahlen für Nichtweiße durch Sonderregelungen zu behindern, und mit der Weigerung, die multikulturellen Metropolen wie New York, Chicago, Los Angeles und Philadelphia während der Corona-Pandemie mit Bundesgeldern zu untersützen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Privileg dominanter Männlichkeit. Auch hier zeigte sich Trump als Protagonist männlicher Herrschaft. Schon vor der Wahl zum Präsidenten machte der berühmte ‹Grab them by the Pussy›-Spruch klar, dass Frauen nicht als Gleiche betrachtet werden.6 Signifikant wurde dann das Festhalten am Privileg des Männlichen als er begann, Voraussetzungen dafür zu schaffen, Frauen um ihre reproduktiven Rechte zu bringen, indem er Posten im Verfassungsgericht mit Abtreibungsgegner:innen wie Amy Coney Barrett besetzte.
Nun neigt man dazu, eigene privilegierte Positionen nicht als ungerechtfertigten Vorteil wahrzunehmen, sondern als eine Art von natürlicher Austattung. Interessanterweise reflektieren die Titel der In den USA erfolgreichsten Bücher zur Race-Frage genau diesen Unwillen von Euroamerikaner:innen, Weißsein als Privileg zu begreifen und darüber zu sprechen. Sie heißen White fragility: Why it's so hard for white people to talk about racism (2018) von Robin diAngelo oder Why I'm no longer talking to white people about race (2018) von Reni Eddo-Lodge. Die Philosophin Eva von Redecker hat für diese einerseits präsente und andererseits bestrittene Haltung zur Überlegenheit von Whiteness und männlicher Herrschaft den Begriff «phantom posession» geprägt.7 Danach hält ein populistischer ‹Neoautoritarismus› wie der Trumpismus an historisch überlieferten und in der Vergangenheit mit verbriefter Macht ausgestatteten Geburtsvorteilen fest. Zentral sind dabei Privilegien von Weißsein und Männlichkeit, obwohl nach Verfassung und geschriebenem Recht Ethnizität und Geschlecht kein Grund zur Ungleichbehandlung sein dürften. Die Magie populistischer Führer wie Trump oder Johnson liegt u. a. darin, sich über Gleichheitsnormen hinwegzusetzen und ein schuldfreies Überlegenheitsbegehren zu ermöglichen. Damit werden sie zu Garanten ‹verbotener› Wünsche. Wird der geliebte Garant aus dem Spiel genommen, etwa dadurch, dass er eine Wahl verliert, kann es dazu kommen, dass auch gewaltsame Mittel ergriffen werden, um den phantasmatischen Besitz zu verteidigen.
Domestic Terrorism
Damit sind wir zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 durch Trump-Anhänger:innen vorgestoßen. Im Licht der obigen Ausführungen ist ein nochmaliger Rückgriff auf Sigmund Freud nützlich. In dem kleinen Aufsatz «Fetischismus» verbindet er die Motivation des Fetischisten, sich ein Ersatzobjekt für das weibliche Genital, einen Fetisch, zu erschaffen auch hier mit der starken Empfindung der Kastrationsangst und fügt eine politische Aussage an: «Der Hergang war also der, daß der Knabe sich geweigert hat, die Tatsache seiner Wahrnehmung, daß das Weib keinen Penis besitzt, zur Kenntnis zu nehmen. Nein, das kann nicht wahr sein, denn wenn das Weib kastriert ist, ist sein eigener Penisbesitz bedroht, und dagegen sträubt sich das Stück Narzißmus, mit dem die Natur vorsorglich gerade dieses Organ ausgestattet hat. Eine ähnliche Panik wird vielleicht der Erwachsene später erleben, wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr, und sie wird zu ähnlich unlogischen Konsequenzen führen».8 Freud parallelisiert hier die Verleugnung der Kastrationsgefahr mit der Angst davor, dass ‹Thron und Altar›, bedroht sein könnten – oder, in anderen Worten, mit der Angst davor, dass die Autorität, die die Verleugnung mit ihrem Machtsystem absichert, gestürzt werden könnte. Gewaltsame Unruhen wären dann mit Freud «unlogische Konsequenzen».
Übersetzt man obige Ableitung auf die Umstände, die zum Sturm der Trump-Unterstützer:innen auf das Kapitol geführt haben, erhält man folgenden Zusammenhang: Die Tatsache, dass Trump die Wahl verloren hat und damit seiner base der Zugang zum phantasmatischen Besitz der Privilegien von Whiteness und autoritativer Männlichkeit versperrt sein könnte, ist unerträglich: Das kann, um eine obige Textpassage zu zitieren, einfach ‹nicht wahr sein›. Deshalb ist die Verleugnung des Wahlergebnisses dringend erforderlich. Auf den konkreten Fall übertragen heißt das, dass die parlamentarischen Prozeduren, um die Wahl Bidens amtlich zu machen, unterbrochen werden müssen. Diese standen genau auf der Sitzung, die von Trump-Anhängern im Kapitol gesprengt wurde, auf der Tagesordnung. Die Eindringlinge legen bei diesem Akt der Trangression einen in unzähligen Selfies im Netz dokumentierten ‹sebst-befriedigten› Enthusiasmus an den Tag, denn sie haben kurzfristig Thron und Altar gerettet. ‹König› Trump selbst zieht eine tiefe Befriedigung aus den Bildern des von ihm angezettelten Aufstands. Aus dem Weißen Haus wird berichtet, dass Trump «borderline enthusiastic», den Fernsehbildern des Sturms seiner Anhänger auf das Kapitol gefolgt sei.
Kleine Schlussbemerkung
Die Psychoanalyse ist kein Instrument für eine differenzierte Sozialkritik, das will sie auch nicht sein. Sie ist oft ahistorisch9 und reduziert gesellschaftliche Macht- und Kapitalverhältnisse auf Dynamiken von universalisierter Triebstruktur. Zu der hier entwickelten Fragestellung allerdings ist der Metaphernraum ihrer Untersuchungen erhellend und erkenntnisfördernd. Sie ist in einer historischen Periode entstanden, die einerseits in die Hochzeit des Kolonialismus und damit des Privilegs von Weißsein fällt,10 und andererseits Psychopathologien in der ödipalen bürgerlichen Familie behandelt, die vom Vater unherausgefordert beherrscht wird. Insofern kann ihr Bild- und Denkraum für die Analyse von Bevölkerungsgruppen11 mobilisiert werden, die sich aufgrund einer tiefen Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen die Rückkehr akzeptierter weißer Suprematie und hierarchisierte Geschlechterverhältnisse wünschen. Populistische Führer wie Trump spielen auf der Klaviatur dieser Sehnsucht, verkörpern sie und versprechen, sie zu erfüllen. Der Traum ist so machtvoll, dass nichts- und niemand seine Verwirklichung verhindern können sollte. Sie hat im konkreten Fall dazu geführt, dass ein noch regierender Präsident in einem Akt von Hochverrat seine Anhänger:innen erfolgreich zum Sturm gegen ein geheiligtes Symbol der Demokratie, das Kapitol in Washington D.C., aufruft. Und sie hat einer größeren Zusammenrottung mehr oder weniger randseitiger weißer Krawallmacher:innen ermöglicht, einen historischen Akt der Insurrektion aufzuführen und sich damit ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zu randalieren.
- 1Octave Mannoni: «I know very well, but all the same», in: Molly Anne Rothenberg, Dennis A Foster, Slavoj Žižek (Hg.): Perversion and the social relation, Reihe sic, Bd. 4,Durham 2003, S. 68–92.
- 2Sigmund Freud: Ichspaltung im Abwehrvorgang [1940], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XVII. Frankfurt a.M., 1999, S. 60–62, hier 60.
- 3Freud: Ichspaltung, S. 62.
- 4Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen, Berlin 2020
- 5Arlie Russell Hochschild: Strangers in their own Land: Anger and Mourning on the American Right, New York 2016.
- 6Gabriele Dietze: Der Pussy Präsident. Sexuelle Konterrevolution versus feministischer Civil War, in: Lars Koch, Tobias Nanz, Christine Rogers (Hg.): The Great Disruptor. Über Trump, die Medien und die Politik, Stuttgart 2020, S. 99–114.
- 7Eva von Redecker: Ownership's Shadow: Neoauthoritarianism as Defense of Phantom Possession, in: Critical Times, 3 (1), 2020, S. 33–67, hier 50.
- 8Sigmund Freud: Fetischismus [1927], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt a.M. 1999, S. 311–317, hier 312 (Herv. G. D.).
- 9Thomas A. Kohut: Plädoyer für eine historisierte Psychoanalyse, in: Bernhard Strauß, Michael Geyer (Hg.): Psychotherapie in Zeiten der Veränderung, Wiesbaden 2000, S. 41–50.
- 10Octave Mannoni hat 1950 eine ‹Psychologie der Kolonisation› geschrieben: Prospero and Caliban: The Psychology of Colonization, Ann Arbor 1990. Der zentrale psychoanalytische Text zu Whiteness und Race ist natürlich: Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, New York 1952. Der folgende Sammelband rekonstruiert die vielen Verbindungen, die es zwischen der Entstehung der Psychoanalyse und zeitgenössischem Race-Verständnis gibt: Christopher Lane: The Psychoanalysis of Race, New York 1998.
- 11Wendy Brown hat eine sehr griffige Typologie der US-amerikanischen Trump-Gefolgschaft angeboten: «The first strain yearns for protection, stability, and order. It is motivated by anxiety and fearfulness; it responded to the strongman, the wall builder, the decider, the enforcer. These are especially the middle-aged white suburbanites. They might be recoverable. The second strain yearns for disruption and revenge … They are animated more by humiliation and rage than by fear. They responded to the boorishness, the bravado, the swagger, the willingness to blow things up without caring where the pieces would land. These are the thugs, the trolls, the provocateurs, and they will hang on the longest. The third strain yearns for a fix. It is motivated by socio-economic frustration, it responded to the promise of tax cuts, of protectionism, of bringing jobs back. These are classic republicans and the swing voters». Wendy Brown: Apocalyptic Populism, in: Eurozine, 30, 2017, zit. n. Redecker: Ownership’s Shadow, S. 38.
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