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Bares für Rares (zdf.de)

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GAAAP_ The Blog

Bares für Rares

Eine Lektüre von Gabriele Dietze

10.2.2018

In den letzten Monaten hatte mich eine Serie von Misshelligkeiten und Familienangelegenheiten ans Haus gefesselt. Auf der Suche nach Trost wandte ich mich – nicht zum ersten Mal im Leben – dem binge watching zu. Für Qualitätsserien reichte meine Konzentration nicht. So sehr ich die neue Dickens’schen Erzähl-Üppigkeit der anspruchsvollen angloamerikanischen und skandinavischen TV-Dramen schätze, ich hatte einfach nicht den Kopf, ein komplexes ensemble cast im Auge zu behalten. Ich brauchte etwas Einfaches. Ich landete bei Bares für Rares. Das läuft zuverlässig zweimal am Tag und am Wochenende gibt’s Auswahlformate mit den jeweils ‹besten› Segmenten.

Das Format der Antik-Show ist übersichtlich. Privatmenschen bringen Fund- und Erbstücke oder Flohmarktteile in eine ausgemusterte Werkshalle zu Begutachtern von Schmuck, Kunst, Spielzeug, alten Messgeräten und anderer Raritäten. Es wird gezeigt, wie Leute auf die Halle zulaufen und in Schachteln, Körben oder Taschen Gegenstände mit sich tragen. Unter der Leitung von Horst Lichter sagen sie ihren Namen – meist ihren Vornamen –, ihren Beruf, ihre Heimatstadt und woher sie das Artefakt haben. Die Gutachter_innen erzählen teilweise so komplexe Fachgeschichten dazu, dass der Verdacht von scripted reality sicher nicht unbegründet ist. Lichter fragt sodann nach der Preisvorstellung der Anbieter_innen, worauf die Gutachter_innen die Wünsche nach oben oder unten korrigieren. Wenn ein realer Deal möglich erscheint, bekommen die Anbieter_innen die magische Händlerkarte. Szenenwechsel: Die Kamera folgt den Glücklichen, die dann in der Regel versichern, dass sie nervös oder ganz gelassen sind, je nach Temperament. Damit ist der erste Akt der Prozedur abgeschlossen.

Im zweiten Akt treten die Anbieter_innen vor ein fünfköpfiges, sorgfältig gecastetes Händlerforum: Der hemdsärmliche Trödelunternehmer aus der Eifel, Waldi, die hübsche, zarte Schmuckhändlerin, Susanne, der kenntnisreiche österreichische Auktionator, Walter, ein Thüringischer Antik-Punk  und Schlossbesitzer, Fabian, ein bayrisches Schlitzohr in volkstümlichen Hawaihemden, Lucky (gelegentliche Ersatzkandidat_innen erreichen den Charme des Urensembles nicht ganz).1 Die Händler_innen sitzen erhöht, wie Richter, an einem Tisch, die Anbieter_innen werden auf einem im Boden eingezeichneten Kreuz in gebührenden Abstand platziert. Die Händler_innen inspizieren das Kaufgut, machen ein paar Scherze und beginnen dann einen Bietprozess. Der schließlich erzielte Preis wird in Geldscheinen auf den Tisch geblättert. In der Schlusseinstellung kommentieren die mehr oder weniger zufriedenen Verkäufer_innen ihren Handel. Dabei schwenkt die Kamera auf ihre Hände, die die Geldscheine halten. Dann werden die nächsten Kund_innen auf dem Weg in die Werkshalle gezeigt.

Meine Neigung zu diesem spezifischen Fernsehformat ist keineswegs exklusiv. Ich teile die Leidenschaft für die seit 2013 laufende Sendung Bares für Rares mit durchschnittlich drei Millionen Zuschauer_innen, die sich täglich in die Nachmittagssendung einschalten.2 Nach vielleicht 100 Stunden Trost, Ablenkung und Beruhigung, die ich aus diesem von außen monoton und repetitiv erscheinenden Fernsehformat geschöpft hatte, begann die Kulturwissenschaftlerin in mir sich dafür zu interessieren, welche Grundbedürfnisse und Sinngebungen dieses TV-Genre befriedigt, um dermaßen heilsam zu sein.3 Deshalb werde ich im Folgenden ein paar Ansätze aus der Genre-, Populärkultur- und Narratologie-Forschung bemühen, um mir selbst das Phänomen zu erklären.

Beginnen wir mit der Frage nach dem Genre. Ein Genre ist eine Erzählform, die ein Set von ähnlichen Problemen aufwirft, einen immer gleichen Plot hat, typische Protagonist_innen und eine ‹Lösung›, die die Instabilität, die das Problem aufgeworfen hat, neuer Stabilität zuführt.4 Man nehme z. B. den Krimi. Das Problem ist das begangene Verbrechen, der Plot ist die Untersuchung, die Protagonist_innen sind potentielle Verbrecher_innen und Ermittler_innen, die Lösung besteht darin die Verbrecher_innen zu erwischen und zu bestrafen. Hebt man die Genre-Beschreibung auf eine höhere Ebene, so steht das Verbrechen für die Bedrohung jeder Gesellschaft durch Gewalt und Normüberschreitung, der Plot ist das immerwährende Bemühen, Balancen und Interessenausgleich zu erzielen, also mit anderen Worten ‹Politik› zu machen. Die Protagonist_innen stehen für gesellschaftliche Konflikte und unterschiedliche Agenturen der Mediation (Presse, Justiz, Politik, Sozialarbeit etc.) und die ‹Lösung› ist die zwischenzeitliche Wiederherstellung von sozialem Frieden durch Aussonderung des ‹Störfaktors›.

Der wiederholte Konsum eines Genres, man könnte auch von rituellem Genuss sprechen,5 erlaubt «fiktionales Probehandeln»,6 d. h. man arbeitet beunruhigende Tatbestände durch und erfreut sich an der Sicherheit, dass Regelwidrigkeiten bestraft werden. Insofern ermöglicht die Überschwemmung des deutschen Fernsehmarktes mit Krimis, Reality-Shows von Polizeieinsätzen, der Arbeit der Kriminalpolizei, des Gerichtsvollziehers oder des Ordnungsamtes und mit US-amerikanischen real crime-Serien7 Rückschlüsse auf nationale Verunsicherung und Ordnungswahn – beides wird mit dem Genre-Konsum in Schach gehalten.

Mit welcher Art von Genre und fiktionalem Probehandeln haben wir es nun bei Bares für Rares zu tun? Vordergründig zunächst mit dem Format des reality tv. Dieses hat einige Subformate. Eines davon sind Lebenssimulationsshows, wie z.B. Frauentausch, wo Ehefrauen und Mütter meist unterschiedlicher Klassen, Bildungsniveaus und Schmutztoleranzen ausgetauscht werden. Hier kann man davon ausgehen, dass, um narrative Bögen zu erzeugen, die angeblich authentischen Personen mit Handlungs- und Sprechanweisungen versehen sind, es sich also um scripted reality handelt. Eine zweites Lebenssimulationsformat sind die Überwachungsformate wie Big Brother und Dschungelcamp, in denen unsichtbare Kameras beobachten. Der Genre-Lustgewinn besteht hauptsächlich aus Voyeursvergnügen und durchaus auch aus Schadenfreude. Die Zuschauer_innen erhoffen sich in ihrer zoologischen Beobachtungsperspektive, dass Akteur_innen der Shows peinlich scheitern. Der Sekundärgewinn besteht darin, sich ‹besser› und überlegen zu fühlen.

Bei Bares für Rares handelt es sich um Dokutainment. Reale Lebens- und Handlungsvorgänge werden in ein unterhaltsames Gerüst hineingepackt. Der Reiz dieses Formats besteht in seiner Authentizitätsbehauptung: Wirkliche Menschen tun wirkliche Sachen. Und was ist schließlich im Kapitalismus wirklicher als Marktpreise und Kauf- und Verkaufsaktionen? Womit wir zum ersten Lustgewinn des Formats gekommen wären. Zentral sind Cash und Geld, man könnte auch vom Geldfetisch sprechen. Die Geldscheine werden mit Schmackes auf den Händler_innentisch geblättert, der Handel mit Handschlag besiegelt und dann mit einem kontemplativen Shot auf die Hände der Verkäufer_innen nochmal in das Pathos der Eigentümerschaft überführt. Interessant dabei ist die häufige Wortwahl: «Ich will dass das Ding in gute Hände kommt». Für letzteres wären die Händler_innen zuständig.

Womit wir zur nächsten Großerzählung der TV-Show kommen: Genealogie und Vererbung. Viele der ursprünglichen Besitzer_innen haben das Verkaufsgut geerbt und behaupten, es verkaufen zu wollen, weil es keine natürlichen Erben gibt. Besonders die ältere Klientel sagt gern, dass sie den Verkaufserlös an die Enkel verschenken will. Das Fernsehformat veranschaulicht (und verdinglicht) hier Generationenketten über Warenbeziehungen. Es leuchtet damit Vereinzelung und Vereinsamung aus, bietet aber eine Ersatzbefriedigung an, das Geldäquivalent. Dabei bleibt natürlich die Frage, ob das Geldäquivalent für angemessen gehalten wird, also ob Anspruch und Wirklichkeit in einem harmonischen Verhältnis stehen. So ist es kein Zufall, dass ein zweites Schlüsselwort der sozialen Interaktion ‹Schmerzgrenze› ist. Unter dieser mögen die Anbieter_innen nicht verkaufen. Wenn die Schmerzgrenze allerdings unrealistisch ist, dann gibt es keine Händlerkarte, d. h. man wird zur Marktteilnahme nicht zugelassen, man hat sich verkalkuliert. Hier borgt das Dokutainment vom Krimi oder den Reality-Shows, hier wird Strafe ausgeteilt.

Das Leitmotiv der Show ist der Wert. Dieser wird von zwei Instanzen beurteilt, den Gutachter_innen und den Händler_innen. Die Gutachter_innen sind feinsinnige meist liebenswürdige Menschen, die dank diagnostischer Gerätschaften oder umfänglicher Kenntnisse das Verkaufsgut taxieren. Es wird von ihnen entweder erwartet, dass sie neben ihrer Expertise auch Begeisterung liefern, nämlich etwas wunderschön›, ‹außerordentlich selten›, und ‹sehr alt› finden oder ein Stück als ‹neu›, ‹Kopie›, ‹angeschlagen› oder ‹Massenproduktion› enttarnen. Von den Verkäufer_innen wird erwartet, dass sie im ersten Fall beglückt reagieren und im zweiten ‹nicht enttäuscht› sind, da sie ja nur ‹wissen› wollten was es mit ihrem Stück auf sich hat. Diese Disziplinierung der Gefühle wird von der Dramaturgie nahegelegt und von Horst Lichter im wörtlichen Sinn moderiert: Er reizt die Begeisterung an und tröstet die, die verlieren, oder vielmehr sorgt er dafür, dass sie in ihrer Enttäuschung sich nicht als Spielverderber aufführen.

Die Gutachter_innen gelten als neutral, oder sagen wir anders, sie sind Autorität. Sie lassen sich vom Moderator auch nicht zu Witz und Ironie verführen, sondern zelebrieren den Ernst der Autorität. Die Händler_innen dagegen geben die unterschiedlichsten komischen Charaktere von Hanswurst (Waldi) über Buffo (Walter) zum Rumpelstilzchen (Lucky). Sie Entkrampfen den Verkaufsakt zur Operette und verdecken damit die Marktgesetze. Wer bis zum zweiten Akt noch nicht gemerkt hat, dass er/sie nichts geschenkt bekommt, ist selbst dran schuld. Allerdings gibt es Ausreißer. Manchmal verstricken sich die Händler_innen in einen Bietwahn und überzahlen ein Objekt.8 Die Verkäufer_innen können in diesen seltenen Fällen einen Spekulationsgewinn einstecken.

Nun habe ich aber vor lauter Detailanalysen nicht wirklich geklärt, warum das Format für mich so tröstlich ist. Ein Teil davon ist der oben erläuterte Genre-Effekt. Das immer wieder Durchspielen von Destabilisierung und Harmonie, die Sicherheit einer zählbaren Lösung, der Ausschluss unwerter Spielteilnehmner_innen. Aber da ist noch mehr. Z. B. die Schönheit der Dinge: der Schwung einer Jugendstilschale, die Schlichtheit von Biedermeier Holzarbeiten, die handwerkliche Präzision eines alten Messgeräts. Die gut beleuchteten Artefakte fallen geradezu aus dem Fernseher heraus, man möchte sie anfassen, an die Haut legen, ja, durchaus auch besitzen. Sie repräsentieren eine Vergangenheit, die Sorgfalt auf das Einzelne gelegt hat, eine Flucht aus Konformismus und Massenproduktion der Gegenwart. Ja, und zuletzt, das Format inszeniert das Glück als etwas Gefundenes, etwas Vergessenes und Wiedererobertes, als etwas Unerwartetes, als ein Geschenk. Letzteres mag für mich, die zeitweise unglückliche Suchtseherin von Bares für Rares der wichtigste Punkt gewesen sein, dieses Format zu bewohnen: die Versicherung, dass man auch Glück haben kann. Und ganz nebenbei bekomme ich noch ein ganzes Welttheater – Leben und Tod, Gier und Mäßigkeit, Echtheit und Talmi – mitgeliefert. Ja, auch viel Kapitalismuskritik9 und Marx’sche Wert-Preis Probleme, wenn ich denn die Geduld und die Feinfühligkeit hätte, diese wahrzunehmen.

Bevorzugte Zitationsweise

Dietze, Gabriele: Bares für Rares. Eine Lektüre von Gabriele Dietze. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/bares-fuer-rares.

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