Toxic
Sabine Hark und Paula Villa im Gespräch mit Peter Rehberg zur Sexismusdebatte nach «Köln»
Peter Rehberg: Liebe Sabine Hark, liebe Paula-Irene Villa, wie kann man über sexuelle Gewalttaten von arabischen Geflüchteten sprechen, ohne rassistisch zu sein? Oder, etwas näher an dem Vokabular Ihres Buches: Wie lassen sich die Spezifika sexistischer Praktiken und patriarchaler Werte in islamisch geprägten Kontexten thematisieren, ohne rassistisch zu werden?
Paula Irene Villa: Zunächst ganz einfach und trivial: indem man diese Taten nicht pauschal auf ‹den Araber› eng führt, aber zugleich nicht dogmatisch von Religion oder Region absieht. Grundsätzlich ist jeder Mensch, egal woher, welchen Geschlechts und welcher Religion, gleichermaßen ein Produkt der sozialen Position, in der er oder sie lebt, und davon, wie er oder sie daraus Eigenes macht. Diese soziale Position ergibt sich nie nur aus einer Religion oder Region. Soziale Positionierung ist intersektional und komplex: Schicht, Religion, Bildung, Alter, Geschlecht und mehr spielen eine Rolle, und dies jeweils kontextspezifisch. Es gibt Feministen in islamisch geprägten Kontexten wie es gewalttätige Frauenverächter oder schwulenfeindliche Katholiken in Deutschland gibt. Mit dieser Perspektive verbindet sich die Frage: Wie ist die konkrete Situation, wer sind die konkreten Täter, was ist die konkrete Tat? Grundsätzlich gilt, allen Menschen die gleiche Komplexität und Teilautonomie zuzugestehen, die wir für uns beanspruchen. Ein arabischer Migrant, ein katholischer Lehrer aus Franken, eine protestantische Terroristin aus Niedersachen – das sind relevante Zugehörigkeiten. Aber in welcher Weise diese Zugehörigkeiten eine Tat oder eine Haltung ausmachen, ist alles andere als evident. Wir müssen fragen: Warum tust Du das? Würdest Du auch so behandelt werden wollen? Wie erklärst Du Dein Handeln?
Konkret gab es zum Beispiel Anfang 2017 eine riesige Auseinandersetzung um einen queeren Münchner Club, wo sich an einem Abend geflüchtete arabische Männer daneben benommen haben. Es gab blöde Anmachen und Grenzüberschreitungen, keine ausdrückliche körperliche Gewalt. Darüber wurde zuerst auf Facebook und dann bei mehreren analogen Treffen heftig diskutiert. Das war schwierig und konstruktiv – weil alle an der Verständigung interessiert waren und hinreichend (selbst-)reflexiv. Labels wie ‹arabische Kultur›, ‹deutsche Männer› usw. wurden genutzt – und zugleich hinterfragt bzw. konkretisiert. Das ist so schwer nicht.
Sabine Hark: Als soziologisch arbeitende Geschlechterforscherin würde ich zunächst argumentieren, dass es gilt, Soziales ausschließlich mit Sozialem zu erklären. Also beispielsweise Gewalthandeln im Zusammenhang mit gewaltförmigen Verhältnissen zu verstehen und nicht als Ausdruck einer wie auch immer begründeten ‹Natur› des (männlichen) Menschen. Totalisierende Sichtweisen – das ‹ewig Weibliche›, ‹Afrika, der dunkle Kontinent›, ‹Frauen, die nicht einparken und Männer, die nicht zuhören können›, der Muslim, das ‹Kopftuchmädchen›, der ‹Wirtschaftsflüchtling›, aber auch der Feminismus, die Gender Studies, die Identitätspolitik, die Deutschen, der Islam, die Männer, die Frauen – bringen uns überhaupt nicht weiter. Sie verdecken Heterogenität und leugnen die Partialität jeder Sprechposition. Was wir in der Tat dringend brauchen, sind intersektional orientierte Analysen der Verflechtungszusammenhänge von Gewalt, Geschlecht, Religion, Kultur und sozioökonomischer Lage. Analysen, die Zusammenhänge nicht einfach behaupten, sondern sorgfältig rekonstruieren und das eine nicht umstandslos aus dem anderen ableiten. Vor bald zwanzig Jahren schon gab es in der Geschlechterforschung die Diskussion darüber, ob Geschlecht eine zwar allgegenwärtige, aber vielleicht nicht immer relevante Unterscheidung ist. Das muss umgekehrt auch für kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten gelten. Ob und wie die Strukturkonstanten und Reproduktionsmechanismen männlicher Herrschaft, um mit dem Soziologen Pierre Bourdieu zu sprechen, mit je spezifischen kulturellen, religiösen und sozialen Strukturen und Dynamiken verknüpft sind, so dass männliche Herrschaft stabilisiert und die unzweifelhaft in den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln deutlich gewordene misogyne Abwertung von Frauen als gerechtfertigtes Handeln erscheint, muss als empirische Frage ernst genommen und nicht als schon beantwortet abgehakt werden.
‹Intersektionalität› heißt ja nicht nur, die Frage danach zu stellen, wie sich verschiedene Herrschaftsverhältnisse quasi abstrakt addieren. Es heißt auch zu fragen, wie diese sich gegenseitig durchdringen und bedingen – zum Beispiel, wie eine bestimmte Vorstellung männlicher Sexualität überhaupt erst im Zusammenhang mit ‹Rasse› aktiviert wird. Es heißt aber auch, die Widersprüchlichkeit sozialer Verortungen in den Blick zu nehmen, beispielsweise als ‹Araber› diskriminiert, aber als ‹Mann› auch privilegiert zu sein. Wie hilft uns der Begriff der Intersektionalität, die ‹Ereignisse von Köln› zu verstehen?
PIV: Genau in dem von Ihnen angedeuteten Sinne. Wir richten uns auch hier gegen eine 1:1-Gleichung von intersektionaler Positionierung oder intersektionalen Strukturen mit individueller Identität oder Praxis. In diesem Lichte begreifen wir Intersektionalität als neuen Namen für eine schon sehr viel ältere Auseinandersetzung in politischen Artikulationen, in Praxen und in der Forschung. Nämlich für die sinnvolle, also empirisch plausible und begrifflich belastbare Anerkennung davon, dass sich Strukturen wechselseitig konstituieren und auf spezifische Weise markieren. Wer also vom Kapitalismus spricht, kann vom Geschlechterverhältnis, Heteronormativität oder von Kolonialismus/Rassismus nicht schweigen.
SH: Wir haben ja in unserem Buch mit dem Begriff der Artikulation gearbeitet, wie er besonders von Stuart Hall definiert wurde. Hall meint damit eine Art Kopplung unterschiedlicher Elemente, die allerdings nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. Analysen, die artikulationstheoretisch arbeiten, fokussieren statt auf Gruppenkategorien und Identitäten auf Verhältnisse, Relationen und Dynamiken und vor allem auf die kontingente soziale Produktion von Differenz, markiert etwa durch »Rasse«, Nation, geographische Herkunft oder Geschlecht. Statt beispielsweise von einer präkonstituierten Kategorie der Unterdrückung von Frauen auszugehen, fokussiert ein artikulationstheoretischer Zugriff auf den genauen historischen Moment, auf die spezifischen Institutionen, Wissensformen, Praxen und Routinen, durch die die Kategorie Frau etwa als rassisierte, heterosexualisierte Kategorie produziert wird. In Köln wäre das bspw. die blonde, weiße, heterosexuelle, autochthone, deutsche Frau. Gleiches kann für die Kategorie »Rasse« argumentiert werden. »Rassismus«, argumentiert die Rassismustheoretikerin Avtar Brah, »ist weder auf Klasse oder Geschlecht reduzierbar noch ist es völlig unabhängig von Klasse oder Geschlecht. Rassismen haben verschiedene historische Ursprünge, aber sie artikulieren sich in Verbindung mit patriarchalen Klassenstrukturen in spezifischen Weisen und unter gegebenen historischen Bedingungen«.
»Köln« ist in diesem Sinne als artikulatorische Praxis zu verstehen, in der zwei oder mehr relationale Figurationen wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auf der einen Seite und Misogynie und Sexismus auf der anderen in spezifischer Weise verknüpft wurden. »Köln« als eine solche Artikulation zu verstehen, ermöglicht auch, eine weitere Dimension in den Blick zu nehmen: die Konstruktion von Knotenpunkten, wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dies im Anschluss an Lacan verstanden haben. Deren Funktion ist die Konstruktion neuer Differenzen und Subjektivierungs(an)gebote. Knotenpunkte geben uns Wirklichkeit so oder anders zu sehen. Sie definieren gesellschaftliche Grenzlinien, die festlegen, wer mit wem wie in Kontakt kommt oder auch nicht. Sie richten Gesellschaft so oder so ein. Sie organisieren unser Handeln, Meinen, Denken und Fühlen. »Köln«, so glauben wir, ist geeignet, der Name einer solchen neuen operativen Struktur, der Name einer spezifischen Artikulation von Rassismus, Sexismus und Feminismus zu werden, durch die Gesellschaft neu eingerichtet wird.
Ein Problem des intersektionalen Ansatzes ist, dass man «nie über alles sprechen kann», wie Sie auch in Ihrem Buch sagen. Was sind die Kriterien für eine Orientierung hinsichtlich der Frage, wer zu welchem Zeitpunkt über was sprechen sollte? Mit anderen Worten, gibt es eine historische Dringlichkeit, die einige Fragen privilegiert und – trotz intersektionalem Ansatz – andere Fragen zu vernachlässigen erlaubt?
PIV: Wir verweigern uns aus guten Gründen einer Vorab-Schließung dessen, was gesagt oder von wem geäußert werden sollte. Jede und jeder kann und sollte im rechtsstaatlichen Rahmen und gewaltfrei das sagen, was ihr oder ihm richtig oder notwendig scheint. Und damit leben, dass dem widersprochen wird. Oder dass das nicht ernst genommen, ausgelacht oder gar überhört wird. Die historische Dringlichkeit kann wohl niemand verbindlich und klar zugunsten der einen oder der anderen Sache festlegen. Es gibt so viele so dringliche Probleme, auch und gerade derzeit: Sexualisierte Gewalt, zunehmende Prekarisierung von Zukunft und Gegenwart im globalen Süden wie im globalen Norden, die herrschaftsförmige Ausbeutung und damit Zerstörung alles Lebens zum Zweck der Profite;en der Fetisch von Autonomie, der die Angewiesenheit der Menschen und Lebewesen aufeinander tabuisiert; die Infragestellung von Menschenrechten und Anerkennungsgewinnen an vielen Orten, das Erstarken von antipluralistischen Autoritarismen und religiösen Fundamentalismen; die Verdrängung und Externalisierung von Problemen seitens derjenigen, die sich das leisten können. All diese Probleme sind gleichermaßen wichtig, sie werden von Menschen oft gleichzeitig oder entlang eines Problems – Armut, Exklusion, Gewalt, Perspektivlosigkeit – erfahren, und zwar in je spezifischer Weise, je nach sozialer Position. Die Hierarchisierung von Problemen ist womöglich auch Teil des Problems.
SH: Nach der Wahl von Trump zum Präsidenten der USA gab es ja nicht wenige auch auf Seiten der Linken und Linksliberalen, die meinten, dass wir uns nun wieder den wirklich drängenden Fragen der Zeit zuwenden müssten, der sogenannten sozialen Frage nämlich. Erst vor wenigen Tagen bin ich in einem gewerkschaftlichen Kontext gefragt worden, ob wir denn nun nicht endlich wieder den Hauptwiderspruch, also den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, in den Vordergrund rücken und bspw. die feministischen Anliegen als Nebenwiderspruch nachrangig behandeln müssten. Dem kann ich nicht zustimmen. Einmal abgesehen davon, dass die Entgegensetzung von Anerkennungs- und Umverteilungsanliegen, von Identitätskämpfen versus Kämpfen um soziale Gerechtigkeit schon immer eine falsche Entgegensetzung war, gilt es doch eher, gewissermaßen epistemische Bündnisse zu schließen. Denn feministische Analysen allein erschließen uns die Welt ebenso wenig wie dies umgekehrt Analysen tun, die ausschließlich auf Rassismus oder Kapitalismus fokussieren.
Der populäre Diskurs antwortet auf die sozialen und politischen Herausforderungen der Gegenwart oft mit billigen Reflexen. Aber auch der kritische Diskurs tut sich schwer mit Gegenwartsanalysen zwischen poststrukturalistischen Ansätzen, die die Konstruktion und Partikularität von Identitäten weiterhin berücksichtigen, und jenen, die eine Rückkehr zu klassischeren, marxistischen Narrativen fordern. Ist nicht nur der populäre Diskurs, sondern auch der kritische Diskurs von der Gegenwart – und einem Ereignis wie «Köln» – überfordert?
PIV: Ich stimme mit dieser Ordnung der Dinge ganz und gar nicht überein. Es gibt sehr wohl populäre Diskurse – von Pop über Serien bis zur Südkurve –, die überaus klug und lustvoll sowie unaufgeregt differenzierungsversiert und komplex sind. Populär ist ja nicht populistisch oder plump. Es gab übrigens auch zu «Köln» entsprechende populäre Artikulationen, etwa #ausnahmslos, viele kritisch-feministische und/oder migrantische Blogs, das Missy Magazin usw. Poststrukturalistische Ansätze sind alles andere als ‹identitätsfixiert›, wie ihnen bisweilen unterstellt wird. Sie haben sich aber, nehmen wir Foucault oder Butler, kritisch mit dem modernen und eben auch strukturalistischen Erbe befasst, der der ‹Identität› arg viel aufbürdet: Wahrheit, Autonomie, Ontologie des Seins. Wenn dabei auf die Konstruktion von Identitäten und auch deren Partikularitäten geschaut wird, dann ist das meistens – nicht immer – mit Herrschafts-, Normalisierungs- und Exklusionskritik verbunden. Wieso dies nicht mit marxistischen Analysen zusammen gehen kann, leuchtet nicht ein. Außer, man setzt dogmatisch Antagonismen und positioniert sich immer auf der einen Seite: Sein/Schein, Anerkennung/soziale Position, Marx/Butler. Ich glaube, dass sich die große Faszination für Eribon übrigens auch der Verklammerung dieser falschen Entgegensetzungen verdankt.
Nicht nur in journalistischen, populären oder populistischen Diskursen gibt es inzwischen Stimmen, die im «post-faktischen» Zeitalter auf der Notwendigkeit einer Identifizierung des Faktischen insistieren. Sie bestehen in poststrukturalistischer Tradition darauf, dass «Tatsachen [...] nicht außerhalb des Sozialen und außerhalb der Geschichte [existieren]» Hark und Villa 2017, 17). Aber gibt es nicht auch eine strategische Notwendigkeit, sich auf das Faktische zu beziehen, so wie früher einmal die Rede davon war, sich strategisch auf Identitäten zu beziehen, auch wenn wir wissen, dass sie konstruiert sind?
PIV: Das Faktische im naiven Sinne von «an-und-für-sich-so-seiend» hat es doch nie gegeben. Das zeigen Legionen von Studien zur Wissenschaftsgeschichte, das zeigt die Erkenntnistheorie, das zeigt der empirische Fortschritt der Wissenschaft. Wenn nun also nach einem klaren, an sich evidenten Faktischen verlangt wird, ist das eher eine politisch symptomatische Melancholie, die sich auf ein Eindeutigkeitsphantasma bezieht, nicht aber auf die empirische Wirklichkeit. Legt man ein redlicheres, angemesseneres Verständnis von ‹faktisch› zu Grunde, dann ist es tatsächlich wichtig, sich weiterhin an Fakten und Evidenzen zu orientieren. Das tut die empirische Sozialforschung, das tun Bio- und Lebenswissenschaften, das tun evidenzbasierte policies und viele mehr.
SH: Ich bin mir nicht sicher, was damit genau gemeint sein kann, sich strategisch auf das Faktische zu beziehen. Nehmen wir das Beispiel Klimawandel. Wenn wir den Leugnern des Klimawandels entgegen, dass es den Klimawandel faktisch gibt, so müssen wir doch festhalten, dass dies eine auch wissenschaftlich gestützte Faktizität ist. Ob wir beispielsweise ein Erdbeben als «natürliches Phänomen» oder als «Zornesäußerung Gottes» beschreiben, hängt von der Strukturierung des jeweiligen Diskursfeldes ab. Das heißt nicht, die Existenz von Gegenständen oder Ereignissen außerhalb unseres Denkens zu bestreiten, sondern nur, dass sie sich außerhalb der diskursiven Bedingungen nicht als Gegenstand konstituieren können. Der Philosoph Nelson Goodman argumentiert zum Beispiel, dass die Aussage «die Erde bewegt sich» ebenso wahr sei wie die Aussage «die Erde steht still», denn beide Aussagen seien abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen. Was uns auf den ersten Blick als radikal relativistische Position erscheinen mag, die den Unterschied zwischen Meinungen und Tatsachen nicht kennen will, ist seitens Goodman, wie er schreibt, der Versuch, «jene Fundamentalisten zu irritieren, die genau wissen, daß Fakten gefunden und nicht gemacht werden, daß Fakten die eine und einzige reale Welt konstituieren und daß Wissen darin besteht, an die Tatsachen zu glauben.» Wir lesen das vor allem als Plädoyer dafür, zum einen die Bedingungen zu untersuchen, die die eine oder die andere Aussage ermöglichen, also tatsächlich zunächst einmal zu klären, was genau vor uns ist und von wo aus etwas über die Welt gesagt wird. Zum zweiten – und dies trotz oder vielleicht gerade wegen der wachsenden Bedeutung des keinesfalls neuen Postfaktischen – lässt sich von Goodman ausgehend darüber nachdenken, was es bedeutet, dass Tatsachen nicht einfach gegeben sind, also nicht außerhalb des Sozialen und von Geschichte existieren. Das heißt zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass Tatsachen und Sprache, Wahrnehmung und Wahrheit, Fakten und Deutung nicht nur miteinander verschränkt, sondern füreinander konstitutiv sind. Dies ist keine triviale Einsicht, sie enthält auch das Wissen um die Komplexität und bisweilen Undurchschaubarkeit dieses Zusammenhangs. Eine Undurchschaubarkeit, die wesentliches Charakteristikum der Moderne ist. Denn in dieser gibt es keine Ordnung mehr, die vorgegeben und allumfassend ist und noch den Betrachter einschließt, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels in Ordnung im Zwielicht (1987) sagt.
Im Vorwort zu Ihrem Buch schreiben Sie: «Letztlich ist ungewiss, was in dieser [Kölner] Nacht genau geschah.» Einerseits ist es Ihr Anliegen, keiner vorschnellen Evidenzlogik zu verfallen – als wüssten wir schon vorher, was passiert ist, weil die kulturellen Bilder dafür schon längst aktiv sind: der ‹arabische› oder ‹schwarze› Mann, der nicht anders kann als die ‹deutsche Frau› anzugreifen. Auf der anderen Seite ist aber auch das Benennen der Ereignisse wichtig. Um eine ungewollte Allianz mit rassistischen Positionen zu vermeiden, sobald man zum Beispiel sexistische Gewalttaten von Arabern thematisiert, haben einige Feministinnen wie die engliche Politikwissenschaftlerin Nicola Pratt vorgeschlagen, ein «strategisches Schweigen über Frauenrechte im Allgemeinen» zu praktizieren (zit. in Hark und Villa 2017, 94). Wie ist diesem Dilemma zu entkommen?
PIV: So: Auf der Kölner Domplatte wurden in der Silvesternacht 2015/16 massenhaft Frauen belästigt, sie wurden vielfach Opfer sexualisierter Übergriffe und zum Teil gewalttätiger Attacken. Die Täter waren zunächst nicht eindeutig zu identifizieren, die Ermittlungen dauern an. Von hier aus ließe sich Sexismus und sexualisierte Gewalt in der Gegenwart thematisieren, die Frauen könnten selber mehr zu Wort kommen. Und, wenn sich belastbar herausstellt, dass die Täter in wesentlicher Anzahl und Weise Araber waren – was genau das meint, müsste Teil der Darstellung sein! – dann kann man auch dies zum Thema machen: Woher kamen sie? Wie leben sie? Was sagen sie zu ihren Taten? – Was ist daran eigentlich so schwer?
SH: Ich glaube gar nicht, dass wir diesem Dilemma entkommen können. Letztlich haben wir nur Paradoxien im Angebot, wie die Historikerin Joan Scott einmal formuliert hat. Wir müssen die Dilemmata also ausstellen, sie untersuchen und nicht versuchen, sie zu übergehen. Das heißt zunächst einmal anzuerkennen, dass es gesellschaftlich sowohl ein Rassismus- wie ein Sexismusproblem gibt. Klar sollte auch sein, dass es nicht darum gehen kann, Sexismus, Heterosexismus sowie Homo- und Transfeindlichkeit zu leugnen, um nicht in die Falle rassistischer Vorurteile zu tappen. Patriarchale, sexistische, misogyne, homo- und transfeindliche Werte und Praxen müssen sowohl in der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch in den migrantischen Minderheiten skandalisiert werden – eine Trennung im Übrigen, die empirisch ohnehin nur begrenzt belastbar ist. Die Anprangerung von Sexismus darf allerdings niemals eine Legitimation für fremdenfeindliche, gar rassistische Haltungen darstellen. Das ist, zugegeben, keine leichte Aufgabe.
Sie unterscheiden zwischen zwei grundlegend verschiedenen Umgangsweisen mit Unterschieden: Einer reflexiven Perspektive, die Differenzen immer wieder neu artikuliert und dabei auch verschiebt, und einer, die Unterschiede ontologisiert. Sind diese beiden Praxen tatsächlich deutlich voneinander zu unterscheiden? Oder gehen wir nicht immer das Risiko der Ontologisierung ein, wenn wir im öffentlichen Raum von Rasse, Geschlecht und Sexualität sprechen? Können wir der stetig neubelebten Konstruktion imaginärer Anderer überhaupt entkommen?
SH: Selbstverständlich ist das zunächst eine analytische Unterscheidung. In praxi unterlaufen uns Ontologisierungen nicht nur ständig, sondern wir praktizieren sie auch aktiv. Das ist unvermeidlich, in der Tat. Denn wir brauchen Unterscheidungen, um handeln zu können. Das ist an und für sich, wie wir versucht haben zu zeigen, auch nicht verwerflich, im Gegenteil. Aber wir können lernen, anders damit umzugehen. Wir können lernen, diese Setzungen als kontingente Setzung zu begreifen und nicht als uns radikal voneinander unterscheidende Wesentlichkeit. Gayatri Spivak spricht davon, dass wir unsere Gewissheiten verlernen müssen. Ich würde das, vielleicht etwas abstrakt, als Kontingenz-Kompetenz beschreiben. Also ein Handeln im Wissen darum, dass es auch anders sein könnte. Das ist ja ohnehin eine Erfahrung, die wir letztlich alle jeden Tag machen. Jedes Mal, wenn wir eine andere Person kennen lernen, machen wir diese Erfahrung, dass alles auch ganz anders sein kann. Wie Stuart Hall gesagt hat: Wenn wir glauben, dass wir eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod brauchen, dann doch bloß, weil wir es irgendwie tröstlich finden, eine solche Erzählung über uns selbst zu haben. Doch in den Gesellschaften, in denen wir mittlerweile seit mehr als zwei Jahrhunderten leben, gilt das doch für niemanden mehr. Wir alle sind von irgendwo und niemand ist von hier. Darin sollten wir Trost suchen und finden.
Sie haben sich beide schon bei mehreren Anlässen zu den Positionen und Texten von Alice Schwarzer in den Diskussionen um ‹Köln› oder die sogenannte ‹Flüchtlingskrise› geäußert. In Ihrem neuen Buch sprechen sie jetzt In ihrer Analyse einiger Texte von Alice Schwarzer von einem ‹toxischen Feminismus›. Wie kann man dem am besten entgegentreten?
SH: Wir sprechen ja im Falle der Äußerungen von Alice Schwarzer sehr bewusst von einem vergifteten Feminismus und nicht davon, wie andere das tun, dass die mangelnde Abgrenzung gegenüber islamophoben oder rassistischen Positionen dann eben kein Feminismus ist. Die Therapie der Wahl bei Vergiftungen ist Entgiftung. Damit meinen wir in diesem Fall, dass sich Feminismus sehr gezielt und genau mit seinen kolonialen Verstrickungen auseinander setzen muss – was im Übrigen seit den 1980er Jahren auch geschieht. Darüber hinaus kann eine feministische Antwort auf die Ethnisierung, Rassisierung beziehungsweise Orientalisierung von Sexismus und sexualisierter Gewalt weder, wie es bisweilen nach ‹Köln› geschah, eine letztlich immer relativierende ‹Germanisierung› sein, wie die Juristin Ulrike Lembke es kürzlich formuliert hat, noch eine unscharfe Internationalisierung des Problems. Und das heißt nichts anderes, als zunächst entschieden das Ansinnen zurückzuweisen, die Gewalt von Köln im Erklärungsmuster ‹islamische Sozialisation› aufgehen zu lassen oder in dem pauschalen Verweis auf ein gewalttätiges islamisches beziehungsweise arabisches Patriarchat, das zwangsweise toxische Männlichkeiten produziert. Es heißt aber auch, weder den Hinweis, dass sexuelle Übergriffe auch zu ‹urdeutschen› Veranstaltungen wie dem Münchner Oktoberfest oder dem rheinischen Karneval gehören, als Erklärung gelten zu lassen, noch den Verweis auf eine transnationale Rape Culture und die Behauptung, dass sexualisierte Gewalt in allen Gesellschaften und Kulturen auftritt, als alleinige Erklärung heranzuziehen. So richtig gerade Letzteres im Prinzip ist, so falsch wird es, wenn wir dabei stehen bleiben. Denn erst durch die Berücksichtigung der konkreten sozialen und ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse und beispielsweise stadträumlicher Gegebenheiten und lokaler politischer Kämpfe wird ein Schuh draus.
Auch in Ihrem Buch kommen die betroffenen Frauen von «Köln» selber nicht zu Wort, wie Sie in dem ihm beigefügten Interview selbstkritisch anmerken. Warum fanden Sie es wichtig oder nötig, das Buch so zu schreiben, wie es ist?
PIV: Weil wir nach Köln, aber nicht nur im unmittelbaren Zusammenhang damit, eine qualitative Veränderung des Diskursiven beobachtet haben. Andere, neue Formen der Rede und des Redens, die uns selbst zunächst sprachlos gemacht haben. Eine Fundamentalisierung und eine Dominanz des Agonalen – wir/die, unser/deren, Mann/Frau, gut/böse – die wir einfach (naiv, sicher) für tatsächlich überwunden hielten. Und wir haben auch beobachtet, wie zum Teil unfassbar krude Sätze sagbar wurden, über ‹den deutschen Mann› als gewaltfreien und edlen zum Beispiel. Zugleich gab es auch positionale Fundamentalismen auf der ‹linken› Seite, also auch sehr krude Formen der Abbildung von Positionen auf Personen, auch eine Rückkehr biologistischer oder eben vor allem kulturalistischer Fundamentalismen. Das war der Anlass für uns, das Buch zu schreiben. Als ein nachvollziehbares Nachdenken. Dieses Nachdenken ist Teil unserer langjährigen kollegialen und privaten Verbundenheit – gerade auch in unseren Differenzen hinsichtlich vieler Aspekte. Natürlich war uns dann klar, dass wir einige zentrale Probleme und Hinsichten von «Köln» nicht aufgreifen und nicht angemessen thematisieren. So tragen auch wir in gewisser Weise dazu bei, das Problem – sexualisierte Gewalt gegen Frauen – erneut nicht durch die Opfer hindurch sichtbar zu machen. Das haben wir adressiert. Wir hoffen aber, mit dem Buch auch einen Beitrag zu leisten dazu, dass sich die Bedingungen der Sicht- und Hörbarkeit von sexualisierter Gewalt verbessern und dies nicht zu Lasten ganzer Menschengruppen gehen muss.
Die autobiografische Erzählung Rückkehr nach Reims des französischen Soziologen Didier Eribon war ein großer Bucherfolg in Deutschland im letzten Jahr. Sein Text wurde als analytischer Schlüssel zum Erfolg der Rechtpopulisten in Europa und den USA gelesen. Auch Sie arbeiten beide als Soziologinnen – ihre Disziplin beherbergt in Deutschland in entscheidendem Maße das Feld der Gender Studies, als dessen wichtigste deutschsprachige Vertreterinnen Sie beide gelten. Ist die Soziologie die Disziplin der Stunde, hat sie zur Zeit bessere oder schnellere Antworten auf die Krisen unserer Zeit anzubieten als zum Beispiel die Politikwissenschaften, die Kulturwissenschaften oder die Medienwissenschaften?
SH: Ich weiß nicht, ob die Soziologie bessere Antworten auf die Krisen unserer Zeit anzubieten hat, schnellere vielleicht. Aber in der Tat, was den Aufstieg und Erfolg der neoautoritären Bewegungen und Parteien angeht, so hat die Soziologie hier aktuell eine Reihe von erhellenden Beiträgen geliefert, bspw. die großartige Studie von Arlie Russel Hochschild, Fremd in ihrem Land. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir die Aushöhlung und rechte Usurpation der liberalen Demokratien ohne politikwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, sozialpsychologische und historische Analysen nicht verstehen werden. Einmal abgesehen davon, dass ich mir wünschen würde, dass die Bedeutung von Geschlecht und Sexualität als zentralen Arenen dieser Landnahme auch außerhalb der Gender Studies erkannt wird.
Sabine Hark, Paula-Irene Villa, Unterscheiden und herrschen: Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart, Bielefeld (Transcript) 2017
Eine andere Fassung dieses Interviews ist auch auf Freitag.de, Ausgabe 46/2017 zu lesen.
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