Offene Online-Medien in der Lehre
Andreas Möllenkamp zur hochschuldidaktischen Nutzung von Wikis, Blogs und Etherpads in den Kultur- und Medienwissenschaften
Die Nutzung von Online-Medien in der Lehre stellt in den Kultur- und Medienwissenschaften eine Gretchen-Frage dar, die polarisierte Diskussionen provozieren kann. Auf der einen Seite war und ist eine aktive und reflexive Medienpraxis ein konstitutives Element und wesentlicher Bestandteil in der medienwissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auf der anderen Seite argumentieren Kritiker_innen aus pädagogischen, ökonomischen und datenschutzrechtlichen Gründen gegen die Nutzung von digitalen Medien im Unterricht und der Lehre. Während die einen eine Medienkompetenzförderung auf der Höhe der Zeit und damit eine intensive Auseinandersetzung und Nutzung von digitalen Medien in Schulen und Hochschulen fordern, befürchten die anderen negative Auswirkungen auf Schüler_innen oder Studierende.
Die Frage nach der Digitalisierung der Lehre ist insofern ein ebenso interessantes wie umkämpftes Feld mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteur_innen und Interessen. Während sich bildungspolitische Akteur_innen darum bemühen, die «Computer and Information Literacy» von Schüler_innen und Studierenden in Hinblick auf international vergleichende Studien sowie den Arbeitsmarkt zu verbessern und Lerntechnologie-Unternehmen neue Möglichkeiten für orts- und zeitunabhängiges, personalisiertes Lernen bewerben, warnen Kritiker_innen vor den möglichen negativen Folgen einer unbekümmerten Freigabe persönlicher Daten, der Standardisierung und Automatisierung der Lehre sowie der Abhängigkeit und inhaltlichen Einflussnahme von bestimmten kommerziellen Anbietern.
Dieser Beitrag versucht entgegen einer solchen Binäropposition eine differenziertere Betrachtung der Nutzung kollaborativer Online-Medien in der Lehre und geht exemplarisch auf Chancen und Herausforderungen bei der Nutzung von Wikis (insbesondere Wikipedia), Blogs und Etherpads ein. Er argumentiert für eine gezielte, reflektierte Nutzung und das bewusste Experimentieren mit kollaborativen Online-Medien in der Lehre. Die Frage nach der Öffentlichkeit und Offenheit der genutzten Tools spielt dabei eine wesentliche Rolle.1
Lehrveranstaltungen haben mit der Verbreitung hochschulweiter Learning-Management-Systemen wie Moodle, Ilias, OLAT u. a. eine Anreicherung durch digitale Medien erfahren. Diese reicht von der Bereitstellung digitaler Texte über Blended-Learning-Szenarien bis hin zu Flipped Classroom-Veranstaltungen, bei denen nur ein Teil des Seminars in Präsenzsitzungen stattfindet. Tim Riplinger und Mandy Schiefner-Rohs fragen danach, wie hochschul- und mediendidaktische Gestaltungspraktiken der Lehrenden studentisches (Medien-)Handeln prägen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass primäre Ziele des Medieneinsatzes die Individualisierung von Lernwegen, eine verstärkte Aktivierung von Studierenden sowie die Anregung zu eigenverantwortlicher Auseinandersetzung mit Lerninhalten sind, wobei disziplinär unterschiedlich geprägte Zugänge festzustellen sind. Wikis, Blogs und Etherpads sind nur drei von weiteren digitalen Tools, die dabei zum Einsatz kommen können. Sie sollen im Folgenden vor dem Hintergrund ihrer hochschuldidaktischen Nutzung kurz vorgestellt werden. Ob und wie diese oder andere digitale Tools in der Lehre eingesetzt werden, sollte von dem Hintergrund des dynamischen Wandels der Medienkultur gemeinsam mit den Studierenden entschieden werden.
Wikis, Blogs und Etherpads
Wikis können in der Lehre für sehr unterschiedliche Zwecke benutzt werden. Dazu gehören die Seminarorganisation, das Zusammentragen von Informationen, die Beobachtung kollaborativer Prozesse der Wissensproduktion (z.B. in der Wikipedia) wie auch das Schreiben eigener Texte. Oft werden mehrere didaktische Ziele bei der Wikipedia-Nutzung in der Lehre miteinander verbunden: Die Entwicklung von Medienkompetenz, das Hinterfragen von Wissenskonstruktionen wie auch das Schreiben enzyklopädischer oder anderer Texte. Thomas Wozniak hat herausgearbeitet, wie umfangreich die Wikipedia im deutschsprachigen Raum in der Lehre und Forschung genutzt und thematisiert wird.2 Einen zentralen Wert von Wikis in der Lehre sieht Ziko van Dijk dabei darin, dass Lernende die Perspektive wechseln können von Konsument_innen zu Mitgestalter_innen von öffentlichem Wissen. Je nachdem, von wem das Wiki betrieben wird und ob eine bestimmte Lizenzierung der eingestellten Inhalte vorgegeben ist, sollte diese im Seminar entsprechend thematisiert werden.
Blogs werden ebenso für unterschiedliche Zwecke in der Lehre benutzt. Sie können für Portfolios oder Lerntagebücher der Studierenden genutzt werden, den Seminarfortschritt in Form von Protokollen dokumentieren oder Ergebnisse des Seminars öffentlich präsentieren. Wie bei Wikis müssen dabei didaktisch-methodische, technische und rechtliche Aspekte beachtet werden.3 Bei persönlichen Lerntagebüchern und Portfolios sollten die Studierenden selbst darüber entscheiden, ob sie ihren Blog öffentlich oder nur für die oder den Lehrenden zugänglich machen.
Etherpads erlauben es, in Echtzeit in einem Browser gemeinsam an einem Text zu arbeiten. Die Beiträge der einzelnen Teilnehmenden können dabei farblich unterlegt und entsprechend zugeordnet werden. Darüber hinaus können Texte importiert und exportiert sowie die Pads geteilt und in andere Webseiten eingebettet werden. Dies kann etwa zum kollaborativen Protokollieren und Dokumentieren einer Sitzung, zur Seminarplanung oder zum gemeinsamen Schreiben unterschiedlicher Texte genutzt werden.
Im Unterschied zu Hausarbeiten oder anderen Seminararbeiten, die nur von den Lehrenden gelesen und bewertet werden, bietet das Schreiben auf öffentlichen und offenen Wikis, Blogs oder Pads die Möglichkeit, gemeinsam im Seminar wie auch orts- und zeitunabhängig an einem Text zu arbeiten, der dann von anderen gelesen, verbessert oder kommentiert und weiter verwendet werden kann. Lernende müssen sich in (teil)öffentlichen Lehrveranstaltungen mit möglichen Folgen und Reaktionen auseinandersetzen, damit sie angemessen damit umgehen oder diesen vorbeugen können.
Was Florian Leander Mayer für Unternehmenswikis herausgefunden hat, gilt dabei allerdings auch für Bildungsinstitutionen: Wikis und andere Online-Medien fördern Kollaboration in Organisationen nicht von allein, sondern bilden eher die bereits vorhandenen Routinen und Strukturen ab.4 Gruppenarbeit und ihre Ergebnisse hängen nicht nur vom benutzten Medium, sondern vielen Faktoren ab (Ziele der Gruppenarbeit, Größe und Zusammensetzung der Gruppe, Aufgabenstellung, Motivation der Mitglieder_innen) und sind mit spezifischen Herausforderungen verbunden (z.B. dem Trittbrettfahrerproblem). Inwiefern Online-Lerntechnologien Interaktion und Kollaboration unterstützen, hängt von der konkreten Einbindung im Seminar-Kontext ab. Kollaboration in einer Lehrveranstaltung sollte daher entsprechend vorbereitet und unterstützt werden. Dazu kann unter anderem gehören, die Scheu abzubauen, Unfertiges zu veröffentlichen oder Texte anderer Teilnehmer_innen zu bearbeiten. Ggf. können und sollten dabei zum Schutz personenbezogener Daten Pseudonyme verwendet werden.
Kollaboratives Schreiben einer offenen Rezension
Im Rahmen eines Seminars zu Wissenschaftskommunikation haben die Seminarteilnehmenden und ich als Dozent gemeinsam eine offene Rezension in einem öffentlichen Wiki (Wikiversity) und einem Etherpad geschrieben. Eine kollaborativ geschriebene Rezension kann, so die Idee, ein differenzierteres Bild über die rezensierte Arbeit vermitteln, da sie nicht nur die Beurteilung einzelner Rezensent_innen beinhaltet, sondern mehrere Perspektiven zusammenbringt. Darüber hinaus können sich bei einer arbeitsteiligen Rezension alle Beteiligten auf einen bestimmten relevanten Teil der Arbeit konzentrieren. Daran schließen sich allerdings die Fragen an, ob und inwiefern das gemeinsame Schreiben koordiniert werden sollte und welche Formen der Koordination gut geeignet sind und welche nicht. Wie soll man etwa mit unterschiedlichen Schreibstilen und Bewertungen umgehen?
Meine Erfahrung war, dass das Schreiben im Wiki geübt und koordiniert werden sollte, da es in der Regel nicht zur gewohnten Medienpraxis von Studierenden gehört. Im Sinne einer Redaktionssitzung haben wir nach einer einführenden praktischen Übung die Arbeitsteilung sowie das gegenseitige Feedback im Seminar besprochen. Das gemeinsame Schreiben in Etherpads haben wir dabei als wesentlich produktiver empfunden als das Zusammentragen der einzelnen Beiträge und das weitere Bearbeiten der Rezension im Wiki.
Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive ist die Frage nach den Effekten der Nutzung von Online-Medien in der Lehre auf die vielfältigen beteiligten Praktiken und Kompetenzen wie das Lesen, Denken, Diskutieren, Schreiben, Zusammenarbeiten und Lernen von besonderem Interesse.5 Diese Frage ist sicher nicht abschließend zu beantworten. Die Auseinandersetzung mit ihr macht allerdings deutlich, dass sie nicht nur einer (kritischen) Reflektion, sondern auch einer aktiven Auseinandersetzung durch die Medienwissenschaft bedarf, um die Bedingungen zukünftigen Lehrens und Lernens sinnvoll mitgestalten und im besten Fall nachhaltig verbessern zu können.
- 1Vgl. dazu Hofhues, Sandra (2010): Die Rolle von Öffentlichkeit im Lehr-Lernprozess. In: Mandel, Schewa / Rutishauser, Manuel / Seiler Schiedt, Eva (Hg.): Digitale Medien für Lehre und Forschung. Medien in der Wissenschaft Band 55. Münster: Waxmann, S. 405–414. http://www.waxmann.com/fileadmin/media/zusatztexte/2385Volltext.pdf.
- 2Wozniak, Thomas (2015): Wikipedia in Forschung und Lehre – eine Übersicht. In: Nemitz, Jürgen / Rohwedder, Uwe / Wozniak, Thomas (Hg.): Wikipedia und Geschichtswissenschaft. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, S. 33–52. https://doi.org/10.1515/9783110376357-005.
- 3Akbari, Mostafa / Schmidt, Tim / Spannagel, Christian (2008): Ein Planungsraster zum Einsatz von Weblogs in der Lehre. In: U. Lucke, M. C. Kindsmüller, S. Fischer, M. Herczeg & S. Seehusen (Hg.): Workshop Proceedings der Tagungen Mensch & Computer 2008, DeLFI 2008 und Cognitive Design 2008. Berlin: Logos, S. 305-310. https://dl.gi.de/bitstream/handle/20.500.12116/7080/Akbari_Schmidt_Spannagel_2008.pdf.
- 4Mayer, Florian Leander (2013): Erfolgsfaktoren von Social Media Wie «funktionieren» Wikis? Eine vergleichende Analyse kollaborativer Kommunikationssysteme im Internet, in Organisationen und in Gruppen. Berlin: LIT.
- 5Vgl. den Beitrag von Kai Matuszkiewicz zur digitalen Textrezeption und –produktion in diesem Blog.
Bevorzugte Zitationsweise
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