Elefant der Künstlerin Katharina Fritsch von 1987 im Zentralen Pavillon der Biennale in Venedig 2022. ©Jiré Emine Gözen
Arbeiten am, mit und gegen den Kanon.
Aufschlag zur Reihe kritischer Perspektiven auf Kanon, Kanon(um)bildung, Kanonauflösung und das (Ver)Lernen von Wissen. Erster Teil.
In Folge immer wieder aufflammender Debatten um Kanon und Listen 1 mit bisweilen öffentlichkeitswirksam inszenierten Entwürfen von Gegenkanones wird gegenwärtig innerhalb der deutschsprachigen Medienwissenschaft von verschiedenen Seiten ein zunehmend kritischer Blick auf die Genealogie und die Zusammensetzung des eigenen Kanons gerichtet – so zuletzt etwa im Beitrag „Welcher Kanon, wessen Kanon?“ des Arbeitskreis Kanonkritik, der aus dem Forum Antirassismus Medienwissenschaft (FAM) hervorgegangen ist. Einen wichtigen Bezugspunkt für diese kritischen Perspektiven sind Feststellungen wie jene, dass Kanones und Lektürelisten Narrative und Identitäten aus- und abbilden, die nur einige wenige repräsentieren. Dabei werden explizit und implizit Strukturen des Aus- und Einschlusses geschaffen und perpetuiert, die in kolonialen Wissensgefügen verankert sind und die europäische Wissens- und Denktradition und Bildung bis heute konstituieren 2. Eine an der Zersetzung und Auflösung dieser Strukturen interessierte Auseinandersetzung kommt folglich an einer Arbeit an aber auch mit dem Kanon nicht vorbei.
Dieser Auseinandersetzung wollen wir in GAAAP_ The Blog einen Ort und einen Rahmen geben. In den folgenden Monaten – und wahrscheinlich auch Jahren, denn kritische Arbeit am Kanon ist nicht irgendwann, etwa durch die Etablierung anderer und diverserer Lektürelisten, einfach abgeschlossen, sondern ein langwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang – laden wir Autor*innen ein, aus queerfeministischer, postkolonialer und antirassistischer Perspektive ihre kanonkritischen Überlegungen zu teilen.
Der Ausgangspunkt für den ersten Teil des ersten Textes 3 dieser (Diskussions-)Reihe ist eine Bildergalerie auf die ich bei der Vorbereitung eines Seminars zu Visueller Kultur während der Corona-Pandemie gestoßen bin. Es handelt sich um die Galerie der Referent*innen, die im Rahmen der interdisziplinären Vorlesungsreihe FELIX BURDA MEMORIAL LECTURES zu dem Themenfeld des „Iconic Turn - Das neue Bild der Welt“ vorgetragen haben.
Nun handelt es sich bei der Hubert Burda Stiftung zwar nicht um eine dezidiert (medien-)wissenschaftliche Institution, sondern um eine Stiftung, die sich als „Dach für die Kommunikation wichtiger Zukunftsthemen“ 4 versteht, wobei sich dieses Dach auf die Säulen Literatur, Wissenschaft, Bildung, Medizin, Debattenkultur und Kunst stützt und hierbei Kunst und Medien zusammendenkt. Aber auch diese Stiftung greift bei ihren Entscheidungen auf wissenschaftliche Expertise zurück, in denen Effekte lang eingeübter und etablierter wissenschaftlicher Praktiken und Verfahrensweisen im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar werden.
Während also unter der unbebilderten Liste der Redner*innen 84 Personen aufgeführt werden, finden sich in der bebilderten Galerie 30 Redner*innen. Zu diesen gehören u.a. Jean Baudrillard, W.J.T. Mitchell, Friedrich Kittler, Jan Assmann, Bazon Brock, Hans Belting, Peter Weibl und Horst Bredekamp. Es wird also sofort sichtbar, dass es sich bei den Positionen dieser Theoretiker*innen um jenen breit rezipierten Kanon des Denkens um und über das Verhältnis von Medien, Bildern, Kultur und Gesellschaft handelt, der zum Teil seit Jahrzehnten auf den Lektürelisten der Medien- und Bildwissenschaft steht und entsprechend das Verständnis dieses Verhältnisses und den dazugehörigen Diskurs geprägt hat. So erklärt sich auch die Einladung ebendieser Personen durch die Hubert Burda Stiftung – sie ist orientiert an dem, was bzw. wer innerhalb kunst-, medien- und bildwissenschaftlicher Diskurse in Bezug auf den Iconic Turn als kanonisch gilt.
Was diese Bildergalerie nun unmittelbar sichtbar werden lässt, ist ebenso bemerkenswert wie symptomatisch: Von dreißig abgebildeten Personen handelt es sich bei 29 Personen um männlich gelesene Menschen und ebenfalls 29 dieser Personen sind im globalen Norden zu verorten und können als „weiß“ gelesen werden. 5 Problematisch stellen sich bei diesen Personen und Positionen zunächst nicht die jeweils Einzelnen dar, sondern die Unvollständigkeit, die sich durch das Kollektiv ergibt und in welchem sich ein Maximum kultureller Hegemonie abbildet. Dass diese Form der „Wahrnehmungslücke“ ausgerechnet bei der Sichtbarmachung der Repräsentanten von jenem Themenfeld zum Tragen kommt, welches sich per Definitionem mit Bildern als Träger von Wissen und Informationen, mit Bildpolitiken und der Schaffung von Wirklichkeiten durch Bilder beschäftigt, ist bemerkenswert. Es erzählt entweder etwas darüber, wie viel bzw. wenig sich im deutschsprachigen Raum in den miteinander verschränkten Disziplinen der Medien- und Bildwissenschaft tatsächlich über die eigene Zusammensetzung und die dabei stattfindenden Normierungen auseinandergesetzt wurde bzw. wie wenig davon bisher „nach draußen“ gedrungen ist. Ein Effekt davon ist, dass die in der Bildergalerie sichtbar werdende Hegemonie sich als Norm etabliert und dabei mit der Vorstellung von objektivem und universalem Wissen einhergeht.
Es erscheint fast müßig an dieser Stelle auf Donna Haraways Konzept des situierten Wissens hinzuweisen (und auch ein wenig reduktionistisch, denn es ist ja seit dem auch um einiges weitergedacht worden). Dennoch sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass Haraway der Vorstellung eines neutralen Universalwissens das in dem Konzept der feministischen Objektivität verankerte situierte Wissen entgegensetzt, welches Körper, Sprache, Erfahrung und Kontext miteinbezieht, denn: „Wissen vom Standpunkt des Unmarkierten ist wahrhaft phantastisch, verzerrt, und deshalb irrational.“ 6
Situiertes Wissen versteht Wissen immer als begrenzt und sowohl historisch als auch kulturell spezifisch. Da dies bedeutet, dass es nicht nur eine Wissensform geben kann, die über allen anderen Wissensformen steht, sondern nur partiale Weisen vielfältiger Wissensformen, gilt es, verschiedene Perspektiven und Wissensformen miteinander in Beziehung zu setzen.
Ein Weg, die oben aufgezeigte „Wahrnehmungslücke“ sichtbar zu machen und damit auch zu fokussieren, liegt m.E. in der Anerkennung der Vielfältigkeit von Wissensformen. Die der Inter- und Transdisziplinarität der Medienwissenschaft und insbesondere ihre direkte Verflechtung mit den bildenden und angewandten Künsten, d.h. insbesondere auch der Kontext von Kunsthochschulen, an denen die Medienwissenschaft sich als integraler Bestandteil der Theorieausbildung etabliert hat, eröffnet hier einige Möglichkeiten. Dies gilt im weiteren auch für die dort angelegten Praktiken des Kuratierens, des künstlerischen Forschens und der aktivistischen Praktiken, die sich in der Verschränkung von Theorie und Praxis bisweilen entwickeln.
Ein Ansatz findet sich etwa bei Hito Steyerl, die sich in ihrem Aufsatz „Ästhetik des Widerstands“ mit den Fragen von Disziplin, Disziplinierung und Kanon in Bezug auf die künstlerische Forschung beschäftigt und dabei zunächst festhält: „Eine Disziplin kann Unterdrückung bedeuten, aber gerade darum verweist sie auch auf das, was sie kontrolliert. Sie ist ein Index unterdrückter, vermiedener oder potenzieller Konflikte. Eine Disziplin zeigt folglich einen ruhig gestellten Konflikt an“ 7. Was Steyerl in ihrem Text am Beispiel der künstlerischen Forschung auffächert, ist, wie ein anderer Kanon aussehen und wie sich dadurch der Fokus von universalen Wissenserzählungen hin zu einem pluralistischen Denken verlagern könnte. Nicht umsonst bezieht sich der Titel ihres Aufsatzes direkt auf Peter Weiß‘ gleichnamiges epochales Werk, in welchem der Autor der hegemonialen und kanonischen Erzählung von Historie und Kunstgeschichte die Erfahrungen und politischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Faschismus entgegensetzt. Dabei zeigt sie, wie sich Grundlagen, Perspektiven und auch ein Verständnis von normierten Vorstellungen innerhalb einer westlich geprägten Wissenschaft verändern und verschieben, wenn jene minoritären Positionen zentral werden, die bisher vernachlässigt wurden. In der Erfahrung der Lektüre des Textes wird auffällig, welche Verwirrung und welches Unverständnis aufkommen, wenn in einem diskursiv ausgerichteten Text nicht das im Kanon verankerte implizite Wissen adressiert wird. Besonders deutlich wird dabei auch, wie viel Arbeit es bedarf, wenn die etablierten Wege des Verständnisses von Bezugspunkten, Geschichte, Identität und Methoden verlassen werden. Vor dem Hintergrund, dass sich dabei zeigt, dass bisher ein „Nexus von Macht/Wissen/Kunst, [...] ganze Bevölkerungen auf Objekte von Wissen, Herrschaft“ 8 reduziert, welche in kanonischen Darstellungen bisher keinen Platz gefunden haben, muss danach gefragt werden, wie und welche epistemologische und ästhetische Innovation es zu schaffen gilt. Von Steyerls Sichtweise ausgehend zeigt sich, dass es nicht ausreichend ist, dem Kanon – und zwar sowohl dem literarischen, künstlerischen als auch dem (medien-)wissenschaftlichen – lediglich neue Perspektiven hinzuzufügen und diesen somit inhaltlich zu erweitern. Vielmehr sollte es darum gehen, andere Methoden, anderes Wissen und ein anderes Denken zuzulassen und damit auch auf eine Praxis hinzuwirken. Durch diese gilt es zu reflektieren, welche Narrative bisherige kanonische Texte bedient und etabliert haben, um sich dann kritisch mit diesen Narrativen auseinandersetzen zu können. Dabei sind die „neuen“ Perspektiven auch als Intervention zu verstehen, welche die kanonischen Narrative in einen neuen, anderen Kontext stellen, durch den die Hegemonie der darin etablierten Narrative dekonstruiert wird. Es reicht also nicht aus, Lektürelisten um nicht-kanonische Perspektiven zu erweitern. Für eine Dezentrierung von hegemonialen Perspektiven bedarf es auch der Entwicklung von Methoden, welche diese Perspektiven und den Kontext, aus dem heraus sie entstanden sind, kritisch befragen. Dies bedeutet auch ein öffnen hin zu anderen Formen der Wissensproduktion, insbesondere dann, wenn es um Perspektiven der Geschichtsschreibung und der in diese eingebetteten Narrative geht. Ein Beispiel für eine derartige Intervention sind beispielsweise die Arbeiten der im Odanak-Reservat östlich von Montreal aufgewachsenen Filmemacherin, Künstlerin und Aktivistin Alanais Obomsawin. Durch die Verknüpfung eines Potpourri von Interviews, Zeichnungen, Musik und Gesang zeichnet diese ein akribisches Bild von historischen Details und zeigt dabei marginalisierte Wissensformationen und -formen auf, in denen auch explizite Fragen nach kolonialen Kontinuitäten aufgemacht werden.
(Ende des ersten Teils des Textes, der zweite Teil folgt in den kommenden Wochen auf GAAAP_ The Blog)
- 1Eine sehr interessante Auseinandersetzung mit Beiträgen von Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Sina Farzin, Leon Gabriel, Anja Schürmann und Linda Waack findet sich etwa auf dem Blog des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen unter https://blog.kulturwissenschaften.de/category/kanon/
- 2Siehe hierfür etwa Gayatri Chakravorty Spivak, Outside in the Teaching Machine, New York 1993, 305 oder auch Chimamanda Adichies Vortrag „The Danger of a single story“ unter https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_single_story (06.02.2023)
- 3Der zweite Teil wird in den nächsten Wochen ebenfalls auf GAAAP_ The Blog erscheinen
- 4Siehe hierfür die Webseite der Hubert Burda Stiftung unter https://www.hubert-burda-stiftung.de/
- 5Mit „weiß“ wird hier eine gesellschaftlich wirkungsvolle Kategorie beschrieben, die sich komplexer darstellt, als jene äußerlichen Zuschreibungen, die zunächst vermutet werden könnten. So ist etwa mit „weiß“ nicht die „Hautfarbe“ gemeint, sondern die Beschreibung einer kulturellen Hegemonialität, die unsichtbar erscheint: „So kann weiß im kulturellen Kontext der Türkei ‹muslimisch-sunnitisch, türkisch, cis-männlich› bedeuten und ist nicht mit der Frage der Hautfarbe verknüpft. Die Analyse von Weißsein ist mit der Erarbeitung und Sichtbarmachung jener kulturellen Kategorien verknüpft, die sonst unsichtbar oder unmarkiert bleiben.“ (vgl. Arbeitskreis Umfrage des FAM: «Wie ‹weiß› ist die deutschsprachige Medienwissenschaft?». Hintergründe, Ergebnisse und Reflexionen zur Umfrage der GfM und des Forum Antirassismus Medienwissenschaft, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jg. 14, Heft 26 (1/2022): X | Kein Lagebericht unter https://mediarep.org/handle/doc/19107 Es sei weiter darauf hingewiesen, dass die Kategorie „weiß“ Normen konstruiert, die auf der Ausgrenzung von „Anderen“ basieren. Diese „Anderen“ müssen jedoch nicht zwangsläufig „people of color“ sein. So weist etwa Walter D. Mignolo Aime Cesaire zitierend darauf hin: „As Aime Cesaire noted, half a century ago the Holocaust was a racial crime perpetrated against racialized whites in Europe, applying the same logic that colonizer has applied to people of color outside of Europe”, vgl. Walter D. Mignolo, Coloniality of power and de-colonial thinking. New York 2007, 155
- 6Donna Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. in: Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Wiesbaden 2007, 87
- 7Hito Steyerl, Ästhetik des Widerstands, in: transversal.at 03/2011: art/knowledge: overlaps and neighboring zones, https://transversal.at/transversal/0311/steyerl/de (06.02.2023)
- 8ebd.
Bevorzugte Zitationsweise
Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.