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Protest

Day of Action. Justice is not Brett Kavanaugh, Flickr

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Cosi fan tutte – So machens alle

Gabriele Dietze über Ermannungssysteme und das US-Senatshearing Kavanaughs

29.9.2018

Senats-Anhörungen zur Bestätigung von Kandidaten für das US-amerikanische Verfassungsgericht geben traditionell Auskunft zum Stand der Sexualpolitik in den USA. Das berüchtigte Hearing zur Bestätigung des Kandidaten Clarence Thomas 1991, der von George Bush dem Älteren vorgeschlagen wurde, brachte den Tatbestand der Sexuellen Belästigung ins öffentliche Bewusstsein. Eine Kollegin, Anita Hill, ebenso wie der Richter Clarence Thomas Afroamerikaner_in, hatte ihn beschuldigt, sie über Jahre verbal belästigt zu haben, weil sie ihm ein Rendezvous verweigert hatte.1 Clarence Thomas berief sich im Hearing darauf, von den Medien «gelyncht» zu werden, und wurde zum Verfassungsrichter gewählt – einem der schlechtesten aller Zeiten, der im Übrigen weiter unter neueren Beschuldigungen sexueller Übergriffe steht und insbesondere in Fragen, die die afroamerikanische Gemeinschaft angehen, etwa zur Affirmative Action oder zur Rechtmäßigkeit von Disziplinierungen im Gefängnis, zuverlässig auf der rechten Seite abstimmt.

Das Thomas/Hill-Hearing ist im kollektiven Gedächtnis vor allem deshalb haften geblieben, weil eine Corona von ausschließlich männlichen Senatoren die Rechtsprofessorin Anita Hill inquisitorisch und beleidigend befragt und damit einen verheerenden Eindruck auf die Mehrheit der Amerikanerinnen gemacht hatte. Ein «Anita-Hill-Efffekt»2 hatte dazu geführt, dass sich viele Frauen als Kandidatinnen der Senatswahlen aufstellen ließen und einige sogar erfolgreich waren. Dieser Eindruck und die entsprechenden Folgen sollten im gegenwärtigen Hearing von Donald Trumps Verfassungsrichter-Kandidat Brett Kavanaugh, der ebenfalls sexueller Übergriffe beschuldigt wird, auf jeden Fall vermieden werden. Statt männlicher Senatoren wird im September 2018 die Zeugin Christine Blasey Ford, die sich an eine versuchte Vergewaltigung durch Kavanaugh erinnert, stellvertretend von einer Staatsanwältin befragt, und der Schwerpunkt der Vernehmung liegt nicht direkt auf ihrer Glaubwürdigkeit, sondern auf der Frage, ob es sich bei dem Täter tatsächlich um Kavanaugh gehandelt habe. 

Doch entgegen dem Anschein geht bei dem Senatshearing zur confirmation Kavanaughs nur am Rande darum, ob er versucht hat, als volltrunkener Teenager Christine Baseley Ford zu vergewaltigen. Um an den Kern der Prozedur zu kommen, müsste man die Frage umgekehrt stellen: Disqualifizieren männliche jugendliche Übergriffe auf Frauen überhaupt für irgendein Amt? Die ganze Skandalisierungswelle basiert nämlich auf einem impliziten Wissen der US-amerikanischen Gesellschaft über die Art und Weise, wie weiße männliche Adoleszenz in gebildeten Kreisen geformt wird. Mehr oder weniger  a l l e  männlichen Mitglieder von Prepschool-Abschlussklassen, die aufs College vorbereiten, alle College-Jahrgänge und die Kontaktsport-Mannschaften wie Football, Baseball und Basketball haben Erfahrungen mit rituellen Besäufnissen, bei denen, soweit Frauen anwesend sind, immer einige versuchen, die Frauen betrunken zu machen und ‹freiwillig› oder ohnmächtig zum Sex zu nötigen.

Es gibt für dieses Verhalten institutionalisierte Formen, wie sie an Colleges und Universitäten in den so genannten fraternities (im weitesten Sinne mit unseren Burschenschaften verwandt) gepflegt werden. In den Partykellern der Verbindungshäuser (frathouses) – meist von old boys gestiftet und unterhalten – finden sich Biervorräte, die allen Verbindungsbrüdern unabhängig vom legal drinking age zugänglich sind. Gemeinsam mit old boys zu trinken, bedeutet oft den ersten Schritt in eine spätere Großkarriere. Die fraternities sind eine nie versiegende Quelle von College- und Universitätsskandalen, insbesondere für so genannte date-rapes (Verabredungsvergewaltigungen), gang rapes oder -banging (Gruppenvergewaltigungen) und den Einsatz von KO-Tropfen.3

Auch Rassismus-Skandale sind nicht selten. Zuletzt fiel das Dartmouth College dadurch auf, dass fraternities eine «Ghetto Party» veranstalten, bei der Studenten in Blackface auftauchten. Nicht nur in diesem College hatten Studierenden sich die Gesichter für Themen-Partys schwarz geschminkt und schmerzliche Erinnerungen an Minstrel Shows des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufgerufen, in denen weiße Darsteller sich die Gesichter mit verbranntem Kork schwarz gefärbt und mit grellrot geschminkten großen Mündern Afroamerikaner karikiert hatten.4 Immer wieder mal werden einzelne fraternities, deren Exzesse zu auffällig geworden waren, verboten. Strukturell ist aber die frat-culture für die privaten Universitäten unverzichtbar, weil über sie die Geldflüsse der Alumni-Finanzierung ihrer alten alma mater laufen.

Diese Kultur hat die Mehrheit der weißen männlichen Mitglieder der amerikanischen Eliten habitualisiert. (Minderheiten, insbesondere Afroamerikanern und Juden sind diese Verbindungen meist versperrt; inzwischen haben insbesondere Afroamerikaner Schwarze fraternities gegründet). Die Mitgliedschaft in den fraternities muss häufig schmerzhaft ‹verdient› werden. In so genannten hazings werden die Anwärter demütigenden Prozeduren unterzogen, um z.B. nackt mit Affenköpfen aneinandergefesselt durch den Campus zu laufen oder den Kopf in Eimer voller Fezes und Urin zu tauchen. Immer wieder kommt es bei hazings zu Todesfällen. Kollektive Besäufnisse und die Eroberung von Frauen, auch gegen deren Willen, sind sozusagen Prämien, die die demütigenden Initiationsriten vergessen lassen, und sie sind Schmiermittel für «male bonding at the expense of women», wie Lili Loofbourow in Slate schreibt.

 

Die Beschuldigungen des Supreme Court-Kandidaten Kavanaugh auf dem Senats-Hearing durch Christine Blasey Ford entsprechen dem Bild dessen, was Schülerinnen und Studentinnen wiederfahren kann, wenn sie in eines der Ermannungs-Besäufnisse in frat-culture ähnlichen Zusammenhängen geraten. Obwohl Kavanaugh auf dem Hearing mehrfach betont hat, niemals bis zum Black Out betrunken gewesen zu sein und sich immer an alles zu erinnern, was an den Partynächten geschehen ist, haben sich sofort nach seiner Aussage Zeug_innen gemeldet wie z.B. die Yale-Kommilitonin Lynne Brooks mit der Aussage, dass dies eine «unverschämte Lüge» sei und sie ihn mehrfach anders erlebt habe.

Und nun sind wir am Kern des Problems: Die Struktur ist allen US-Amerikaner_innen, zumindest denen mit höherer Ausbildung, bekannt, die Struktur dauert bis in die Gegenwart an, und sie wird für normal gehalten: Boys will be boys. Die interviewenden Senator_innen kennen sie und waren, soweit männlich, daran beteiligt. Im tiefen Inneren fehlt die Einsicht, dass man für etwas bestraft werden soll, was doch alle machen (cosi fan tutte).
Üblicherweise wird dieser Abgrund an Maskulinitätsermächtigung durch Viktimisierung von Frauen auch nicht sichtbar. Es zeigen sich immer nur Spitzen des Eisbergs, wenn die Umstände, in diesem Fall politische Opportunitäten der demokratischen Partei, eine Skandalisierung ermöglichen. Insofern kann man äquivalent zu Hemingways iceberg-theory5 – derzufolge in einer guten Erzählung immer nur die Spitze des Eisbergs sichtbar gemacht werden und die Tiefenstruktur vom Leser erahnt soll – sagen, dass auch das Senatshearing lediglich die Spitze des Eisbergs zur Sichtbarkeit gebracht hat. Alle wissen von der großen Masse unter der Wasseroberfläche, haben aber keinerlei Interesse, diese zum Schmelzen zu bringen.

D.h. auf die neue Empfindlichkeit und Anklagebereitschaft von Frauen gegenüber sexualisierter Gewalt, wie sie über die Etablierung des Begriffe Sexuelle Belästigung, Date Rape und die #MeToo-Kampagne hervorgebracht worden ist, wird lediglich rhetorisch eingegangen. Das Ermannungssystem über (gewaltsame) gruppenförmige sexuelle Eroberung soll und muss intakt bleiben, weil es genau diese Exzesse und Geheimnisse sind, die verbinden und die Seilschaften an die Spitze ermöglichen.

Die substantiell heuchlerische Atmosphäre dieser Befragungen ist ähnlich wie das Erleben in Ländern des realen Sozialismus gewesen sein muss. Man weiß, dass man über die Erfolge und kommunistische Moralität des Systems belogen wird, aber es gibt keine Sphäre der Wahrheit jenseits des Privaten (sofern nicht auch im Privaten Spitzel saßen). Auch die republikanischen Senatsmitglieder wissen, dass die Vorwürfe, bedenkt man die Berichte über die Besäufnisse des Kandidaten, hochwahrscheinlich zutreffen, aber sie wollen die Masse unter der Eisbergspitze nicht zur Sprache bringen.

Ob Kavanaugh nun Verfassungsrichter wird oder nicht, es wird an diesen Strukturen nichts ändern. Auch in diesem Hearing ist es nicht ansatzweise gelungen, die systematische Verdinglichung von Frauen durch Männer auf dem Weg nach oben zur Sprache zu bringen und/oder ihre Zerstörung in den Blick zu nehmen. Was Kavanaugh im Erfolgsfall zerstören wird, ist nach dem Nobelpreisträger Paul Krugman die US-Verfassung. Durch neue von Trump inthronisierte rechtspopulistische Richter werden die Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court über Jahrzehnte hinaus (diese Richter werden auf Lebenszeit gewählt) nach rechts kippen. Die Anträge auf die verfassungsrechtliche Außerkraftsetzung von Affordable Care (im Volksmund «Obamacare») und die Rücknahme der Abtreibungsfreigabe stehen demnächst auf dem Arbeitsplan des Hohen Gerichts.

Donald Trump ist Präsident geworden, obwohl er damit geprahlt hatte, sexuell übergriffig zu sein (grab them by the pussy). Möglicherweise sollte man das ‹obwohl› überdenken und stattdessen ein ‹weil› erwägen. Möglicherweise bedarf eine sich als bedroht empfindende weiße Männlichkeit einer triumphalen Devaluierung von allem Nicht-Weißen und von Weiblichkeit aller Schattierungen, wie sie in den Polemiken gegenüber Hillary Clinton zu ersehen ist, über die sich die Trump-Anhängerschaft nur noch mit Sprechchören wie «Sperrt sie ein» (lock her up) äußern konnte. Möglicherweise ist der geschätzten Kollegin Ulrike Bergermann recht zu geben, die mir schrieb, es handele sich bei Trump Regierung um eine «presidency soaked in rape-culture». 

  • 1Siehe Gabriele Dietze, Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, Bielefeld (transcript) 2013, 359-385.
  • 2Siehe Jonathan Markovitz, Legacies of lynching: Racial violence and memory, University of Minnesota Press 2004, 133.
  • 3Peggy Reeves Sanday, Fraternity gang rape: Sex, brotherhood, and privilege on campus, New York (NYU Press) 1992. Zu kürzlichen Campus-gang-rape-Fällen 2014 und 2016 siehe https://www.nj.com/bergen/index.ssf/2016/10/students_suit_details_horrifying_frat_house_gang_rape_claim.html und http://time.com/3597579/campus-sexual-assault-gang-rape-uva-rolling-stone/.
  • 4William John Mahar, Behind the burnt cork mask: Early blackface minstrelsy and antebellum American popular culture, Bd. 441, University of Illinois Press, 1999.
  • 5Kenneth G. Johnston, The Tip of the Iceberg: Hemingway and the short story, Greenwood FL (Penkevill) 1987

Bevorzugte Zitationsweise

Dietze, Gabriele: Cosi fan tutte – So machens alle. Gabriele Dietze über Ermannungssysteme und das US-Senatshearing Kavanaughs. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/gender-blog/cosi-fan-tutte-so-machens-alle.

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