Citizen Science. Vom Gewinnen im Scheitern (Teil 1)
Über Definitionen und Citizen-Science-Hype in einem filmwissenschaftlichen Bürger_innenforschungsprojekt
In diesem dreiteiligen Blogbeitrag möchte ich meine Erfahrungen aus dem Bürger_innenforschungsprojekt Das filmische Gesicht der Stadt Potsdam teilen. Hierzu werde ich im ersten Teil zum einen darauf eingehen, wie Citizen Science definiert und worauf ihr aktueller Hype zurückgeführt wird. Zum anderen werde ich aufzeigen, welche Definition meinem eigenen Vorhaben zugrunde liegt. Das filmische Gesicht der Stadt Potsdam wird im zweiten Teil vorgestellt, verbunden mit einer Darstellung, wie ich die Basisanforderungen umgesetzt habe, die in diversen Ratgebern und Leitlinien an Bürger_innenforschungsprojekte gestellt werden. Im dritten Teil werde ich berichten, wie das Projekt tatsächlich verlaufen ist. Ausgehend von den Diskrepanzen, die sich zwischen Theorie und Praxis ergeben haben, sowie einem scheinbaren Missverhältnis zwischen Aufwand und Mitwirkungszahlen, werden die Basisanforderungen um eigene Empfehlungen und Gedanken ergänzt. Finale Ergebnisse aus dem Vorhaben liegen noch nicht vor, aber ausreichend Erfahrungswerte – insbesondere zum Gewinnen im Scheitern in einem Bürger_innenforschungsprojekt.
Definitionen von Citizen Science
Unter den Sammelbegriff Open Science fällt neben anderen auch die Citizen Science – im deutschsprachigen Raum häufig Bürger_innenwissenschaft, seltener Bürger_innenforschung genannt. Es liegen unterschiedliche Definitionen vor. Auf der einen Seite gibt es enge Ansätze, die den Begriff nur für Projekte, bei denen nicht-beruflich Forschende den gesamten Forschungszyklus bestimmen, verwenden. In diese Richtung tendiert beispielsweise die Initiative Extreme Citizen Science. Sie stellt Werkzeuge zur Verfügung, damit Bürger_innen ihre eigenen Forschungsprojekte durchführen können, wodurch die Citizen Science als Bottom-up-Ansatz gefördert wird. Ein weiteres Beispiel ist das Stadtteil-Historiker_innen-Projekt. Hier werden Bürger_innen nicht zum mitforschen animiert, sondern sie sind die Hauptakteur_innen, da sie direkt mit Geld, wissenschaftlichen Werkzeugen und Instrumenten zur Sichtbarmachung ihrer Ergebnisse für ihre Projekte ausgestattet werden.
Auf der anderen Seite gibt es breite Definitionen, die unter dem Begriff Citizen Science Forschungsvorhaben mit unterschiedlichen Graden der Involvierung von Bürger_innen aufführen: Von institutionellen Projekten, in denen sie von beruflich Forschenden dazu eingeladen werden, Daten zu sammeln bzw. so aufzuarbeiten, dass sie von Wissenschaftler_innen analysiert werden können, bis hin zu von Bürger_innen selbst initiierten und gemeinsam mit Berufsforscher_innen durchgeführten Projekten, die gemeinsame Analysen und Ergebnisverwertungen einschließen. In diesen breiten Definitionen wird von einer Forschungskollaboration zwischen Berufsforscher_innen und Bürger_innen und einer Ko-Produktion von Wissen ausgegangen.1 Hierzu können als aktuelle Beispiele ein Projekt des Kreisarchivs Stormarn genannt werden, das die Bürger_innen von Stormarn zur Hilfe aufgerufen hat, Archivbestände unverzeichneter Fotos zu erschließen; im Transcribe-Cooper-Projekt transkribieren Bürger_innen in Englisch, Französisch und Latein verfasste Schriftstücke der Bürger_innenrechtsaktivistin Anna Julia Cooper und im Projekt Wenker wird durch Übersetzungsleistungen von Bürger_innen das Schweizerdeutsch von heute mit dem der 1930er Jahre verglichen.
Citizen Science wird des Weiteren definiert als ein «evolving set of research methods», das in der Lage ist, bestehende Methoden zu ergänzen,2 oder als «flexibler Ansatz, welcher an verschiedene Gegebenheiten und Disziplinen angepasst werden kann»3. Egal ob eng oder breit definiert, als Methode oder Ansatz verstanden: Basale Voraussetzung ist, dass die Bürger_innen nicht das primäre Objekt der Untersuchung sind, sondern aktive Akteur_innen in einem wissenschaftlichen Prozess.
Citizen-Science-Hype
Durch hochschulpolitische Bekenntnisse zur Bürger_innenforschung und Appelle, diese im Sinne der Open Science zu stärken, gefolgt von der Einrichtung von Kompetenzzentren wie etwa dem Citizen Science Center Zurich, durch die Herausgabe von Leitfäden und Richtlinien, welche Basisanforderungen an Bürger_innenforschungsprojekte formulieren, sowie durch die Bereitstellung von Plattformen wie Bürger schaffen Wissen und von Drittmitteln zur Förderung von Citizen-Science-Projekten entsteht der Eindruck, dass wir es seit ein paar Jahren mit einem Hype zu tun haben. Der Aufschwung der Bürger_innenforschung wird – wie die Open-Science-Bewegung insgesamt – mit technologischen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht (z. B. mit der Verbreitung von GPS-basierten Apps, von Smartphones, die die Aufnahme von Fotos, Videos und Ton erlauben; durch die Abdeckung mit 3G und 4G), die das Sammeln von Daten durch Bürger_innen und die Kommunikation mit ihnen begünstigen.4 Aber auch gesellschaftliche Entwicklungen wie die Zunahme von Bildung und Freizeit sowie die Verlängerung der Lebenszeit tragen zum Hype bei,5 und ebenso, dass die Citizen Science an das in vielen Gesellschaften wachsende Bedürfnis nach Partizipation und politischer Beteiligung anschlussfähig ist6:
The trends have fundamentally altered citizen science. Most of the public in the early twentieth century could not be relied upon to identify and report the scientific names of species (though some expert amateur naturalist has done so) and were not equipped with scientific understanding; nor were they carrying around powerful scientific instruments in their pockets. In contrast, today, hundreds of millions of people have such abilities, and therefore the potential for participation is much higher.7
Doch auch wenn die aktuelle hochschulpolitische Agenda und die Institutionalisierung der Bürger_innenforschung anderes suggerieren, Citizen Science ist weder in den Natur- noch in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften etwas Neues. Bürger_innen observierten schon vor der Etablierung der berufsmäßigen Wissenschaft im 19. Jahrhundert die Einflüsse des Menschen auf die Natur, sie kartierten die Erdoberfläche, registrierten tierische Populationen oder astronomische Phänomene, sie betrieben Denkmalpflege und archäologische Arbeiten, bereicherten die Lokalforschung und verfassten kunst- oder literaturwissenschaftliche Abhandlungen oder Lexika. Entsprechend gibt es in der Wissenschaftsgeschichte viele Persönlichkeiten, die ohne eine entsprechende akademische Ausbildung Herausragendes für den Wissenszugewinn geleistet haben.8 Forschende Bürger_innen sind seit Jahrhunderten Bestandteil des Forschungsalltags außerhalb und innerhalb von Institutionen. Bei der Bewertung des Neuigkeitswertes der Bürger_innenforschung sollte zumindest als Hintergrundfolie berücksichtigt werden, dass es sich bei denjenigen, die wir heute Wissenschaftler_innen nennen, immer auch um Bürger_innen handelt, die mit ihrer wissenschaftlichen Professionalisierung keineswegs bürgerschaftliches Interesse und Engagement ablegen, sondern häufig unmittelbar in ihre Arbeit integrieren. Über den Wissenstransfer sind Forscher_innen zudem immer mit Gesellschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft verbunden. Transfer ist dabei nie eine Einbahnstraße, die Wissen aus den Forschungseinrichtungen in die Welt gibt, sondern ein bidirektionaler Prozess, bei dem sich Gesellschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft mit Impulsen aus der Forschung auseinandersetzen und umgekehrt Impulse aus diesen Kontexten durch die Forschenden aufgegriffen und bearbeitet werden. Und selbst dort, wo ein Forschungsprojekt die Frage nach der Relevanz allein mit einem Nutzwert für die theoretische und/oder methodische Weiterentwicklung einer Fachdisziplin beantwortet, ist mittelbar eine Beziehung zu den Bürger_innen gegeben, weil allein die kontinuierliche Ausdifferenzierung einer Disziplin bzw. die Bearbeitung ihrer theoretischen und/oder methodischen Desiderate ihre Fähigkeit aufrechterhält, Antworten auf sich wandelnde gesellschaftliche Fragestellungen zu erarbeiten.
Trotzdem wurde der universitären geisteswissenschaftlichen Forschung noch 2016 attestiert, dass hier, anders als in der universitären naturwissenschaftlichen Forschung, die Beteiligung von Bürger_innen nur wenig Anklang fände. «An den – von Seiten der Wissenschaft oft liebgewonnenen – Grenzen zwischen professioneller Forschung, die neues Wissen generiert, und der Öffentlichkeit, die dieses Wissen konsumiert» sei in den Geisteswissenschaften festgehalten worden.9 Gestützt wird diese Einschätzung durch eine aktuelle Studie: Nach dieser kann der Großteil (88,4 %) der Projekte, die im Jahr 2017 auf englisch- und deutschsprachigen Citizen-Science-Plattformen gehostet waren, den Naturwissenschaften zugerechnet werden.10 Allerdings verweisen Lisa Pettibone und David Ziegler sowie die Autorin der benannten Studie, Barbara Hanisch, darauf, dass die Diskrepanz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zum Teil darauf zurückführen ist, dass dort, wo in den Geisteswissenschaften mit Bürger_innen zusammengearbeitet wird, schlicht häufig nicht der Begriff Citizen Science zur Anwendung kommt, sondern sich längst andere Fachwörter herausgebildet haben – die Rede ist dann z. B. von partizipativer Forschung oder von Public History.11 Sollte der Vorwurf einer mangelnden Offenheit für Bürger_innenforschungsprojekte tatsächlich zutreffen, dann kann dieser Umstand immerhin positiv gewendet und festgestellt werden, dass wir in den Geisteswissenschaften und damit auch in der Film- und Medienwissenschaft noch «große bürgerwissenschaftliche Potentiale»12 vorliegen haben.
Meine Konzeptualisierung
Im Projekt Das filmische Gesicht der Stadt Potsdam habe ich mich an den breiten Definitionen von Citizen Science orientiert. Als Berufsforscherin habe ich Bürger_innen von Potsdam dazu eingeladen, sich als Expert_innen ihrer Stadt an einer spezifischen Datensammlung zu beteiligen, mit mir diese Daten (teilweise) zu analysieren und praktische Handlungsanweisungen für die Stadtplanung zu entwickeln. Ich verstehe das Vorhaben als ein Bürger_innenforschungsprojekt, obwohl die Entwicklung der Forschungsfrage und die Thesenbildung, die Entwicklung des Forschungsdesigns, die Beantwortung von Fragen des Datenmanagements sowie große Teile der Analyse und der theoretischen Reflexion bei mir liegen. Die Bürger_innen sind also nur an Abschnitten des Forschungszyklus beteiligt. Ich definiere die Bürger_innenforschung nicht als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin wie etwa die Filmwissenschaft, weshalb ich auch den Begriff der Bürger_innenforschung bzw. der Bürgerforscher_innen demjenigen der Bürger_innenwissenschaft bzw. der Bürgerwissenschaftler_innen vorziehe. Ich begreife die Bürger_innenforschung auch nicht als eine Methode wie beispielsweise die Filmanalyse, sondern als ein Prinzip – wie die Inter- und die Transdisziplinarität. Dabei scheint mir die Bürger_innenforschung potenziell zwei wichtige Qualitäten dieser beiden Prinzipien zu vereinen: Zum einen werden unterschiedliche Wissensbestände und Perspektiven zusammengeführt, um neues Wissen zu generieren (Interdisziplinarität), zum anderen werden durch eine Zusammenarbeit die bestehenden Vorstellungen von Wissenschaft aufseiten der forschenden Bürger_innen und aufseiten der Berufsforscher_innen infrage gestellt (Transdiziplinarität). Natürlich hinkt dieser Vergleich, weil die Bürgerforscher_innen keine abgesteckte «Disziplin» vertreten, die ihre spezifischen Methoden und eingeübten kritischen Reflexionsansätze in einen gemeinsamen Forschungsprozess einbringt, aber die Bürger_innenforschung führt im idealen Fall zu ähnlichen Ergebnissen wie inter- und transdiziplinär angelegte Forschungsprozesse: zur Generierung von Wissen, das in einem mono-disziplinären akademischen Forschungsdesign nicht erarbeitet werden kann, sowie zur konstruktiven Infragestellung der akademischen und gesellschaftlichen Spielregeln und insbesondere der Interaktionsformen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.
Allzu enge Definitionen finde ich vor allem aus einem Grund problematisch: Meiner Ansicht nach verschrecken allzu enge Definitionen diejenigen, die sich mit der Bürger_innenforschung noch vertraut machen müssen und sich zunächst für handhabbare Projekte entscheiden, um Sicherheit für komplexere Vorhaben zu gewinnen.
Im Übrigen gilt der Faktor des «Gewinnens an Sicherheit» nicht nur für die Wissenschaftler_innen, sondern auch für die Bürger_innen selbst. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit der Bürger_innen noch nie in einem Bürger_innenforschungsprojekt mitgemacht hat, könnte es für Wissenschaftler_innen eine sinnvolle Herangehensweise sein, nicht gleich große und komplexe, sondern zunächst viele, zeitlich begrenzte, niederschwellige und unmittelbar wirksame Projekte durchzuführen, um auf diese Weise die Zahl der aktiven Teilnehmer_innen nach und nach zu erhöhen. Ich plädiere nicht für ein dauerhaftes Beharren auf Light-Versionen von Citizen Science, sehe darin aber einen notwendigen (Zwischen-)Schritt für Wissenschaftler_innen und Bürger_innen gleichermaßen, um den Ansatz kennenzulernen und ihn zu einem gängigen Ansatz zur Lösung von kleinen und großen Fragestellungen zu machen.
Im zweiten Teil dieses Blogbeitrags werde ich mein Projekt Das filmische Gesicht der Stadt Potsdam vorstellen und aufzeigen, wie ich mit den Basisanforderungen, die in diversen Ratgebern und Leitlinien zu Citzen-Science-Projekten formuliert werden, umgegangen bin.
- Citizen Science. Definitionen und Citizen-Science-Hype in einem filmwissenschaftlichen Bürger_innenforschungsprojekt
- Citizen Science. Über die Umsetzung von Basisanforderungen an ein filmwissenschaftliches Bürger_innenforschungsprojekt
- Citizen Science. Über Projektverlauf, Erfahrungen und Zwischenbilanz eines filmwissenschaftlichen Bürger_innenforschungsprojekts
- 1Vgl. Andrea Wiggins, Kevin Crowston: Surveying the citizen science landscape, in: First Monday, Vol. 20, Nr. 1, 2015 sowie Montserrat Prats López: Managing Citizen Science in the Humanities: The challenge of ensuring quality, Amsterdam 2017, 1.
- 2Daniel Wyler, François Grey: Citizen science at universities: Trends, guidelines and recommendations, Leuven 2016, 5.
- 3European Citizen Science Association (ECSA): Zehn Prinzipen von Citizen Science – Bürgerwissenschaften, 6.12.2015.
- 4Vgl. Paul Ayris, Alea López de San Román, Katrien Maes, Ignasi Labastida: Open Science and its role in universities: A roadmap for cultural change, Leuven 2018, 21; Wyler u. a.: Citizen science at universities, 3 und 5; Lisa Pettibone, David Ziegler: Citizen Science: Bürgerforschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Kristin Oswald, René Smolarski (Hg.): Bürger Künste Wissenschaft: Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, 57–69, hier 58 sowie Wiggins u. a.: Surveying the citizen science landscape.
- 5Vgl. Mordechai (Muki) Haklay, Suvodeep Mazumdar, Jessica Wardlaw: Citizen Science for Observing and Understanding the Earth, in: Pierre-Philippe Mathieu, Christoph Aubrecht (Hg.): Earth Observation Open Science and Innovation, Cham 2018, 69–88, hier 72–73 sowie Aletta Bonn u. a.: Grünbuch Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland, Leipzig, Berlin 2016, 14–15.
- 6Vgl. Pettibone u. a.: Citizen Science, 58f.
- 7Haklay u. a.: Citizen Science for Observing and Understanding the Earth, 74.
- 8Pettibone u. a.: Citizen Science, 58.
- 9René Smolarski, Kristin Oswald: Einführung: Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, in: Kristin Oswald u. a. (Hg.): Bürger Künste Wissenschaft, 9–27, hier 12.
- 10Barbara Heinisch: Vorherrschende Wissenschaftszweige auf deutsch- und englischsprachigen Citizen Science-Projektplattformen, in: Thomas Bartoschek, Daniel Nüst, Mario Pesch (Hg.): Forum Citizen Science 2019, Münster 2019, 40–52, hier 43f.
- 11Vgl. Pettibone u. a.: Citizen Science, 63 und 65 sowie Heinisch: Vorherrschende Wissenschaftszweige, 46f.
- 12Peter Finke: Citizen Science und die Rolle der Geisteswissenschaften für die Zukunft der Wissenschaftsdebatte, in: Kristin Oswald u. a. (Hg.): Bürger Künste Wissenschaft, 31–56, hier 33.
Bevorzugte Zitationsweise
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