Zwischen Dokument und Fiktion
Spielarten des Faktischen in Filmen der Viennale 2018
Immer mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, immer uneindeutiger lassen Tatsachen sich von Erfindungen, lässt Natur sich von Konstruktionen unterscheiden. Dass Kinomacher aufhören, ihre Programmreihen nach jenen filmdramaturgischen Großkategorien Fiction und Non-Fiction zu ordnen, wie zuletzt das Wiener Filmfestival Viennale, ist darum nur konsequent. Entsprechung findet diese Entwicklung zu der aus poststrukturalistischen Debatten hervorgegangenen Kritik an festen Subjektpositionen bzw. Wahrheitsansprüchen. Ohnehin war die Viennale nie eine besondere Festung für das im Normalkino so beliebte dramatische Drei-Akt-Schauspiel. Doch die auffällig nuancierte Bandbreite der verschiedenen dokumentarischen und fiktionalen Mischformen der diesjährigen Viennale-Ausgabe gibt Anlass, die Erosionen und Transformationen landläufiger Tatsachengläubigkeit differenzierter in Augenschein zu nehmen.1
Die Fiktion des Sicht- und Hörbaren
Zu sehen sind Ackerflächen, Landmaschinen, Schweinestall, Konserven im Supermarkt, Teilnehmer_innen von Gymnastikkursen; im Panorama eines Stadtfestes taucht neben Jahrmarktbuden flüchtig auch ein Werbestand für die Republikaner-Partei auf; ein anderer Stand nicht weit davon bietet alternative Ernährung feil. Viele elementare oder auch spezifische Aspekte des USA-Kleinstadtlebens rücken ins Bild: Hochzeiten, Beerdigungen, eine Matratzen-Messe, Veterinär-Chirurgie, Gespräche in Kneipen oder im Waffengeschäft. Ironisch wirkt, wenn Wiseman einen Schulunterricht ausgerechnet dann dokumentiert, wenn der Lehrer den Schüler_innen schwärmerisch prominente Football-Spieler aufzählt, die aus Monrovia stammen. Insgesamt zeigt der Film auf betont friedliche Weise das, was von einer Kleinstadt des Mittelwesten zu erwarten ist, und er zeigt es, wie grundsätzlich bei Wiseman, kommentarlos und ohne Zwischenfragen. Nicht zu sehen ist, dass hier irgendjemand twittert oder sich aufregt. Es gibt keine Debatten über Einwanderung, Klimawandel oder Außenpolitik. Solche Themen kommen allenfalls in Spurenelementen oder indirekt vor. Etwa, wenn im Gemeinderat, der über Straßeneinfahrten und öffentliche Sitzbänke debattiert, ausschließlich Menschen heller Hautfarbe diskutieren. Anzuerkennen ist, dass Wisemans zurückhaltende Beobachtungsmethode davor bewahrt, auf kurzschlüssige Meinungen hereinzufallen; stattdessen adressiert der Film eine kontemplative Betrachtung, die den Kinozuschauer_innen viel Raum für eigene Assoziationen lässt. Es stellt sich mit Bruno Latour die Frage: Wenn hier der Filmemacher handelt, wer handelt außerdem?2 Zwar erscheint das im Film entworfene Gesellschaftsbild einer bodenständigen, weitgehend von medialen und globalen Diskursen abgekoppelten Kleinstadt wie die Narrativierung einer Modelllandschaft; doch insofern die daran geknüpften Assoziationen sich von PR-Annoncierungen leiten lassen, wie: «Filmemacher erkundet das Kleinstadtleben der Corn-Belt-Region, wo Wahlen in der Regel zugunsten republikanischer Politiker wie Trump ausgehen»,3 spannt sich für Monrovia, Indiana ein Imaginationsraum, der demjenigen eines handlungsreichen Spielfilms nicht nachsteht.
Zeugnis und Darstellung
Prekäre Bündnisse
Ist dieses Arrangement bei Komers auf berührende und Regie-reflexive Weise ausgestellt, so lässt Roberto Minervini es dagegen interessant in der Schwebe. Immer wieder überrascht die Unverstelltheit, mit der die Protagonist_innen seiner Filme scheinbar ihren eigenen prekären oder kämpferischen Agenden folgen, obgleich die Bilder und die Szenenauflösung der Filme so kalkuliert und kontrolliert wirken, als seien die Personen fiktiv in Szene gesetzt. Minervinis Filme sind dokumentarisch und schauspielerisch zugleich. Ihre Ambivalenz zwischen Stilisierung und Beobachtung erreicht der von Italien in die USA emigrierte Regisseur, indem er zu seinen Protagonist_innen großes Vertrauen aufbaut, bevor diese bei den Dreharbeiten zu Darstellern ihrer selbst werden. Dabei mag sich das Thema im Laufe einer Produktion massiv verschieben, wie bei Minervinis jüngstem Film.
Zunächst als Projekt über die Musik der 1930er Jahre in Louisiana geplant, entwickelte What You Gonna Do When the World’s on Fire (I/USA/F 2018) sich als ein kaleidoskopisches Porträt dreier lose zusammenhängender afroamerikanischer Milieus. Die strahlendste Figur darin ist die Performerin Judy Hill, die es nach Gewalt- und Suchterfahrung in New Oreans geschafft hat, eine beliebte Bar zu etablieren, und die diese wieder zu verlieren droht. Groß und halbnah aufgenommen wirkt Judy mit ihren Stimmungsschwankungen zwischen Unternehmergeist, Lebensfreude und Trauer wie die Heldin eines Melodrams. Eine zweite Gruppe bilden die streunenden Halbbrüder Ronaldo King (14) und Titus Turner (9). Deren Spiele und gemeinsames Rumhängen schlagen immer wieder um in die erzieherische Sorge des älteren für den jüngeren, nicht zuletzt um diesen zu trainieren und stark zu machen für die Herausforderung ihrer von Repressionen geprägten Umgebung. Und das dritte Milieu bildet die aktivistische «New Black Panther Party for Self-Defense» in New Orleans. Mit Demonstrationen, Rap-Gesängen, Hausbesuchen und Armenspeisungen wirbt diese Gruppe für afroamerikanische Solidarität. Weit davon entfernt eine diskursive Auseinandersetzung über Rassismus und Gewalt vorzuführen, zeigt der Film kommentarlos, aus großer Nähe, welche Risiken die Gruppe auf sich nimmt, um die rassistischen Übergriffe der Polizei gegenüber Afroamerikaner_innen anzuprangern.
Dokumente vom Leben wie im Film
Viel eindeutiger dagegen ist die Nähe, die Regisseur Liu Bing zu den Hauptfiguren seines Films Minding the Gap (USA 2018) einnimmt. Denn mit Zack Mulligan und Keire Johnson teilt Bing nicht nur die Leidenschaft fürs Skaten; er ist auch über die mehr als 10 Jahre, während der der Film entstanden ist, eng mit den beiden Protagonisten befreundet. Sofern sie ihre waghalsigen Touren durch Rockfort (Illinois) gemeinsam machten, ließ Bing die Kamera immer wieder mitlaufen, so dass der Film die drei Hauptfiguren mal als Kinder, als Jugendliche, mal als junge Erwachsene zeigen kann. Dabei beschränkte Bing sich keinesfalls auf das pittoreske Festhalten von riskanten Luftsprüngen, Flip-Tricks oder Grinds über Autostoßstangen inklusive der nicht seltenen Bauchlandungen. Gleichrangig fokussiert der Film auf die Brüche, Zerklüftungen und Gewalterfahrungen, die das familiäre oder partnerschaftliche Zusammenleben für Bing wie für seine Freunde mit sich bringt. Die so entstehende Spannung zwischen Skaten und Familientrauma funktioniert allerdings nicht nur metaphorisch. Vielmehr wird deutlich, dass die Jugendlichen in den Risiken und Verletzungen, die sie auf der Straße erfahren, ein Ventil für ihre schmerzvollen Familienerfahrungen finden. Die eine Verletzung ist nicht Zeichen für eine andere, das Gezeigte ist nicht bloß Objekt eines handelnden Filmers. Vielmehr reibt Bing beides eng aneinander, indem er sich und seine Leidenschaft selbstironisch betrachtet. Wenn er die Auseinandersetzung mit der eigenen, repressiv bestimmten Kindheit als Konfliktgespräch mit seiner Mutter inszeniert, parodiert er sich selbst als Interviewer und zugleich Kameramann, mitten in einer Ansammlung von Filmleuchten und Reflexionsschirmen. Nerdigkeit, Emotionalität und Selbstreferenzialität halten sich die Waage und machen aus Minding the Gap einen Film, der dokumentiert, wie das soziale Leben entlang filmischer Dramaturgien seinen Lauf nimmt.
Aktanten und Atlantik
Die Künstlerin Helena Wittmann, die an der Hamburger Hochschule für bildende Künste studiert hat, reflektiert mit ihrem Film Drift (D 2017) http://www.helenawittmann.de/drift/ https://www.viennale.at/de/film/drift-1 ebenfalls eine Freundschaft unter Bezugnahme auf elementare Naturkräfte. Doch anstatt Luftsprünge zwischen Flieh- und Schwerkraft wählt sie die Bewegungen des Wassers. Zu Anfang sehen wir, wie die beiden Hauptfiguren Theresa und Josefina gemeinsame Urlaubstage bei Regen auf Sylt verbringen. (Auch sie firmieren unter ihren realen Namen.) Fließendes, sprühendes, brandendes, prasselndes oder tropfendes Wasser ist als Kulisse allgegenwärtig, zumal die differenziert davon aufgenommenen Töne von Sounddesignerin Nika Breithaupt eine so bildsynchrone wie eigensinnige Geräuschkomposition daraus entfalten. Auch reduziert sich das Spiel mit elementarer Naturkraft nicht auf eine dienende Metapher, etwa für das driftende Verhältnis zwischen den beiden Protagonistinnen des Films: für deren sanftes gegenseitiges Verständnis, für ihre lakonisch fragmentierten Dialoge, für die Leichtigkeit, mit der Theresa und Josefina zwischen Sylt, Hamburg und Argentinien zunächst gemeinsame, dann getrennte Wege gehen. Vielmehr präsentieren Wittmann und Breithaupt über weite Strecken des Films Szenen von Wasser und Meer, aufgenommen während einer zweiwöchigen Schiffsreise über den Ozean: Das Meer und seine Wellen in ihren unendlichen Erscheinungsformen: stürmisch wild, friedlich, wirbelnd, aufpeitschend, im Sonnen-, Gegen- und Seitenlicht, nachts, im Nebel. Für Breithaupt war es eine grundlegende Erfahrung, nicht einen einzigen Ton vom Meer aufnehmen zu können, ohne dass die Anwesenheit von Mensch oder Schiff dabei zu spüren war. Diese Erfahrung lässt sich auf das Visuelle hochrechnen. So elementar und vorfilmisch oder sogar vormenschlich wir Meer und Wasser anzuerkennen bereit sind, so umfassend ist beides vom Menschen literarisch, physikalisch u. a. kodiert. Trotz jeder daraus abgeleiteten Darstellung haftet dem Erscheinen von Meer und Wasser die Kontingenz des Realen an – eine Qualität, wie sie wahrgenommenen Objekten prinzipiell eigen ist, insofern diese, trotz zunehmender Zeichenhaftigkeit in medialen Gesellschaften, niemals vollständig darin aufgehen.
Schnappschüsse und Erinnerung
Nachhaltig zunutze macht sich auch Richard Billingham ein solches Spannungsfeld zwischen Tatsachenerfahrung und Assoziationsraum. Als Fotograf reüssierte der in einer Arbeitersiedlung von Birmingham aufgewachsene Künstler Mitte der 1990er Jahre mit krassen Porträtaufnahmen seiner Familie. Die Bilder zeigen Ray, den durch Arbeitslosigkeit in Alkoholsucht gerutschten Vater, sowie Liz, die egozentrische Mutter, eine starke Raucherin, korpulent, mit auffallenden Tattoos. Im Zuge jenes Abbildrealismus, wie er in der Thatcher-Ära gerade hinsichtlich prekärer Lebenswelten erneut in Mode gekommen war, fanden Billinghams Schnappschüsse eines privaten, teils obszönen, teils proletarisch desolaten, teils auch warmherzigen Alltags schnell Zugang zu internationalen Sammlungen und Galerien.
Nun, 20 Jahre später, inzwischen nach Wales umgezogen und an verschiedenen englischen Universitäten lehrend, erinnert Billingham sich der Gefühls- und Verhaltensweise seiner Familie lieber mit kinematografischen Mitteln. Allerdings erscheinen Vater und Mutter im Film nicht mehr selbst wie noch auf den Fotografien, sondern von Schauspieler_innen verkörpert. Anstatt mit billigem Fotoapparat geknipst und großformatig aufpoliert, sind die neuerlich erinnerten Eltern und Familienangehörigen von einer versierten Filmkamera erzählerisch in Szene gesetzt. Auf die Differenz der beiden Sichtweisen hin angesprochen, unterscheidet Billingham sie im Grunde als zwei verschiedene Weisen der Idealisierung. So bedinge es die Dokumentarfotografie zur «richtigen» Zeit am «richtigen» Ort zu sein, wohingegen die Spielfilmproduktion Gelegenheiten böte, Erinnerungen nach eigenen Vorlieben zu rekonstruieren. Interessant ist dieser Wechsel zwischen dokumentarischem Wahrheitsanspruch und kinematografischem Subjektivismus wegen der Verbindung zwischen beidem. Legte Billingham für den Film, Ray & Liz (GB 2010) viel Wert auf authentifizierende Momente, etwa dass die Schauspieler_innen seinen echten Eltern ähnlich sehen und dass er für die Dreharbeiten ins Haus seiner Birminghamer Kindheit zurückkehren konnte, so finden sich Billinghams frühere Fotos in der Buchpublikation Ray’s a Laugh (1996) nahezu filmdramaturgisch aneinander gereiht: hier familiäre Schnappschüsse kombiniert mit Vogelbildern, wie sie einer Feldforschung zugehören könnten; dort eine Quasi-Versuchsanordnung (z.B. was passiert, wenn Richards Bruder dem schlafenden Vater in dessen offenstehenden Mund Chilipfeffer streut?). Dass jene im traditionellen Sinn dokumentarischen Fotos ihren Produzenten 20 Jahre später zu einem Kinospielfilm antreiben, verdeutlicht deren fiktionalisierende Handlungsmacht. Zusammengesehen geben Fotos und Spielfilm ein prägnantes Beispiel dafür, in welcher Weise der aufs Objekthafte zielende Dokumentarmodus entlang biografischer, historischer und geografischer Verknüpfungen in den Modus des subjektiven Erfindens und Imaginierens umschlägt.
Bevorzugte Zitationsweise
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