Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.): Expanded Senses. Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne, Bielefeld (transcript) 2015
Zeit is(s)t Raum
Kontrollgesellschaft, Sinnesarbeit und Kannibalismus
Seit 2013 lotet die Biennale des bewegten Bildes (B3) in Frankfurt / M. den Aktionsraum zeitgenössischer Bildmedien aus, und die Tendenz lautet, wie das Programmwort der bisherigen Veranstaltungsreihe unumwunden ausspricht: Expansion. Ging es im Auftaktjahr der alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung noch um Fragen erweiterter Narration,1 ist die letzte B3 mittlerweile auch in Peking und Shanghai angekommen, um in einem geografisch erweiterten Kontext nunmehr die Frage aufzuwerfen, wie sich die mediale Expansion auf Sinne, Sinn und Sinnlichkeit auswirkt.
Dieser Frage nachgehend, ist der Band Expanded Senses als wissenschaftliche Ergänzung des B3-Parcours herausgegeben worden; als ein «theoretisches Gegenstück» (10),2 das den Untertitel Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne als eine «Arbeitsformel» (11) verstanden wissen will. «Sinnesarbeit», so präzisiert Marc Ries ausgehend von Dieter Hoffmann-Axthelm,3 meint dabei eine charakteristische Zeitwahrnehmung sowie einen charakteristischen Zeitgebrauch unserer Gegenwart:
Die Zeit umgibt uns, zunächst als jenes Fluidum, das in direkter Beziehung zu unserem Körper, zur Natur steht. Das uns in der Folge aus uns heraustreten lässt in eine temporale Beziehung zu allen anderen. Also ist die ‹Offenbarung› des Zeitsinns zugleich eine Initiation in Gesellschaft, ist er Medium der Gesellschaft. […] Unsere gegenwärtige Gesellschaft lässt die Zeit für sich arbeiten, diminuiert sie zu einer Vollzugszeit von Produktivität, Leistung und ‹Selbstausarbeitung› (Talbot Brewer). Der ursprünglichen Entdeckung ihrer konstituierenden Rolle für menschliche Sinnesexistenz folgt nun ihre Instrumentalisierung als Teil umfassender Sinnesarbeit. ‹Bewegtbilder› oder ‹zeitbasierte Medien› sind zwei Begriffsformeln, die die Verkörperung der Zeit in Bildtechniken manifestieren, den Betrachter oder Benutzer dazu auffordern, sie in ihrer nunmehr anderen Medialität – nicht einer Umgebungsmedialität, sondern als formalisierte Medialitäten der Distanz – wahrzunehmen und mit ihr wertschöpfend zu arbeiten. (20 f.)
Wendet man sich von dieser Ausgangsüberlegung zunächst dem Buch selbst als Medium zu, entdeckt man rasch, dass es sich weder um einen klassischen Ausstellungskatalog, noch um einen akademischen Sammelband handelt. Schon der erste Blick offenbart eine Besonderheit seiner Handhabung: Es besitzt keine Rückseite, sondern zwei Titelseiten, eine deutsche und englische, hinter denen sich jeweils die entsprechende deutsch- und englischsprachige Version der versammelten Texte anreiht. Beide Textreihen laufen mittig auf eine Bilderstrecke zu, die buchstäblich den konzeptuellen Kern sowohl der Buchgestaltung als auch der geleisteten Theoriearbeit darstellt: Es handelt sich um Videostills von Grace Jones’ Corporate Cannibal, die auch auf dem blauen bzw. roten Titel zu sehen sind.
Welche Rolle dieser Musikclip, der hier als eine Art Daumenkino ausschnittsweise präsentiert wird, nicht nur für den Band, sondern für unsere gegenwärtig Lage in der «Spätmoderne» spielen könnte, zeigt einer der durchgehend ansprechenden bis herausragenden Beiträge. So greift der erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Text von Steven Shaviro den Titel der Arbeit auf, um mit ihm eine Generalthese zu verbinden, die repräsentativ auch für die anderen Texte gelten kann und sich folgendermaßen zusammenfassen ließe: Die Expansion des Kapitalismus habe sich mittlerweile nach innen gekehrt; innerhalb der ‹Kontrollgesellschaft›4 grassiere ein Kannibalismus des Kapitals, der bei der Sinnesarbeit seiner Opfer und Täter, seiner Prosumenten, ansetze, um Mehrwert zu schöpfen. Hierzu Shaviro über Grace Jones als singendes Digitalmodell der Corporate Cannibal:
Indem Grace Jones die Rolle eines kannibalistischen Konzerns besetzt, drückt sie eine vollständige Identifikation mit dem Kapital an sich aus. […] Jones kann das ungezügelte Kapital verkörpern, weil sie selbst zu einem elektronisch pulsierenden Signal mutiert ist. So wie die nicht mehr grundierten Gestalten im digitalen Video von indexikalischen Bezügen abgelöst sind, knüpfen sich auch die unendlich modulierbaren Kapitalströme in den Netzwerken eines weltumspannenden Kapitalismus an keine konkreten Produktionsabläufe mehr. Derartige Ströme wuchern tumorartig, werden fremdfinanziert und reinvestiert, bis sie an einer selbstverursachten Nekrose oder Implosion zugrunde gehen. Genau wie das kontinuierlich wertakkumulierende, unersättliche Kapital, das nur aus den Transformationen eigener Materialien Mehrwert generiert, verschlingt auch Jones als elektronischer Impuls alles, was sich ihr in den Weg stellt, verwandelt es in ein ‹Mehrbild›, mehr elektronisches Signal, mehr ihrer selbst. (127f.)
Hier ist auf den Punkt gebracht, wie – unter anderem im Zusammenspiel von Kapital und Kunst – Kreativität als Kapital des Kapitals zu begreifen ist. Dass diese Kreativwirtschaft im weitesten Sinne zugleich einer Form des Kannibalismus (einer ‹kreativen Selbstzerstörung› in Erweiterung Joseph Schumpeters) anheimfällt, trifft nun nicht nur auf dieses Business allein zu, sondern betrifft geradewegs den modus vivendi aller auch nur entfernt Beteiligten. Shaviro unterschiedet zwischen zwei Formen des Wandels: einerseits «Metamorphose» und «Plastizität» sowie andererseits «Modulation» und «Flexibilität» (109 ff.), die sich wie die kritische und affirmative Seite eines kapitalistischen Werdens zueinander verhalten. Zeittheoretisch reformuliert, bedeutet Letzteres eine Anpassung an einen ‹Zeitraum›, der die eigene Gestaltungsweise nicht mehr zu transzendieren, sondern nur auf flexible Weise zu replizieren oder zu ‹modulieren› vermag; wohingegen «Plastizität» und «Metamorphose» neben der Veränderung der Gestalt gleichzeitig eine Veränderung der Gestaltungsweise in Aussicht stellen. Dementsprechend folgt die bewegte Bildlichkeit von Corporate Cannibal medientechnisch einer digitalen Modulation nach vorherbestimmten Parametern, deren Set nicht überschritten, sondern nur variiert wird. Es kommt zu keinem wirklichen Wandel, der vollkommen Unerwartetes zeitigte, sondern zu Veränderungen, die lediglich eine unendliche Flexibilität an den Tagen legen, sich immer wieder auf‘s Neue anzupassen, statt den Rahmen selbst zu sprengen.
Ergänzt man diese Problematik um die Frage nach der Subjektivität dieser flexiblen Modulationen, zeigt sich die Gestalt Grace Jones auch in dieser Hinsicht als Musterbeispiel. Als postmoderne Kunstfigur hält sie zugleich eine Ambivalenz aufrecht, die postkoloniale, gendertheoretische Kritik mit popkulturellem Kommerz verbindet. Betrachtet man von hier aus die Überlegungen Hans Ulrich Recks, lässt sich feststellen, dass heute nahezu jedes medial infizierte Subjekt von dieser Ambivalenz der Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung gezeichnet ist. So heißt es in seinem Beitrag mit dem Titel Phantasiemaschinen treffend: «Subjekt ist, was auf angepasste, sozial-äquivalente Modellierung eines vordem kontingenten Selbst abzielt. Die Einpassung in den apparativen Verband des Techno-Imaginären erscheint heute als ebenso freiwilliger wie letztgültiger Horizont der Bedingung der Möglichkeit von Handeln. Maschinisch modellierte, sensuell expandierte, technisch kontrollierte Sinnentätigkeit wird zum legitimatorischen, symbolischen Kapital des Eintretens in die Anerkennung als gesellschaftsfähiges Subjekt.» (35)
Das digitale Modell des Subjekts im Wortsinne ist nicht mehr der oder die ‹Unterworfene› einer Foucault’schen Disziplinargesellschaft, sondern ein Subjekt-Objekt, dessen eigentlicher Entwurf die Selbst-Unterwerfung unter einer bereits internalisierten zwanglosen Zwang der besseren Option darstellt. Die vormalige Kontingenz dieses ‹Selbst› – weit davon entfernt, als Freiheitsperspektive auch auf die Zukunft projiziert zu werden – reizt vielmehr umgekehrt zu einer intersubjektiv noch gesteigerten Selbstversicherung im Jetzt.
Ansätze hierzu lassen sich nach Reck schon bei dem heute eher vergessenen Autor René Fülüp-Müller und seiner Analyse der amerikanischen Traumfabrik der 1930er Jahre finden. Die kollektive Techno-Imagination der Gegenwart hat die ausgearbeiteten Sinnesschemata, wie sie laut Fülüp-Müller durch das Kino und dessen Renaissance des Bildlichen hervorgebracht wurden (man denkt unvermeidlich an Aby Warburgs «Pathosformeln»), bereits gänzlich inventarisiert und hält sie zum Abruf durch User bereit, die darin nichts weniger als die Medien(gebärden)sprache ihres Austauschs bzw. ihrer Austauschbarkeit untereinander verstehen. Subjektivität in diesem Sinne entwirft sich als Geschäftsmodell, dessen modellierende bzw. modularisierende Sinnentätigkeit die höchsten Kapitalrenditen verspricht. In den kommentierenden Worten Marc Ries’: «Die Sinnestätigkeiten werden von außerhalb in eine Expansion gedrängt. Von der Unterhaltungsindustrie, der Informationsindustrie, dem Kapital.» (37f.).
Wie ließe sich dem nun – etwa durch ein «zeitgeschichtliches Zögern» (11) oder umgekehrt «Sinnlichkeitsexzesse» (38) – noch entgegenwirken, ohne lediglich eine weitere Flexibilisierung bei gleichzeitiger Anpassung an die kapitalistische Dynamik zu bewirken? Die Lage ist verzwickt, entdeckt sich doch auf dem Grund selbst einer totalen Selbstverausgabung oder Selbstbesinnung vielmehr ein Abgrund: Hieße Selbstverschwendung bis ins Letzte nicht gerade den Kannibalismus des Kapitals um die kreative Wendung einer Selbstkannibalisierung zu erweitern beziehungsweise zu steigern, während eine allzu asketische «Reflexionsruhe» und «Konzentration» (11) einem regelrechten Verhungern gleichkäme?
Einen ‹sicheren› Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Jedoch scheint die Rede von der Plastizität, die nicht nur bei Steven Shaviro auftaucht, sondern die nahezu alle Autor_innen des Bandes explizit oder implizit aufgreifen, zumindest den Weg in eine Zukunft vorzuzeichnen, die noch nicht im Voraus abgeschöpft wäre, deren ‹Kapital› also noch nicht als Derivat der Gegenwart gehandelt würde. Sei es das Phänomen der Neuroplastizität, wie es Patricia Pisters in ihrem Beitrag: Dexters plastisches Gehirn anhand der Serie Dexter herausarbeitet, zwei sonst gegensätzliche Erklärungsmodelle der Empathie, Mentalisierung und Spiegelung, geistreich verbindend; oder die komplizierte «Choreographie» (96) von Mensch und Maschine, der «Tanz des Verbindens und Trennens» zwischen «Biologik» und «Technologik», «Selbst- und Fremdbezügen», «Autonomie- und Heteronomiegraden», (97) zu dem Karin Harrasser in ihrem Text Mimikry und Berührung den Leser mit Adorno und dem Terminator auffordert, um die klassische prothetische Technikauffassung durch eine proteische zu erweitern: Die Ermöglichung des Unmöglichen, wie es Deleuze als differenter Aktualisierungsprozess des Virtuellen unter anderem für das ‹Zeit-Bild›5 beschrieben hat, scheint hier Ausgangspunkt und Ziel der Sinnesarbeit, ihr eigentliches ‹Ereignis› (um mit anderen Worten einer anderen Schule das Selbe zu sagen).6
Es geht also um die Ermöglichung eines Ereignisses, das man in den Worten Vivian Sobchacks auch unsere Erfahrung eines «kinästhetischen Subjekts» am eigenen «subversiven Leib» nennen könnte (59 ff.); unsere Erfahrung einer Form von Subjektivität, die durch mediale Expansionen und Extensionen, unsere raumzeitliche Wahrnehmung aus den Angeln hebt und uns durch das Multiversum unterschiedlichster techno-imaginärer Zeiträume schweben lässt. Als Konzept geprägt, um synästhetische und koenästhetische an kinomatografische Erfahrungen zu koppeln, weist es zugleich zurück auf die Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys, wonach ein gelebter Leib «ein durch und durch aus intersensorischen Äquivalenzen und Transpositionen bestehendes System» sei, sodass die Sinne sich in einander übersetzten, ohne eines Dolmetschers zu bedürfen (64f.). Nochmals in den Worten Sobchaks am Ende ihres fühlbar dichten Textes Was meine Finger wussten, der nun auch erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt:
Das Filmerleben – auf beiden Seiten der Leinwand – mobilisiert, verwirrt, differenziert reflektierend, doch vereint gelebten Leib und Sprache erfahrungsmäßig und rückt die Wechselseitigkeit und Umkehrbarkeit der sinnvollen Dinge und der sinnlichen Bedeutungen in den Vordergrund. […] Als kinästhetische Subjekte besitzen wir somit eine inkarnierte Intelligenz, die unsere Augen mehr sehen lässt, als das diskrete Vermögen zu sehen erlaubt; eine leibliche Intelligenz, die auch den Film öffnet, so dass er weit über die visuellen Darstellungen zwischen den Rändern der Filmleinwand hinausgeht; eine leibliche Intelligenz, die auch die Sprache für ein reflektiertes Wissen von ihren eigenen Ursprüngen und Grenzen im Fleisch öffnen. Das ist es, was meine Finger, noch vor jedem Gedanken, im Kino wissen. (82f.)
Man ist geneigt, dem nicht nur beizupflichten, sondern wie nach manchem glücklichen Kinobesuch die gemachte kinästhetische Erfahrung zwischen Leinwand und Leib auf die Welt selbst hin zu öffnen. Geht Sobchacks noch davon aus, dass ein Unterschied zwischen herkömmlich sinnlicher und kinästhetischer Erfahrung in einem «Zurückspringen» unserer Intentionalität von den Leinwandobjekten bestehe, weil diese sich dort nicht gänzlich erfüllen könne, sich stattdessen auf den eigenen Leib richten müsse und dabei das eigene Fühlen gesteigert zu fühlen bekäme (72 ff.), so meint man dagegen, diesen hyperrealistischen Effekt, diese kinästhetische Expansion unseres Realitätssinns bereits mehr und mehr zu unserem Alltag werden zu sehen.
Claire Châtelet etwa befasst sich in ihrem Beitrag Der Körper am Werk anhand von drei künstlerischen Beispielen des interaktiven Films mit Fragen des Interfaces, die den Betrachter seinerseits zum «spec-acteur» (160), gleichsam zu einem analogen Avatar oder lebendigen Interface der Filminstallationen werden lassen. Die Interaktion mit dem bewegten Bild stellt sich beispielsweise im Projekt Scenario7 so dar, dass sich der Raum des Bildes zu einem «reziproken Zeit-Raum» erweitert, der «einen produktiven Dialog zwischen Subjekt und Werk begründet» (163) und zwar indem die Zuschauer in einem 360° 3D-Kino gemeinsam mit digitalen Humanoiden eine Filmhandlung ohne Drehbuch hervorbringen.
Was hier noch in einem künstlerischen Kontext verortet wird, hat die Grenzen zum Alltag jedoch schon längst überschritten. Man kann in Anlehnung an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften mittlerweile von einem regelrechten Virtualitätssinn sprechen, wenn wir uns in größter Selbstverständlichkeit bereits allerorten auf hybriden Territorium (augmented oder virtual reality) bewegen. Einen unauslöschlichen Eindruck hiervon verschafft Pablo Abends Beitrag Die Karte als Aktionsraum, in dem die von John Brian Harley initiierte «Dekonstruktion der Karte»8 ein Update erfährt, um eine mittlerweile alltägliche Navigation durch unsere mediengestützten, digitalen Weltbilder ihrerseits kritisch zu kartografieren. Ausgehend von einer zunehmenden «Egozentrierung» des Aktionsraums im Unterschied zur herkömmlichen «Allozentrierung» (205 ff.), scheint unsere monadische Existenzweise geradezu in einer prästabilierten Harmonie mit den offenkundigen Bestrebungen zu stehen, jedes individuelle Bewegungsprofil innerhalb des «Geoweb» (210) als Data-Mining-Ressource zu bewirtschaften, die erneut eingespeist zu werden vermag. Der Eindruck verfestigt sich noch, wenn man bedenkt, dass in Zukunft das Verhältnis von Karte und Gebiet derart revolutioniert werden könnte, dass wir umgekehrt das Gebiet als Orientierungshilfe nutzen müssen, um uns durch die unendlichen Informationsschichten und -faltungen der digitalen Karten hindurch überhaupt noch einen Überblick zu verschaffen. (Einen ersten Vorgeschmack hiervon liefert Nintendos Pokemon Go.)
Wie sich diese globale Infosphäre dagegen nutzen ließe, um eine (trans-)nationale politische Öffentlichkeit zu bilden, führt Kathrin Peters anhand eines Beispiels aus, das – mittlerweile ikonisch geworden – auch den Titel ihres Beitrags vorgibt: The Women in the Blue Bra. Es geht um eine Gewalttat, die sich in Kairo während der ägyptischen Aufstände zutrug und über die Kanäle neuer Medien der Öffentlichkeit zugänglich wurde – nicht jedoch ohne eine Metamorphose zu durchlaufen, die sie zuletzt als Bildobjekt auf paradoxe Weise de- und rekontextualisiert (oder «resignifiziert» im Sinne Judith Butlers). Mag es auch zunächst so scheinen, als ob das Zeugnis der Videoaufnahme seinen indexikalischen Wert verlöre, so ist es gerade eine Wiederaneignung, die auch vor Stilisierungen nicht zurückschreckt, welche eine neue Form von Zeugenschaft anschaulich macht: Digitale Medien «erzeugen eine Verkettung von Bildern und Deutungen, die an der Herstellung von Glaubwürdigkeit und Gewissheit entscheidenden Anteil haben. […] Zeugenschaft ist somit in einen Raum der Verhandlungen verschoben, in dem Glaubwürdigkeit sowohl entsteht als auch immer bestreitbar bleibt und auch bestritten wird.» (187) – Jacques Derridas Prinzip der «differance» ebenso wie seine Heuristik der «Dekonstruktion» hat die Spur hierfür gelegt.9
Mit anderen Worten bedeutet eine Expansion auch in Fragen der Zeugenschaft nicht eine bloß quantitative Erweiterung der Zeugen und Zeugnisse, sondern unvermeidlich eine qualitative Intensivierung, die nicht mehr von vornherein als Manipulation verstanden werden muss, wenn sie mit dem Präsentismus (der Wahrheit) bricht und stattdessen Evidenz als «Ergebnis einer Interaktion verschiedenster Elemente» (187) begreiflich macht. Die Bedingungen haben sich in dem Maße gewandelt, wie auch durch Sinnesarbeit als techno-mediale Arbeit an unseren sinnlichen Registraturen und Filtern der dadurch produzierte Sinnzusammenhang ein anderer geworden ist. So sieht man sich selbst in Sachen Zeugenschaft der Situation ausgesetzt, zwischen einer Plastizität des Wahren und einer Flexibilität des Falschen bisweilen (noch) nicht recht unterscheiden zu können. Ein eindeutiges Urteil muss desto schwerer fallen und scheint höchstens einer zukünftigen Zeit vorbehalten; einer zukünftigen Zeit jedoch, die ihren eigenen Raum nicht einfach mit sich bringen, sondern der mit ihr und durch sie medial ausgestaltet werden muss – etwa durch die hier beschriebenen para-kapitalistischen Expansionen des Sinns durch die Sinne.
Mit Blick auf unsere Gegenwart dürfte die Prognose also vage bleiben, gerade weil die Diagnose eindeutig ambivalent ausfällt. Changierend wie die Persona Grace Jones’ zwischen Modulationen und wirklichen Metamorphosen, zwischen kritischer Kollaboration und affirmativen Kollaps, präsentiert sich folgerichtig auch der vorliegende Band als ganzer – und er tut gut daran. Laut den Absichtsbekundungen der Herausgeber wollte man der_dem Leser_in ein «Changieren der Stile, der Reflexionsebenen, der Stoffe ermöglichen. Das Buch also selber entgrenzen, es ‹spielbar› und also unabschließbar machen.» (12) Dies ist gelungen, nicht zuletzt durch das aussichtsreiche Unterfangen, die hier besprochenen ‹Haupttexte› mit ‹Paratexten› zu konfrontieren, die in Form je eines längeren eröffnenden Zitats und eines abschließenden, gleichsam kooperativen Kommentars von Marc Ries und Mathias Windelberg, umgesetzt als «Fortsetzungsgeschichte» (12), die Lektüre selbst zu einer Erfahrung plastischen Denkens, oder wenn man so will: ‹bewegter Bildung› werden lassen – und zwar auf der Grenze zwischen Buch und Film.
Wie wirkt sich also die mediale Expansion auf Sinne, Sinn und Sinnlichkeit innerhalb der Spätmoderne aus? – Blättert man nochmals an den Anfang – mit Grace Jones’ Corporate Cannibal im Ohr und vor dem inneren Auge – stößt man auf ein Zitat Vladimir Nabokovs: «Anfangs merkte ich nicht, daß die Zeit, die auf den ersten Blick so grenzenlos scheint, ein Gefängnis ist.» (7)
… lost in the cell, in this hell / slave to the rhythm of the corporate prison / I’m a man-eating machine …
Vielleicht besteht eine Antwort in dem Paradox, dass eine fortwährende Expansion des Kapitals zuletzt sich selbst fressen muss, um eine neue Gestalt der Gestaltung in Zeit und Raum hervorzubringen. Und vielleicht geschieht dies auch schon längst: I’m a man-eating machine.
- 1 Siehe Bernd Kracke, Marc Ries: Expanded Narration. Das Neue Erzählen, Bielefeld 2013.
- 2 Hier und im Folgenden nach der deutschen Version zitiert.
- 3 Siehe Dieter Hoffmann-Axthelm: Sinnesarbeit. Nachdenken über Wahrnehmung, Frankfurt / M. 1984.
- 4 Siehe Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft, in: ders.: Unterhandlungen. 1972–1990, Frankfurt / M. 1993, 254–262.
- 5 Siehe Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt / M. 1996.
- 6So etwa die Heidegger-Erben Jacques Derrida und Alain Badiou.
- 7Involviert waren der Schriftsteller Stephen Sewell, der Informatiker Maurice Pagnucco und das multidisziplinäre Team des iCinema Centre for Interactive Cinema Research an der University of New South Wales.
- 8 Siehe John Brian Harley: Deconstructing the Map, in: Cartographica, Vol. 26, Nr. 2, 1989, 1–20.
- 9 Siehe z. B. Jacques Derrida: Die différance, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, 31–56.
Bevorzugte Zitationsweise
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