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Graue Wolken
Onlinebesprechung

Was ist Magie? «Reale Magie» gibt (nicht nur) Hinweise

Eine Rezension von Konstanze Hanitzsch

1.3.2018

Was ist Magie? Das Buch Reale Magie, entstanden aus Vorträgen des vierten Jahresprogramms des cx centrum für interdisziplinäre Studien an der Akademie der Künste München, gibt (inter-)disziplinäre kritische Antworten auf diese Frage. Dabei ist es kein Zauberlehrbuch, sondern beschäftigt sich vielmehr u.a. damit, worin die Unterschiede zwischen ‹realer› Magie, Zauberei, Illusion, Trickserei, Schamanismus, Techno-Schamanismus, Voodoo und Okkultismus bestehen und welche Gemeinsamkeiten existieren. Dabei ist es kein eindeutig chronologisches Buch, keine Geschichte der Magie (vgl. hierzu Bernd-Christian Otto, Magie. Rezeptions- und Diskursgeschichtliche Analysen von der Antike bis zur Neuzeit, 2011). Zentral ist die Feststellung, dass Magie in akademisch-wissenschaftlichen Bereich intensiv diskutiert wird. Das Buch untersucht die Realität des Magischen in den zeitgenössischen Künsten, den Wissenschaften und der Alltagskultur.

Und weshalb eine Rezension für den Genderblog der zfm? Weil die Schnittstelle zwischen Materialität und Geist, zwischen Natur und Kultur, zwischen Glaube und Wissenschaft eine ist, an der kritische Gender Studies immer ansetz(t)en. Aktuell zeigt sich dies an den Auseinandersetzungen um den sogenannten «neuen» (feministischen) Materialismus, deren Hauptthemen – vor allem die Debatte um die Frage einer neuen Ontologie des Materiellen (wie sie Katharina Hoppe 2017 in der Auseinandersetzung mit Perspektiven des neomaterialistischen Feminismus darlegt, vgl. Löw, Vol, Leicht, Meisterhans, 2017, S. 35-50) – das Buch Reale Magie durchziehen.

Die Beiträge des Buches sind einzelne Auseinandersetzungen von Künstler_innen, über Kunstwerke und Künstler_innen, mit ethnologischen oder epistemologischen, kultur-, literatur-, sozial- und (kunst-)historischen Fragestellungen. Viele der Autor_innen sind sowohl in der universitären Wissenschaftslandschaft als auch in der künstlerischen verankert. Gespräche z. T. zwischen den beitragenden Autor_innen/Künstler_innen und mit dem Publikum – moderiert von Susanne Witzgall und Kerstin Stakemeier – sind ebenso Teil des reich illustrierten Buches.

Das Thema hat Konjunktur. Nicht nur werden Hexen bei Fox interviewt (vgl. z.B. ZfM/Formen der Magie in Zeiten des realen Schreckens), auch in vielen unterschiedlichen Feldern der Wissenschaft und der Kunst wird sich vermehrt mit Magie auseinandergesetzt. Oder auch einer verwandten ‹Kategorie› (wenn man so will), der Alchemie. 2017 fand im Kulturforum Berlin die Ausstellung Alchemie. Die große Kunst statt.

Ebenfalls 2017 ist die vierte (neu überarbeitete deutsche) Auflage von Silvia Federicis Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation erschienen (Erstausgabe 2004). In diesem Buch geht Silvia Federici dem Zusammenhang von Kolonialismus und Hexenverfolgung und dem damit verbundenen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nach.

Ebenso erschien 2017 der Katalog zur Ausstellung Die Beschwörung der beunruhigenden Muse. Von Göttlichem, Supra-Realitäten oder der Austreibung von HEXEREI des SAVVY Contemporary. The Laboratory of Form-Ideas stellt dem Katalog Folgendes voran, um die großgeschriebene HEXEREI zu erläutern:

«Der Ausdruck HEXEREI ist eine beleidigende Verallgemeinerung einer Vielzahl an Praktiken, die weit in die Bereiche der Epistemologie, Metaphysik, Technologie und Kultur hineinreichen. Dieses Projekt macht sich den Begriff zu eigen, indem es das verkompliziert wofür er stehen sollte, also für prophetische, medizinische und magische Praktiken sowie weitere Ausübungen, die sich im Übernatürlichen, Okkulten, Schamanischen, Spirituellen und in anderen Sammelbegriffen zeigen, die von Religionsgelehrten und EthnologInnen festgelegt wurden, denen die Gründe und Prinzipien solcher Phänomene gar nicht begreiflich sind. Hier wird der Begriff trotz oder gerade wegen seiner Konnotationen verwendet, um die Praktiken von diesem Begriff zu befreien und damit auch vom SAVAGE SLOT (Barbaren-Nische), in die er gedrängt wurde» (Die Beschwörung der beunruhigenden Muse, SAVVY, 2017, S. 006). In der Ausstellung, den diese begleitenden Performances und im daraus entstandenen Katalog geht es um afrikanische Formen der Magie und Hexerei aus einer postkolonialen Perspektive.

Andere Veröffentlichungen, wie die des objektorientierten Philosophen Timothy Morton (Humankind. Solidarity with nonhuman people 2017) weisen eine theoretische und kapitalismuskritische Perspektive auf, die sich Ideen oder Formen von Magie zuwenden.

Das Buch Reale Magie enthält 22 Beiträge. In einer einleitenden Annäherung erläutert Susanne Witzgall das Anliegen des Buches. Dabei bettet sie das Thema in aktuelle wissenschaftliche und künstlerische Projekte ein und verweist z.B. auf die derzeit arbeitende DFG Forschergruppe Gesellschaftliche Innovation durch nichthegemoniale› Wissensproduktion.

Witzgall stellt heraus, dass Magie zumeist abwertend und als fremdreferentieller Magiediskurs im westlichen Denken aufgegriffen wird. Bezug nehmend auf Christopher Lehrich (2007) erläutert sie, dass sich «die Magie durch eine endlos heimsuchende, nie komplett definitive oder vollständig signifizierbare Qualität, eine Qualität des Differierenden und Unterschiedlichen» (S. 16) auszeichnet. Das Wesen der Magie sei mit dem différance-Begriff von Derrida am ehesten erklärt, d.h. mit der Qualität der Abweichung, Verschiebung und des Unterscheidens. Die primäre Denkfigur der Magie sei die Idee, dass die Magie eine «Form einer vorgängigen unreduzierbaren Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem» sei (S. 16). Nicht nur hier bewegt sich Witzgall auf hohem theoretischen Niveau: Das Buch setzt insgesamt ein Grundwissen um die derzeitigen Diskussionen an der Wende vom Poststrukturalismus zum ‹neuen› (feministischen) Materialismus nahezu voraus. Oder sagen wir: Wer sich mit den aktuellen theoretischen Diskussionen um Materialität und Poststrukturalismus auskennt, ist bei der Lektüre klar im Vorteil und entdeckt mit jedem Beitrag Schatz um Schatz – rare Diskussionsbeiträge, letztendlich im Ringen um die Möglichkeit von Erkenntnis – und die Verbesserung der Welt. In ihrem eigenen Beitrag, den ich weiter unten besprechen werde, schreibt Witzgall u.a., dass «das Magische im Neuen Materialismus residiert» (S. 24).

Witzgall fasst die Bandbeiträge einleitend zusammen: Magie offenbare sich als «kognitive und/oder körperliche Praxis, die auf differentiellen, trickreichen, sich teilweise selbst unterlaufenden, nicht-eigentlichen und simulativ-mimetischen, auf integratives und assoziatives Denken und Wahrnehmen ausgerichteten Wegen versucht, Zugang zu verborgenem und nicht benennbaren Dimensionen der Wirklichkeit zu erlangen» (S. 17).

Wichtig für alle Beiträge des Buches sind vor allem drei Aspekte. Erstens werden magische Praktiken in Anlehnung an Federicis Caliban und die Hexe als sich dem Kapitalismus widersetzende widerständige Praktiken verstanden. Zweitens wird – vor allem in dem Beitrag von Verena Kuni – die Gefahr bzw. die Kehrseite des Okkultismus u.a. anhand der Bezugnahme auf Adornos Thesen gegen den Okkultismus (1951) in die neueren Betrachtungen der Magie mit einbezogen. Und Drittens solle sich ein magisches Wissen wieder angeeignet werden (vgl. insbesondere den Beitrag von Susan Greenwood).

Der erste Beitrag stammt von Carl Abrahamsson (Autor und «occult entrepreneur»). Er macht in diesem die Geschichte des Okkultismus oder auch Esoterik zu seinem Gegenstand; hierzu geht er zurück bis zu den Tempelrittern und endet bei der modernen Quantenphysik. Interessant ist vor allem, dass Magie und Wissenschaft in einer elliptischen Verknüpfung (immer wieder) miteinander in Beziehung stehen. Im Anschluss an diesen Beitrag folgt ein Gespräch mit Carl Abrahamsson und Genesis Breyer P-Orridge (Poetin, Musikerin, Performance-Künstlerin und Okkultistin), in dem sie darlegen, dass sie u.a. nach einer Art «Mutterglaube» bzw. «Muttergeschichte» (S. 46) suchen: denn in jedem Glaubenssystem gebe es kleine Bestandteile, «die identisch sind, und je älter diese Systeme sind und je weiter sie zurückreichen, desto ähnlicher werden sie im Hinblick auf ihre Techniken und rituellen Ausdrucksweisen.»

Auf dieses Gespräch folgt ein Beitrag zu Produktionsmusik, d.h. zu Musik, die nie zur Veröffentlichung bestimmt war: Zufall und die Entdeckung echter Magie von Demdike Stare.

Im Beitrag von Susan Greenwood (Anthropologin, Autorin und Dozentin für magisches Bewusstsein) definiert diese magisches Bewusstsein als «eine subjektive, sinnliche Wahrnehmung, die innerhalb der Vorstellungskraft stattfindet, in einem ‹unheimlichen› Raum oder ‹Zwischenraum› des Geistes» (S. 64). Im weiteren Verlauf ihres Beitrags bezieht sie sich stark auf den Neurowissenschaftler Erik Goodwyn.

Mit dem Beitrag On Magic von Christoph Keller, der diese schwarzen Seiten mit silbrig weißer Schrift mit Illustrationen versehen hat, öffnen sich den Lesenden magische Seiten: Sie zeigen vor allem die zwischen 1586 und 1591 von Giordano Bruno unter dem lateinischen Titel De Magia verfassten Definitionen der Magie, die erst 1891 veröffentlicht wurden. Hier werden sozusagen Aspekte der Magie aufgerufen: Magie als Weisheit, Magie und/als Medizin/Chemie, als Gaukelei, als Magie des Natürlichen, d. h. als Geist und Seele der Dinge, als mathematische Magie, Okkulte Philosophie, metaphysische Magie, in der Dämonen angerufen werden, als Totenbeschwörung, als Zauber/Vodoo und als Wahrsagerei.

In einem anschließenden Text findet sich ein Gespräch zwischen Susan Greenwood und Christoph Keller, in dem die Verbindung zwischen Geist und Körper im Vordergrund steht.

Mariechen Danz’ künstlerische Arbeit Of Scream of Stone (Womb Tomb) ist Thema des nächsten Beitrags, verfasst von der Künstlerin selbst. Er beginnt mit einer Textpassage aus der Performance Of Scream of Stone, die mit den Worten endet: «no one ever says here I am and I brought my body with me» (abgewandeltes Zitat von Alfred North Whitehead 1968). Danz beschreibt hier ein Kunstprojekt, in dem sie mit Klang, Stimme, Sprache und Körper experimentierte.

Hatten hier die Lesenden die Möglichkeit, anhand der plastischen Beschreibungen von Danz‘ und den Abbildungen ihrer Performance dem Versuch einer Überwindung von Körperlichkeit nahezu beizuwohnen, rückt der nächste Beitrag eher die Zuschauenden wieder in den Mittelpunkt. Verena Kunis Beitrag – F.I.R.E (Walk with me). Kunst und/als reale Magie – widmet sich dem Phänomen Magie als Bühnenkunst, d. h. als Mittel und Werkzeug der Täuschung bzw. der Faszination. Das lateinische fascinare, zu Deutsch «verhexen» bzw. «behexen», wie Kuni schreibt, verweise auch auf die Macht desjenigen, der die Faszination ausüben könne. Hier legt sie den Fokus auf das Faszinosum der Magie als Geheimnis. Derjenige, der die Magie ausübt, erscheint als im Besitz dieses geheimen Wissens. Dabei geht die Autorin auch auf die Gefahren des Okkultismus, seine völkische/nationalsozialistisch/faschistische Ebene, ein. Kuni bezieht sich in ihrem Artikel vor allem auf den Film, u.a. auf Orson Welles F for Fake (1975), aber auch David Lynchs Twin Peaks (1990).

Der nächste Beitrag entführt uns dann in die Pflanzenwelt von Melanie Bonajo, die in diesem (be)schreibt, Wie Pflanzen uns mit einem Zauber belegen (S. 122). Dabei geht sie auch auf die Wirkkraft von Ayahuasca (d.h. die «Seelenranke»), einer pflanzlichen Droge ein. Bonajo beschreibt Magie als das «Erwachen eines weiteren Sinnesorgans» (S. 125) und verlagert dabei das metaphysische der Magie in eine körperliche (oder pflanzliche?) Veränderung.

Weitergeführt wird der Sammelband sodann mit einem Artikel zu den/von den Projektklassen von Melanie Bonaja und Mariechen Danz.

Michael Taussig (der Theorie, Film und Magie am Department für Anthropologie der Columbia Universität, New York unterrichtet) schreibt darauf folgend über die Palmölplantagen in Kolumbien, die den größten Anteil des grünen Treibstoffs für den europäischen Diesel liefern. Seine Beschreibung ist eine ethnographische Studie magisch anmutender Schlachtungen, die wie Rituale vollzogen werden und inmitten dieser Palmölplantagen, den Alltag der dortigen Bevölkerung wiederspiegeln. Am Ende dieser Ausführungen schreibt er selbstkritisch: «Diese Formulierungen von mir sind zweifelsohne pathetisch und überspannt, aber das ist auch der globale Kapitalismus, diese andere Form der Magie» (S. 151).

Annika Lundgren bringt hinwiederum eine andere Perspektive in die Diskussion des Bandes ein. In  Strategien der Magie beschreibt sie ein Performanceprojekt, das sich der Zauberei im Sinne der Trickserei widmet. «Als jemand, der viele Talente besitzt, manipuliert [der Zauberer] die Elemente der Natur, die Regeln der Gesellschaft und die Steuergesetze» (S. 157). Sie beschreibt hier dieses Performance-Projekt Strategies of magic als «eine laufende Performance-Serie, in der das Konzept der Magie benutzt wird, um das Wesen der politischen Arbeit zu thematisieren, und die sich mit dem Verhältnis zwischen Zauberei und Magie befasst» (S. 162).

Susanne Witzgall wiederum untersucht in ihrem Artikel Anrufungen der Materie – Zeitgenössische Kunst und der Neue Materialismus als magisches Diagramm die Wirkweise von Gilles Deleuze und Felix Guattaris Idee des Diagramms in Zusammenhang mit dem neuen Materialismus. Dabei nimmt sie Bezug auf den Roman Cyclonopedia: Complicity with Anonymous Materials (2008) von Reza Negarestani. Das Diagramm sei nach Deleuze/Guattari zu betrachten «als Werkzeug der Transformation, als Bewegungskarte, die Prozesse in Gang setzt, Beziehungen stiftet, um ‚einen neuen Typus von Realität, ein neues Modell von Wahrheit‘ (Deleuze, 1987, S. 54) erzeugt« (S. 163f.). Im Folgenden bezieht sie sich auf den neuen Materialismus und den spekulativen Realismus und zwei ihrer jeweiligen Vertreter_innen – Jane Bennett und Isabell Stengers –, denn beides biete Raum für Magie und Okkultes.

In Bezug auf Bennett schreibt Witzgall, dass Magie bzw. die Verzauberung der materiellen Welt «einerseits in der wundersamen Dynamik der Materie selbst sowie andererseits in den nicht weniger verzaubernden Zwischenzuständen» (S. 166) vorhanden sei. Übertragen auf aktuelle zeitgenössische Kunst zeichnet Witzgall die dortigen Bezüge auf neuen Materialismus, nichtmoderne und animistische Konzepte, Magie bzw. Okkultismus nach. Dabei bleibt vielleicht die Bezeichnung Food for the Moon (der Titel einer künstlerischen Arbeit von Lea Porsager und der in dieser Installation enthaltene ‹Schneckenokkultismus›) am meisten im Gedächtnis. Leitmotivisch durchziehen die Themen des Romans Cyclonopedia diese künstlerischen Betrachtungen und werden rückgebunden an aktuelle Theorien, u.a. an die Ausführungen von Karen Barad in einem Aufsatz über Quantenphysik und den «queeren» Gehalt kleinster Teilchen (2014). Ausgehend von quantentheoretischen Konzepten zum Aufbau und Verhalten physikalischer Teilchen zeichnet Barad hier nach, dass Unbestimmtheit, Queerness und nichtmenschliche Alteritäten im Kern der Materie angesiedelt sind. Witzgall verbindet am Ende ihres Artikels unter der Überschrift «Neomaterialistisches Diagramm und das widerständige Denken der Hexen» (S. 177) erneut Magie und neuen Materialismus. Hier geht sie auf das Buch Capitalist Sorcery von Isabelle Stengers und Philippe Pignarre ein (2011), in dem magische Praktiken als widerständige Formen und als Ausweg aus einer unbewussten Versklavung dargestellt werden; sozusagen als Gegenzauber gegen kapitalistische Vereinnahmung.

Marco Parsi beschreibt in seinem Artikel Die Macht der Magie, die Magie der Macht, sich auf Foucault beziehend, Magie als eine «Technologie des Selbst» (S.179): als «eine Form der Selbstdisziplinierung, die uns in Hinblick auf ein höheres Ziel bilden, verwandeln und reinigen soll. […] Als eine transformative Erfahrung und eine Erkundung des Selbst nehme die Magie beispielsweise die Entwicklung der Psychoanalyse vorweg und begleitete sie» (S. 181).

In einem anschließenden dargelegten Gespräch mit Parsi wird vor allem das Verhältnis von Staat und Magie diskutiert, u.a. indem auf Aleister Crowley, Adolf Hitler, George W. Bush (der Mitglied der Geheimgesellschaft Skull and Bones ist) eingegangen wird.

Ein ästhetisches Glanzlicht stellt dann der Beitrag von Kadri Mälk dar: Ihre künstlerischen Schmuckarbeiten tragen Titel wie z.B. Engel in Verwirrung oder Irrer Wolf mit riesigen roten Augen. Ihr künstlerisches Essay setzt sich mit Magie, Liebe und Angst bei der Erschaffung von Kunst und Schmuck auseinander.

Es folgt eine Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Voodoo und Trance anhand eines in Haiti eingerichteten Museum of Trance. Mariette Kesting zeichnet hier anhand dieser künstlerischen Intervention das Phänomen Trance nach und geht (u.a. in Bezug auf Rainald Goetz) der Faszination von Trance in Deutschland nach und dem Versuch, die Spuren von Trance zurück zum Voodoo und nach Haiti zurückzuverfolgen, wie Henrike Naumann und Bastian Hagedorn dies in ihrem Projekt The Museum of Trance in Haiti taten.

Die Geschäftsrhetorik großer Konzerne, wie beispielsweise Apple, die Magie durch Design betreiben bzw. den Technologien magische Eigenschaften zuschreiben, wird in dem Beitrag von Jussi Parikka kritisch nachgegangen. Hier wird Magie als «eine Vielfalt von Kulturtechniken [beschrieben], die den Raum bearbeiten und ihn durchschneiden, das Sehen und die Sinne organisieren, die Welt in Objekte der Aufmerksamkeit und in Verborgenes einteilen. Sie ist eine ästhetische Operation, doch sie ist auch mit einer eindeutigen ontologischen Kraft ausgestattet und in Machtbeziehungen verflochten» (S. 214).

Wenn Geschäftskonzerne den Magiebegriff als Metapher für «anstrengungslosen Erfolg» (S. 222) verwenden, machen sie damit die Arbeit, die in den neuen Technologien steckt unsichtbar (dies war ein präsentes Thema in der oben zu Beginn erwähnten Ausstellung des SAVVY, in der sich eine Arbeit explizit den technologischen Müllhalden in afrikanischen Ländern widmete, um die Diskrepanz zwischen als magisch wahrgenommenen neuen Technologien und dem Preis ihrer Herstellung zu zeigen).

Der Finanzjargon Unicorn («Software-Start-ups, die mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden», S. 218) oder auch Decacorn («Zehnhörnern», «die die 10-Milliarden-Dollar-Marke reißen», ebd.) verwischt die Linien zwischen unschuldiger Fantasiewelt und der Faszination und Macht des Geldes. Bezug nehmend auf die Enzyklopädie von Diderot aus dem Jahr 1765 und der Definition von Magie als der okkulten «Kunst oder Wissenschaft, die uns Dinge tun lehrt, welche die menschlichen Praktiken übersteigen» (1765, S. 852) stellt Parikka fest: «Die Art und Weise, wie ein Großteil des Kapitalismus funktioniert, übersteigt sowieso die menschlichen Kräfte» (S. 218).

Jeremy Wade (Performancekünstler) beschreibt in seinem Beitrag die Idee des Techno-Schamanismus, an dem er gemeinsam mit Johannes Paul Raether und Joshua Lubin Levy arbeitet(e). In seiner Arbeit bezieht er sich explizit auf queer/feministische Theoriebildung (Haraway, Octavia E. Butler, Preciado, Barad und José Esteban Munoz). Er sieht den Körper als nichtnatürlich an. Den Schamanen beschreibt er als «eine Figur, die auf eine verzauberte Welt verweist, sowie [als einen] konstruierte[n] Sündenbock, der von den globalen Kräften des Kapitalismus dazu benutzt wird, Formen des antikapitalistischen Widerstands zu stigmatisieren und zu unterdrücken» (S. 227).

In dem anschließenden Gesprächsbeitrag (von Jussi Parikka und Jeremy Wade) sagt Wade: «Wenn wir über Magie sprechen, denke ich an eine Art neurologische Nano-Bessesenheit» (S. 231).

Dies ist eine interessante Überleitung zum folgenden Beitrag von Karianne Fogelberg zur Ver- und Entzauberung durch Design, in dem sie sich mit dem Start Up Projekt Magic Leap beschäftigt, das es Menschen ermöglichen soll, sich in lebensechten Bilderwelten zu bewegen, mit denen interagiert werden kann. Der Aufsatz ermittelt, «warum sich gerade komplexe digitale Technologien so wirksam als Magie konstruieren lassen und inwieweit diese Konstruktionen auch im Design begründet sind» (S. 240). Dabei erscheinen vor allem die am Ende ausgeführten Beispiele vom Eigenleben der Technik, von Fehlern, sogenannten Glitches, sowie das Kunstwerk Placebo Project von 2001 als interessante weiterführende Ideengeber für weitere Projekte. Dass elektrische Dinge, «ihre Gedanken schweifen» (S. 249) lassen – ist das beruhigender oder beängstigender als zu sagen, sie sondern Strahlung ab?

Reale Magie ist ein unheimlich dicht geschriebener Sammelband, eine Fundgrube für Wissenschaftler_innen/Künstler_innen, die sich mit dem neuen Materialismus auseinandersetzen möchten, für Personen, die eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Magie suchen, und nebenbei noch ein wunderbar gestaltetes Buch.

Bevorzugte Zitationsweise

Hanitzsch, Konstanze: Was ist Magie? «Reale Magie» gibt (nicht nur) Hinweise. Eine Rezension von Konstanze Hanitzsch. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/was-ist-magie-reale-magie-gibt-nicht-nur-hinweise.

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