
© Oswald Iten
Erlebte Intensität
Die Rampe
In diesem Videoessay untersuche ich ein simples Stilmittel, das in audiovisuellen Medien oft unbewusst auf uns einwirkt: eine kontinuierliche akustische Intensitätssteigerung, die plötzlich abbricht. Der Eindruck von zunehmender Intensität wird dabei mit Hilfe von Lautstärke, Tonhöhe oder Tempo erzeugt. Bei Musikproduktionen spricht man in der Regel von einem Riser. Da mich aber sowohl der kontinuierliche Anstieg als auch der abrupte Abfall der damit einhergehenden Spannung interessieren, bevorzuge ich den visuell inspirierten Begriff «Rampe» («ramp»).
Obwohl eine Rampe in der Lage ist, auf rein musikalischer Ebene affektive Spannung und Entspannung zu erzeugen, hängt ihre spezifische Wirkung im jeweiligen Film von der Interaktion mit narrativen und visuellen Elementen ab. Rampen tauchen häufig in Szenen auf, in denen Figuren aufwachen, entweder buchstäblich aus einem Traum oder metaphorisch aus einer Geistesabwesenheit. Zunächst erzeugt die Rampe eine Antizipation jenes Moments, in dem die Figur aufwacht. Wenn die Intensitätszunahme mit dem Moment des Aufwachens zusammenfällt, fällt auch das Gefühl der Anspannung schlagartig weg. So vermittelt die Rampe die subjektive Erfahrung einer Figur, die aus einem veränderten Bewusstseinszustand gerissen wird.
Darüber hinaus untersucht das Video «Experiential Intensity: The Ramp» auch, wie eine Rampe ein metaphorisches Erwachen für uns als Zuschauer auslösen kann. In den folgenden Abschnitten werde ich einige der theoretischen Konzepte einordnen, auf die ich mich in meiner videografischen Analyse beziehe.
Erlebte Intensität
In den letzten Jahrzehnten wurde die emotionale Wirkung von Musik in audiovisuellen Medien gerne gemäss Michel Chions Konzept von empathischem und anempathischem Ton kategorisiert.1 Während empathische Musik in die gleiche emotionale Richtung weist wie die von ihr begleiteten Handlungen und Bilder, wird anempathische Musik als unabhängig vom emotionalen Zustand einer Figur wahrgenommen. Jenachdem kann ein solch gleichgültiger oder ironischer Musikeinsatz die affektive Bindung des Rezipienten an eine Figur sogar noch erhöhen.
Bestimmte Aspekte der gegenwärtigen Vertonungspraxis lassen sich jedoch in keine dieser beiden Kategorien einordnen, insbesondere wenn es sich um Musik handelt, bei der die emotionalisierende Wirkung der westlichen Tonalität im Hintergrund steht. In einer Studie zur Gewalt in zeitgenössischen Bildschirmmedien stellt Lisa Coulthard fest, dass affektive Intensitäten mit Hilfe der Tonspur die subjektive Erfahrung in den Vordergrund stellen. Dadurch lässt uns der Filmton die Wirkung von Gewalt ganz direkt erleben, anstatt Empathie für eine Figur zu vermitteln.2
In meiner Untersuchung zeitgenössischer Filme, die aus der subjektiven Perspektive einer Figur erzählt werden, habe ich festgestellt, dass affektive Intensitäten die Vermittlung subjektiver Erfahrung auch über Gewaltszenen hinaus bestimmen. Beeinflusst von Avantgarde, Minimal Music und digitalen Automationsprozessen sind beispielsweise musikalische Gesten wie Crescendi, Glissandi, Accelerandi oder Klangfarbenmodulationen zu entscheidenden Stilmitteln immersiver Spielfilme geworden. In Anlehnung an Danijela Kulezic-Wilsons Argument, dass Sound Design die neue Filmmusik sei,3 betrachte ich diese Stilmittel hier als musikalische Gesten, unabhängig davon, ob sie ihren Ursprung in diegetischen oder nicht-diegetischen Geräuschen, Sprache oder Musik haben.
Anspannung und Entspannung
Doch was genau bedeutet «affektiv» im Kontext des Erlebens von akustischer Intensität? In Anlehnung an Brian Massumi4 definiert Eric Shouse «Affekt» als eine unbewusste «vorpersönliche Intensität, die dem Übergang von einem Erfahrungszustand des Körpers in einen anderen entspricht» (2005).5 Dieser Zustand wird in der Regel anhand von Erregung und Valenz beschrieben.6 David Huron fügt hinzu, dass Aufmerksamkeit zudem ein entscheidender Modulator von affektiven Reaktionen ist. In «Sweet Anticipation»7 stützt sich der kanadische Musikwissenschaftler auf die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, um zu untersuchen, wie Erwartungen unser Musikerlebnis prägen. Ausgehend von einer Reihe interagierender physiologischer und kognitiver Reaktionen entwickelt er eine allgemeine psychologische Erwartungstheorie, die nicht nur die Freude am Musikhören erklären soll, sondern auch einen Fokus auf Spannung und Entspannung legt.
Was Hurons theoretisches Bezugssystem für die Filmtonforschung besonders attraktiv macht, ist die Tatsache, dass es versucht, das «Stream-of-Consciousness-Hören» zu erklären, d.h. Situationen, in denen Rezipient:innen «ihre Aufmerksamkeit nicht zwingend auf die Musik richten oder sich des Musikhörens nicht einmal bewusst sind».8 Und obwohl sich der größte Teil des Buches mit den von westlicher Tonalität bestimmten Erwartungen befasst, gelten die Grundannahmen für alle Arten von Sound (und narrativen Ereignissen).
Dies ist entscheidend, denn die hier untersuchten musikalischen Gesten sind nicht melodisch, manchmal nicht einmal tonal, sondern beruhen auf kontinuierlichen Veränderungen von Lautstärke, Tonhöhe, Tempo und/oder Klangfarbe. Da kontinuierliche Veränderungen intuitiv als instabil wahrgenommen werden, erzeugen sie potenziell Stressreaktionen, «weil unser Gehirn und unser Körper nicht wissen, wann die Veränderung aufhört».9
Vorhersage und Reaktion
Die Wirkung dieser Gesten analysiere ich mit Hilfe von David Hurons prediction, tension und reaction responses. Diese «Antworten» sind Teil eines Modells, das die körpereigene Regulierung des Erregungs- und Aufmerksamkeitsniveaus widerspiegelt, welches notwendig ist, um auf ein erwartetes oder unerwartetes Ereignis zu reagieren. Alle drei beschreiben schnelle, unbewusste Reaktionen, die das Denken umgehen.
Die Spannungsantwort (tension response) erhöht unsere Erregung und Aufmerksamkeit in Vorbereitung auf ein erwartetes Ereignis. Bei Ungewissheit über das Was, Wann oder Wo des Ereignisausgangs muss die körperliche Anspannung manchmal über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Je länger ein Ergebnis hinausgezögert wird, desto stärker wird die Stressreaktion.10 Selbst wenn keine narrative Spannung vorhanden ist, löst eine zunehmende Intensität der Tonspur ähnliche physiologische Reaktionen aus, die wir als affektive Spannungszustände wahrnehmen.
Der Ereignisausgang selbst löst eine Vorhersageantwort (prediction response) aus. Dabei wird die unbewusste Vorhersage bewertet, was eine positive oder negative emotionale Reaktion zur Folge hat. Gleichzeitig bewertet eine unmittelbare Reaktionsantwort (reaction response) die Situation mit derselben körperlichen Reaktion, die auch von Überraschungen jeglicher Art ausgelöst wird. Je weniger ein Ergebnis erwartet wird, desto stärker ist die negative Reaktion. Unser Körper geht dabei von Natur aus immer vom schlimmsten anzunehmenden Szenario aus.11 Zudem ist die Reaktionsantwort immun gegen Habituation, weil sie in der Realität «zuverlässig eintreten muss, auch wenn es sich grossmehrheitlich um Fehlalarme handelt».12
Kognitive Bewertung
Huron zufolge werden negative Reaktionen jedoch häufig «durch einen langsameren, genaueren Beurteilungsprozess gehemmt oder unterdrückt».13 Ob die Zeit ausreicht, damit diese kognitive Bewertung eine bleibende Wirkung auf das Publikum hat, hängt wohl auch davon ab, ob ein Score uns ständig affektiv überwältigt, oder ob er zulässt, dass wir uns aktiv mit der Erzählung auseinandersetzen, wie die Gegenüberstellung einer Szene aus How To Have Sex (Molly Manning Walker, 2023) mit dem Trailer desselben Films im Videoessay veranschaulicht.
Die Rampe eignet sich besonders gut für affektive Übertreibungen ohne erzählerischen Rückhalt. Denn musikalisch ausgelöste Beklemmung löst Stress aus und die daraus resultierende «Suche nach Stressabbau absorbiert alle kognitiven Kapazitäten»14 und verhindert eine klare Einschätzung der Situation. In audiovisuellen Medien stehen akustische, visuelle und narrative Spannungen und Erwartungen meist in Wechselwirkung. Dies kann auch beeinflussen, welcher Teil einer Rampe stärker wirkt: die Intensivierung, die unseren Fokus verengt, oder die plötzliche Unterbrechung, die ihn im Nachhinein öffnet. Beides kann zu einem gelungenen Filmerlebnis führen. Doch nur letzteres ist in der Lage, das Publikum zu aktivieren.
In diesem Sinne mag mein audiovisueller Essay die Rezipient:innen zwar mit einer exzessiven Häufung von intensivierenden Rampen überwältigen. Doch indem ich dieses Stilmittel der affektiven Tongestaltung in den Vordergrund stelle, versuche ich, seine Allgegenwart in der zeitgenössischen Medienwelt aufzuzeigen.
[Alle Zitate sind eigene Übersetzungen des Autors aus dem Englischen.]
- 1
Michel Chion: Audio-Vision: Sound on Screen, New York 2019 [1994], 8.
- 2
Lisa Coulthard: Affect, Intensities, and Empathy: Sound and Contemporary Screen Violence, in: Miguel Mera, Ronald Sadoff und Ben Winters (Hg.): The Routledge Companion to Screen Music and Sound, New York/London, 2017, 50-60, 58.
- 3
Danijela Kulezic-Wilson: Sound Design is the New Score: Theory, Aesthetics, and Erotics of the Integrated Soundtrack, Oxford 2020.
- 4
Brian Massumi: Notes on the Translation and Acknowledgements, in: Gilles Deleuze und Felix Guattari: A Thousand Plateaus, Minneapolis 1987.
- 5
Eric Shouse: Feeling, Emotion, Affect, in: M/C Journal, Jg. 8, Nr. 6, 2005, http://journal.media-culture.org.au/0512/03-shouse.php.
- 6
Vgl. J.A. Russell und L.F. Barrett: Core Affect, Prototypical Emotional Episodes, and Other Things Called Emotion: Dissecting the Elephant, in: Journal of Personality and Social Psychology, Jg. 76, Nr. 5, 805–819, https://doi.org/10.1037/0022-3514.76.5.805.
- 7
David Huron: Sweet Anticipation: Music and the Psychology of Expectation, Cambridge, MA 2006, 433.
- 8 Ibid.
- 9 Jeremy Smith: The Functions of Continuous Processes in Contemporary Electronic Dance Music, in: Music Theory Online, 2021, Jg. 27, Nr. 2, 284.
- 10 Huron, Sweet Anticipation, 426.
- 11 Ibid., 37-38.
- 12 Ibid., 496.
- 13 Ibid., 497.
- 14 Ulrike Hanke: Evidence-Based Teaching: Lessons You Can Learn from Psychology for Your Teaching Practice, in: Heinz Bachmann (ed.): Competence-Oriented Teaching and Learning in Higher Education: Essentials, Bern 2018, 112.
Bevorzugte Zitationsweise
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