Verlust. Ein Nachruf auf Marie-Luise Angerer
Die nächste Ausgabe der Zeitschrift für Medienwissenschaft trägt den Titel «Was uns ausgeht». Das Heft besteht aus einem Glossar, und alle Beteiligten waren eingeladen, Begriffe vorzuschlagen, die zu fassen versuchen, was es sein könnte, das uns ausgeht. Der Glossareintrag, den Marie-Luise Angerer zu dieser Gegenwartsdiagnose beigesteuert hat, lautet «Verlustkontrolle» – eine geradezu Angerer’sche Formulierung. Sofort öffnet sich ein Assoziationsraum und zugleich schnappt der Begriff immer wieder zurück in das Kompositum, aus dem er hervorgegangen ist, Kontrollverlust. Er führt uns an die Schwierigkeit heran, das Verhältnis von Verlust und Kontrolle zu denken. Denn ob die Wörter nun in der einen oder anderen Reihenfolge zusammengesetzt sind – je länger man versucht, ihren Bedeutungsbahnen zu entkommen, desto mehr zeigt sich, was Marie-Luise Angerer ein «poröses Phantasma» nennt.
In der psychoanalytischen Theorie ist ein Phantasma ein imaginäres Szenario, das die Leere des Subjekts auffüllt, es vom Realen abschirmt – zumindest solange dieser Schirm nicht durchlässig wird. Aber das ist er geworden: Für alle, die sehen und wissen wollen, ist unabweisbar, dass nicht mehr zu kontrollieren, nicht mehr in (eine) Ordnung zu bringen ist, was durch Klimakatastrophe, Kriege und politischen Autoritarismus verloren geht. Kein Digitalisierungsversprechen hilft mehr, die Einbußen zu überwachen. Eher sei die Vorstellung, dass digitale Technologien dies leisten könnten, noch Teil des Phantasmas.
In ihrem kurzen Artikel ist zu lesen, was Marie-Luise Angerers Schreiben auszeichnet: medientheoretische, politische und künstlerische sowie immer wieder psychoanalytische Bezüge miteinander zu verweben und auf diese Weise Ambiguitäten, womöglich Verdrängungen, herauszuarbeiten. Das gilt für ihre jüngeren Überlegungen zu Affekt, in denen sie das Unbewusste gegen die Biologisierung von Gefühlen in Anschlag bringt. In Das Begehren nach dem Affekt (2007) – auch das eine Formulierung, die zweifach, sowohl präpositional als auch zeitlich zu lesen ist – argumentiert sie, dass die ausufernde Rede vom Affekt das Begehren als Movens des Subjekts, und schließlich den Affekt selbst, zum Verschwinden bringt. Entgegen solch reduktiven Ansätzen, die auch in medien- und gendertheoretischen Texten zu finden sind, kartiert sie in Affektökologien (2017) technologische Anordnungen und zeigt, dass es gerade dort zu affektiven Aufladungen kommt, wo eine Lücke klafft, nachdem das Begehren eskamotiert worden ist.
Marie-Luise Angerers Schriften zu Gender- und Körpertheorien, in denen sie seit den 1990er Jahren die damals – und wahrscheinlich auch heute noch – bahnbrechenden Texte erschlossen und weitergedacht hat (The Body of Gender, 1995), hallen nicht nur in ihren späteren Schriften, sondern auch in ihren Leser*innen nach. Ihre Diskussion des Verhältnisses von Materialität und Identität als einem, das nur als Bewegung, als wechselseitiges Verweisen sinnvoll verstanden werden könne, ist geeignet, auch aktuelle, irgendwie politische Aufwallungen zu verstehen. Einem Denken in fixen Identitäten und essentialistisch verstandenen Materialitäten hat Marie-Luise Angerer jedenfalls schon vor 30 Jahren eine Absage erteilt und stattdessen von Bildern im weitesten Sinne gesprochen, in denen Körper vor- und darstellbar werden, auch unsere Körper uns selbst. Für ein solches Konzept der body options (1999) ist die Auseinandersetzung mit (Medien-)Kunst und Film zentral, weil diese das Körperliche jenseits von Normativität, sogar jenseits von Körperschemata entwerfen. Das zu denken ist und bleibt herausfordernd. Aber Marie-Luise Angerers Vorträge, ihre Lehrveranstaltungen und ihre Texte waren ein Quell von Einsichten und eines Wissens, das nicht stillstand, sich immer erweiterte und Ohren und Augen geöffnet hat.
«Verlustkontrolle» ist einer der letzten Texte, die Marie-Luise Angerer geschrieben hat. Ihr Tod ist ein Verlust, der wahrlich nicht unter Kontrolle zu bringen ist. Sie hat nicht nur in ihren Texten, sondern auch in ihrem Leben unermüdlich Verknüpfungen zwischen Leuten, Orten und Institutionen hergestellt, Projekte und Publikationen angestoßen. «Verlustkontrolle» war bereits das Jahresthema des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften in Potsdam, dem sie vorstand. Nicht zuletzt hat sie das Projekt der Zeitschrift für Medienwissenschaft von Beginn an mit einem Engagement, das sie bei allem, was sie tat, auszeichnete, begleitet.
Vielen und auch mir war sie eine so wertvolle Kollegin, Mentorin und Freundin, dass sie aus unseren Leben nicht wegzudenken ist. Mag sein, dass das zu sagen schon den phantasmatischen Versuch darstellt, die Leere aufzufüllen, den unerträglichen Verlust verkraft- und kontrollierbar zu machen. Wahr ist es trotzdem.
Zeichnung von Katja Davar: Your Mobile Soul (3), 2019
Diese Arbeit wurde von Marie-Luise Angerer als Coverabbildung für den Sammelband Technologies of Containment. Holding, Filtering, Leaking ausgewählt. Das Buch erscheint 2024 bei meson press.
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