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Burak Arikan, «Islam, Republic, Neoliberalism» (Detail), 2012

Burak Arikan, «Islam, Republic, Neoliberalism» (Detail), 2012 

Web-Extra

Verkehrung der Plätze

11.8.2016

Die Nachrichten vom versuchten Militärcoup in der Türkei am späten Abend des 15. Juli 2016 waren mir Überraschung und Schock zugleich. Wieder saß ich viele Stunden vor dem Rechner in meiner Wohnung in Bayreuth – wie zu Zeiten der Gezi-Proteste im Jahr 2013, aber auch wie an den Tagen der dem Daesh zugeschriebenen Anschläge in Suruç, die am 20. Juli 2015 einer Helferbrigade für die zerstörte Stadt Kobane galten, an jenem des Anschlags auf die große Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober 2015 oder am Tag des Anschlags auf den Flughafen Istanbul Atatürk am 28. Juni 2016. Ich versuchte via Twitter, auf nationalen und internationalen Nachrichtenseiten, über türkische Websites mit Live-Tickern, über ein überraschend mit historischem Hintergrund aufwartendes nächtliches Interview beim heute journal spezial, aber auch über die TV-Livestreams türkischer Sender die Geschehnisse zu verfolgen und einzuschätzen.

Inmitten dieser Medienlandschaft traf ich auf ein ganzes Spektrum von Taktiken im Kampf um die Interpretationsherrschaft – sowohl von Seiten der Putschenden als auch auf Seiten der Regierung. Ein medienwissenschaftlich geübter Zugang diente mir primär dem Versuch, die Geschehnisse selbst mitzubekommen. Ich unternahm, so gut es eben ging, eine kritische Lektüre der eingehenden Tweets, Textstückchen, Nachrichten und ähnlichem, suchte die Glaubwürdigkeit der vielen Quellen abzuwägen, die Lage zu verstehen und ihre Bedeutung einzuordnen, um mir ein eigenes Bild der Lage zu machen. Und gleichzeitig versuchte ich meine Freund_innen und Kolleg_innen vor Ort zu erreichen – zuallererst, um zu hören und zu lesen, ob es ihnen gut ginge.

Mein Versuch, zu diesem Thema medienwissenschaftlich zu forschen, wurde und wird bis heute eingeholt von der Sorge um Freund_innen und Kolleg_innen, von der Sorge um all jene, die kritisch zur Regierungspolitik der Türkei stehen. Uns wurde in jener Nacht – auch wenn schon in den letzten Monaten und Jahren keinerlei optimistische Prognosen zu innenpolitischen Perspektiven der Türkei mehr kursierten – von Beginn an angst und bange. Weder die parteipolitische Opposition noch andere regierungskritische Stimmen konnten im Putschversuch irgendein utopisches Potential zum Sturz einer demokratisch gewählten Regierung sehen und positionierten sich noch in der Nacht einmütig und deutlich gegen den Versuch militärischer Machtübernahme. Doch gleichzeitig war schon in den ersten Stunden die Sorge groß, dass den allergrößten politischen Gewinn aus der Niederschlagung des Coups Präsident Erdoğan und seine Regierungspartei AKP ziehen würden. Diese Befürchtung bestätigte sich in den vergangenen Wochen auf bittere Weise. Unter dem Begriff «Säuberungen» werden umfassende Verhaftungen, Entlassungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Zeitungen, Umorganisationen in den exekutiven, legislativen und judikativen Institutionen vorgenommen. Zugleich leisten unzählige AKP-Anhänger_innen im Auftrage des «Başkomutanım Erdoğan» («mein Oberbefehlshaber Erdoğan») Widerstand gegen die Gefährdung des Systems und feiern in ihren abendlichen Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen ein kollektives, nationalistisches Wir-Gefühl. Legitimiert wird all dies durch die Inszenierung eines bedrohlichen Feindes, der in der türkischen Yellow Press gerne mit dem Teufel verglichen wird: Die Netzwerke des ehemaligen Weggefährten, späteren Konkurrenten Erdoğans, Fetullah Gülen, die den Aufstieg und Erfolg der AKP mit ermöglicht hatten, werden im Gefolge des Putsches nunmehr als Terrororganisation (FETÖ) kategorisiert. Ein Umbau des gesamten Staates scheint gerade vonstatten zu gehen, der nicht zuletzt auch durch diverse historische Vorbilder inspiriert sein dürfte. Schon am Tag eins nach dem Coup publizierte die Politikwissenschaftlerin Ayşe Kadıoğlu auf opendemocracy.net einen Text, der zwischen dem Angriff der Putschisten auf das Parlamentsgebäude in Ankara sowie den ersten Reaktionen Erdoğans Ähnlichkeiten zum Reichstagsbrand 1933 und den daraufhin startenden politischen Verfolgungen im Nationalsozialismus ausmacht. Sie formuliert ihre Sorge um eine mögliche Aufhebung des türkischen Rechtsstaates und konstatiert: «There is no doubt that we are witnessing the consolidation of a new form of authoritarian regime with a populist streak.»1

Die Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016

Doch zunächst zurück in jene Nacht: Zu beobachten waren eigentümliche und medienwissenschaftlich interessante Dinge: Im türkischen Staatssender TRT, in dessen Live-Ausstrahlung ich mich online zuschaltete, las eine sichtlich verstörte Moderatorin im Loop die Erklärung eines militärischen «Rats für Frieden in der Heimat» [«Yurtta Sulh Konseyi»] vor, der im Interesse des laizistischen, demokratischen türkischen Sozial- und Rechtsstaates die Machtübernahme behauptete und dem Publikum seine friedlichen Absichten versicherte. Später brachte mich ein Tweet zum türkischen Ableger von CNN, wo die Moderatorin ein Handy in die Kamera hielt, auf dem per Videoübertragung der Präsident zugeschaltet worden war:

Erdoğan, der in Reaktion auf Antiregierungsproteste immer Internet, Social Media und andere neue Technologien verteufelt und blockiert hatte, nutze nun eben jene Technologien Neuer Medien, die in der CNN Türk-Präsentation gleich mehrfach gerahmt und medial ausgestellt wurden.2

Und die Aneignung von Strategien politischer Protestformen, wie sie in der Türkei in den letzten Jahren immer wieder niedergeschlagen worden waren, wurde noch weitergeführt. Ich traute meinen Ohren kaum: Nachdem Erdoğan versichert hatte, dass es sich nur um eine putschende Minderheit handele, rief er die Menschen dazu auf, die öffentlichen Plätze einzunehmen und sich den Panzern und Soldaten entgegenzustellen. Es folgten zentral verschickte Massen-SMS an Millionen von türkischen Handynutzer_innen, in denen im Namen des Präsidenten dazu aufgerufen wurde, die «Demokratie auf den Straßen zu verteidigen». Nachts riefen in einer konzertierten Aktion die Muezzins von den Minaretten Istanbuls die Menschen auf die Straßen.3. Bitter wird in Social Media-Kommentaren angemerkt, dass die Regierung gegenüber Putschisten und Panzern gleichsam einen Ungehorsam anordnete, der als Gehorsam gegenüber der Staatsmacht agiert, während Formen des zivilen Ungehorsams gegenüber dem Militär im Südosten des Landes, wo massiv gegen PKK-Angehörige und Kurd_innen vorgegangen wird und dabei ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt werden, als terroristisch gebrandmarkt werden.

Die Tage nach dem Putschversuch

Sorgfältig und umfassend mobilisierte die Regierung weiterhin zur Besetzung der öffentlichen Plätze per Massen-SMS, durch Infrastrukturmaßen wie die Erhöhung des Datenvolumens für Mobilfunkverträge des größten türkischen Anbieters, die wochenlange kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, oder die Verteilung von Essen und Wasser am Taksim-Platz, sowie mit täglichen Twitter-Trends regierungsnaher Hashtags. Widerstandsrhetoriken der Gezi-Bewegung, wie etwa der regierungskritische Slogan «Boyun eğmeyeceğiz» [«Wir beugen uns nicht»] werden angeeignet und mit transformiertem Nachdruck an den stilisierten Regierungsfeind gerichtet: «Asla boyun eğmeyeceğiz» [«Wir werden uns gewiss nicht beugen»]. Mit den allabendlichen «Feiern der Demokratie» auf dem Taksim-Platz wird zudem der für Linke und Gewerkschafter_innen symbolisch bedeutsame Platz durch regierungsfreundliche Gruppierungen besetzt.

Während Regierung und Staatsmacht bei den Gezi-Protesten von Beginn an versuchten, die Wege politischer Mobilisierung zu versperren und zu unterbinden, eröffneten sie nun explizite Bahnungen, schufen Wege im Regierungsinteresse, die als Widerstand zugunsten der Demokratie gefasst und einem neuen islamischen nation building im Sinne der AKP zugeführt werden. Im Gegensatz zu den verstreuten Praktiken der Gezi-Bewegung werden diese Versammlungsformen zentral organisiert und der Führer-Figur ‹Erdoğan› untergeordnet, der als oberster General und Popstar gleichermaßen gefeiert wird. Als Widerstand des ‹Volkes›, das sich nicht gegen die Regierungsmacht, sondern gerade in Eintracht mit der Macht gegen den Umsturzversuch wendet, bricht sich ein nationalistischer Taumel Bahn, der auch in den ubiquitär präsenten Nationalflaggen seinen Ausdruck findet – bereits in den letzten Jahren war im Zuge widerstreitender Symbolpolitiken die türkische Nationalflagge (dessen Rot früher kemalistische und republikanische Kräfte wie die CHP auszeichnete) zunehmend von der AKP angeeignet worden, um die knappe Mehrheit der Wahlbevölkerung als eine ‹die Türkei› repräsentierende Versammlung auszumachen.

Was ging und geht wohl in den AKP-Anhängern4 vor, dass sie diesem Aufruf des Präsidenten zügig Folge leisten und sich unter Gefahr für Leib und Leben den Panzern eines Militärputsches in den Weg stellten? Aus der Ferne schwer zu beurteilen ist auch, wie viele der Menschen, die bis heute Abend für Abend fahnenschwenkend national aufgeladene ‹Feste der Demokratie› feiern, einfache Bevölkerung, wie viele organisierte Anhänger nationalistischer und islamistischer Gruppierungen sind. Doch zogen alsbald schon Mobs junger Männer «Allahu akbar» rufend durch Stadtviertel, in denen sie sonst nicht auftreten,5 waren mitunter martialische Töne hören, die für ihren «Oberbefehlshaber Erdoğan» [«başkomutanım»] bereit waren, ihr Leben zu opfern, forderten – vermutlich organisierte – Stimmen laut die Wiedereinführung der Todesstrafe, sind immer wieder die Flaggen ultranationalistischer Gruppen und das Fingerzeichen der faschistischen «Grauen Wölfe» zu sehen. Entsprechend euphorisch wird auf den Straßen auch die spätere Ausrufung des Notstandes begrüßt.

Die Mobilisierungs- und Versammlungsstrategien, welche die Vereitelung des Putsches ermöglichten, verleiteten einzelne Kommentator_innen [z. B. der New York Times] sogar dazu, Erdoğan nun, nachdem seine Regierung von den Massen auf den Straßen gerettet worden sei, die Macht politischer Demonstrationen und Versammlungen endlich anzuerkennen und einen nationalen Versöhnungsprozess anzustoßen.6 Übersehen werden dabei jedoch die zentralistischen und diktierten Organisierungs- und Mobilisierungsformen, die diametral zu den verstreuten Aktivitäten der Gezi-Proteste oder den selbstorganisierten Widerstandsformen in den kurdischen Gebieten liegen. Und so werden die Menschen wohl genau so lange auf den Plätzen bleiben, bis Erdoğan sie zurückruft. Und neben dieser geschickten Nutzung von Mobilisierungsstrategien werden die schon lange bekannten Praktiken staatlicher Repression – Verhaftungen, Anklagen, Entlassungen, Zensur – auf eine Weise weitergeführt und intensiviert, dass schon das schiere Ausmaß äußerst erschreckend ist.

Gezi und danach – Vorgeschichten

Noch 2013 hatten die vielfältigen Antiregierungsproteste im Umfeld der Gezi-Bewegung euphorisch gestimmt. Erstmals schien in der Türkei die Chance zu bestehen, im Zuge von breiten, aber dezentralen und recht lockeren politischen Bündnissen sowie durch den Einsatz ironischer und witziger Strategien der Kommunikationsguerilla ein politisches System, das sich zunehmend durch Neoliberalisierung, Islamisierung und gleichzeitige Autokratisierung auszeichnete, aufbrechen zu können.7 Schon im Zuge der Gezi-Proteste hatte die Regierung jedoch mit massiven Repressionen, Blockaden von Kanälen neuer Medien und konzertierten Social Media-Aktivitäten hart durchgegriffen. Die Regierungspolitik gegen die Gezi-Proteste zeichnete sich zudem durch Diffamierungen des politischen Gegners und durch starke Polarisierungen aus, so dass das Land zunehmend politisch gespalten erscheint. Spätestens seit den Wahlen im Jahr 2014 ist politische Ernüchterung eingetreten. Aus den molekularen Zusammenschlüssen, den ironisierenden Kommunikationsguerilla-Strategien hat sich keine Gegenbewegung ergeben, welche den massiven Repressionen durch Regierung und Justiz standhalten oder gar eine nachhaltige Gegenmacht etablieren konnte. In meinem im Frühjahr 2015 fertiggestellten und von den Geschehnissen längst eingeholten Text «Figuren und Kanäle politischen Widerstands. Zum Verhältnis von Medien und Versammlung in den Gezi-Protesten der Türkei»8 frage ich am Ende:

«Welche mittel- und län­gerfristigen Effekte die Erfahrung des kollektiven Agierens über Partei- und soziale Grenzen hinweg für die türkische Gesellschaft dennoch haben wird, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Zu fragen bleibt daher nach der Relation von Regierungsmacht und widerstän­diger Gegenmacht: Unter welchen Bedingungen kann ein zunehmend repressiv und autoritär agierendes, politisches Gefüge überhaupt ins Wanken geraten? Und unter welchen Bedingungen kann es seine Macht weiter ausbauen? Das Beispiel der Gezi-Proteste zeigt, welch große Rolle mediale Praktiken der Resignifikation und visuellen Politik in diesem Spannungsfeld spielen. Die Kanäle und Verbreitungswe­ge des Internets, die Facebook-Postings, blitzschnellen Hashtag-Lawinen, Flickr-Fotos, Liveticker und Etherpads tragen dabei zu einer schnellen Euphorisierung der Massen bei. Doch sie allein generieren keine nachhaltigen Versammlungsformen, die grundlegende politische Veränderungen ermöglichen könnten. Welche anderen Formen der Versammlung wären heutzutage hierzu in der Lage?»9

Seitdem ich dies schrieb, sind Presse und Berichterstattung weiter massiv unter Druck gesetzt und zensiert worden, wurden Verlagshäuser von aufgeputschten nationalistischen Mobs angegriffen oder gleich enteignet, sind hunderte Journalist_innen entlassen oder verhaftet worden, ist der Friedensprozess mit der PKK beendet worden, so dass die kurdischen Gebiete im Südosten der Türkei im Kriegszustand liegen, haben eine Reihe von brutalen Selbstmordanschlägen mit Hunderten von Toten stattgefunden – die meisten davon verübt von Daesh, einige auch von neuen kurdisch-extremistischen Gruppen – fliegt die Türkei Angriffe auf kurdische Kämpfer_innen in Syrien und im Nordirak. Während die NATO und Deutschland Angriffe auf den IS unternehmen, wurden türkischen Wissenschaftler_innen Forschungen etwa zur ökonomisch-sozialen Situation der syrischen Flüchtlinge im Lande untersagt und hat die EU in ihrer Abschottungspolitik gegen die syrischen Flüchtlinge mit der Türkei einen menschenverachtenden Deal ausgehandelt, von dem sie sich nun erpressbar zu machen scheint.

Im Januar 2016 haben Akademiker_innen einen Appell für den Frieden initiiert, der von über 1000 Wissenschaftler_innen in der Türkei gezeichnet wurde.10

Erstmals konstituierte sich damit eine breite wissenschaftliche Community – die Academics for Peace –, welche die wochenlangen Ausgangssperren und den de facto-Kriegszustand in Sur, Silvan, Nusaybin, Cizre und weiteren Orten im Südosten des Landes thematisierte und kritisierte. Die Reaktion der Regierung kam umgehend: Der empörte Präsident meldete sich in der Presse mit Beschimpfungen und Verunglimpfungen zu Wort und stellte wissenschaftliche Forschung grundlegend infrage. Neben Bedrohungen durch aufgestachelte Studierende kommt es seitdem zu umfangreichen disziplinarischen und juristischen Verfahren. Schon im Januar 2016 wurden die ersten der Unterzeichner_innen verhaftet und für mehrere Tage ins Gefängnis geworfen, zum Teil in Einzelzellen. Die zentrale Hochschulbehörde YÖK und die Hochschulen selbst betreiben eigene disziplinarische Verfahren und Suspendierungen. Zudem werden Gerichtsprozesse wegen des Vorwurfs der Unterstützung terroristischer Vereinigungen (PKK und KCK) geführt. Bezeichnenderweise wurde dieser Vorwurf bei den ersten Prozessen von der Staatsanwaltschaft selbst als unhaltbar fallen gelassen und stattdessen umgehend auf den Vorwurf des Verstoßes gegen §301 der derzeitigen türkischen Verfassung («Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates») umgeschrieben.11

Nach dem Putschversuch: Zur Situation der Wissenschaftler_innen

Mit Blick auf die politischen Mobilisierungsstrategien nach dem Putschversuch ist nicht nur zu konstatieren, dass ein repressives System gerade aus einem Versuch, es zu stürzen, alle Macht zur Konsolidierung gewinnt.12 Darüberhinaus versammelt sich die Regierung nun perfiderweise selbst als Protestbewegung, die ihre Kraft aus dem nationalen Widerstand gegen beschworene Gefahren von Innen wie von Außen und dem Widerstand gegen abweichende politische, journalistische, aber auch wissenschaftliche Positionierungen schöpft.

Wissenschaftler_innen in der Türkei sind im Zuge der Verfolgungen seit der Niederschlagung des Putschversuchs neben anderen Gruppen massiv in das Visier der Staatsmacht geraten. Allein das Ausmaß der in Social Media als «Hexenjagd» [«cadı avı»] bezeichneten Vorgehens ist ohne die Existenz von im Vorfeld längst zusammengestellten Listen mit unliebsamen Personen kaum denkbar. Mit der eigentümlich späten Ausrufung des dreimonatigen Notstandes13 (OHAL) fünf Tage nach dem Putschversuch nahm Präsident Erdoğan schließlich jene exekutive Macht offiziell in die Hände, die er in seinem Streben nach einem politisch bisher nicht durchsetzbaren Präsidialsystem de facto seit Monaten ausübte, und kann nun ohne nennenswerte Widerstände agieren.

Tausende Angehörige des Militärs, aber auch Tausende Richter_innen, Staatsanwält_innen, Anwält_innen wurden verhaftet und entlassen, es folgten Journalist_innen, Gewerkschafter_innen, Lehrer_innen. Vielen Verhafteten wird anwaltlicher Beistand verweigert, auch von Folter ist zu lesen (vgl. Amesty International).14 Eine Reihe von Bildungseinrichtungen, Zeitungen, Websites, Nachrichtenagenturen und auch Krankenhäuser sind geschlossen worden. Zur Situation der Presse vgl. etwa die Berichte des internationalen Commitee to Protect Journalists, die Intervention von Elfriede Jelinek 15 sowie das «Türkische Tagebuch» von Yavuz Baydar in der Süddeutschen Zeitung, das im Zuge von Festnahmen, staatlicher Zensur und kollegialer Selbstzensur das Ende des unabhängigen investigativen Journalimus in der Türkei konstatiert.

Die Dimensionen, welche diese Verfolgungen für den Bereich von Wissenschaft und Forschung bisher einnehmen, lassen sich aus der folgenden Aufzählung erahnen: Alle 1500 Dekan_innen staatlicher und privater Hochschulen sind zum Rücktritt aufgefordert worden, der umgehend erfolgt sein soll. Zudem ist eine ganze Anzahl von Hochschulleitungen zurückgetreten und ersetzt worden, die im übrigen allesamt zentral durch die AKP-dominierte zentrale Bildungsbehörde YÖK berufen worden waren – einige davon entgegen den Rektoratswahlen der Hochschulen. Für alle Beamt_innen – dies betrifft vor allem die Wissenschaftler_innen an den staatlichen Hochschulen – wurde ein Ausreiseverbot verhängt, dessen Aufhebung ungewiss ist. Alle Wissenschaftler_innen türkischer Universitäten sind aus dem Urlaub und aus dem Ausland (auch aus etwaigen Forschungsaufenthalten) zurückbeordert worden. Eine der ersten neuen Regelungen besteht darin, dass in Zukunft jede dienstliche Auslandsreise (auch zu Tagungen) vom Hochschulpräsidenten genehmigt werden muss – bisher gab es ein Anrecht, einmal im Jahr eine auch finanzierte Reise zu einer internationalen Tagung eigener Wahl zu unternehmen.

Bis zum 29.7.2016 haben gegen 2.239 Personen aus den Hochschulen disziplinarische Verfahren durch das Higher Education Council YÖK begonnen: darunter 440 Professor_innen, 525 Associate Profs, 654 Assistant Profs und 654 administrative Mitarbeiter_innen an staatlichen Hochschulen.16 Mindestens 1.617 Mitarbeiter_innen von 41 staatlichen Universitäten sind zum 26. Juli 2016 suspendiert worden, 234 wurden festgenommen, 8 befinden sich in Untersuchungshaft.17 15 Stiftungsuniversitäten sind geschlossen worden (das sind 7,8% aller nationalen Universitäten). Dies betrifft 56.703 Studierende und 2.808 Akademiker_innen. Während die Studierenden auf andere Universitäten verteilt werden, in welchen aufgrund der vielen Neuzugänge schlechtere Betreuungsverhältnisse zu erwarten sind, ist die Zukunft des Personals noch ungeklärt.18

Auch die bisher regierungsnah agierende türkische Forschungsstiftung Tübitak – formal das Pendant zur DFG in Deutschland – wurde Ende Juli 2016 unter dem Verdacht der Gülen-Unterwanderung durchsucht.

Unterdessen gehen die Entlassungen und Verfahren gegen die Unterzeichner_innen des Friedensaufrufs der Academics of Peace weiter. Ein Beispiel zeigt, wie unter dem Vorwurf der Gülen-Unterstützung auch linke Wissenschaftler_innen ins Visier geraten: Mit Candan Badem ist ein dezidiert atheistischer, religionskritischer und marxistischer Akademiker suspendiert, verhaftet und unter Auflagen wieder entlassen worden, der zudem an einer Gegenklage gegen Erdoğan wegen Verunglimpfung und Beleidigung der Academics for Peace beteiligt ist. War schon die Zugehörigkeit aller bisher Festgenommenen und Entlassenen zum Gülen-Netzwerk fraglich, so ist zu befürchten, dass sich die Repressionen auf alle Regierungskritiker_innen ausweiten.

All dies schürt ein Klima der Angst: Viele meiner Kolleg_innen wollen sich weder öffentlich noch privat mehr äußern und halten sich auffällig bedeckt (vgl. Berichte in der Zeit zum Reiseverbot und allgemeiner zu den Wissenschaftler_innen nach dem Putschversuch).19 Auch in den Sozialen Medien ist die Zurückhaltung in der Kritik des Notstandes auffällig – zu groß ist die Sorge, selbst als Unterstützer_in der Putschisten verdächtigt zu werden. Just in einer Zeit, in der die Anschläge des Daesh auch in der Türkei zugenommen hatten, hat die Regierung andere Feinde ausgemacht – und stabilisiert in diesem ‹Coup nach dem Coup› ihre Macht. Erste Umordnungen des Militärs, des Geheimdienstes, Ermächtigungen der Polizei gegenüber dem Militär, Gebietsreformen im Südosten, welche in Zukunft bessere Wahlausgänge für die AKP versprechen, zahlreiche freie Stellen für die eigenen Leute im Bildungssystem und im Rechtssystem20 deuten auch bei Momenten scheinbaren Entgegenkommens nicht auf eine Politik zur Versöhnung zwischen den von der Regierung gegeneinander aufgehetzten Bevölkerungsgruppen hin. Auch wenn es strategische Versuche der Einbindung der Oppositionsparteien MHP und CHP gibt, wird die HDP als Vertretung prokurdischer Positionen systematisch von solchen Gesten nationaler Einheit ausgeschlossen – was für die Zukunft der Situation in den kurdischen Gebieten nichts Gutes ahnen lässt. Eine weitere Spaltung oder gar Bürgerkriegsszenarien sind das, was mir schon in den letzten Monaten von Freund_innen ausgemalt wurden. Das schon seit Jahren als zunehmend autoritär, totalitär, diktatorisch, faschistisch agierende politische System Erdoğans scheint gefestigt, eine utopische Perspektive nicht mehr denkbar. Die Lage ist desaströs, nicht zuletzt steht eine ganze Generation vor allem junger Wissenschaftler_innen vor dem akademischen und sozio-ökonomischen Aus.

Was tun?

Die dramatische Lage der Wissenschaftler_innen hat bereits zu verschiedenen internationalen Verurteilungen geführt, allen voran durch Scholars at Risk, die European University Association, den Präsidenten der deutschen Hochschulrektorenkonferenz HRK und verschiedene wissenschaftliche Fachgesellschaften. Aber auch in diversen Unterschriftenlisten wird dazu aufgerufen, direkt türkische Hochschulleitungen anzuschreiben und um Schutz der Wissenschaftler_innen zu bitten, so etwa im Sample Letter for the Van Yuzuncu Yil University, oder jenen zugunsten der Mersin University oder der Tunceli University. Auf dem Blog der American Philosophical Association werden aktuell «Seven Ways You Can Support Academics in Turkey» präsentiert.

All dies hat auf die türkische Regierung bisher wenig Eindruck gemacht. Petitionen, Briefe und Stellungsnahmen alleine werden nicht ausreichen. Notwendig erscheint es darüberhinaus, Druck auf die europäischen Regierungen auszuüben, sich endlich klar gegen die autoritäre Politik in der Türkei zu positionieren. In den wissenschaftlichen Communities wäre zudem gemeinsam mit türkischen Wissenschaftler_innen zu diskutieren, ob es nicht statt eines Rückzugs von internationalen Fachtagungen aus der Türkei gerade geboten sein könnte, die Kolleg_innen vor Ort, die zudem derzeit selbst nicht reisen können, durch die Abhaltung solcher Konferenzen in türkischen Städten zu unterstützen.

Angesichts dessen, dass zu befürchten ist, dass Hunderten von türkischen Wissenschaftler_innen mit Kündigung, Gerichtsverfahren, Drohungen ihre berufliche Perspektive abgeschnitten wird, müssen dringend Möglichkeiten auf dem internationalen akademischen Arbeitsmarkt eröffnet werden. Bei Aufhebung des Ausreiseverbotes ist davon auszugehen, dass Kolleg_innen die Türkei notgedrungen verlassen werden. Die Middle East Studies Association of North America etwa publiziert zur Unterstützung bereits Job- und Stipendien-Hinweise für Wissenschaftler_innen aus der Türkei. Die Netzwerke Scholars at Risk und Scholar Rescue Fund führen Listen mit gefährdeten Wissenschaftler_innen auch aus der Türkei, die sie an internationale Hochschulen zu vermitteln suchen. Wer also eine akademische Stelle zu vergeben hat, möge sich die Ausrichtungen der dort aufgelisteten Scholars at Risk einmal durchsehen. In Deutschland hat die DFG im Gefolge der Flüchtlingsdebatten bereits ein Programm aufgelegt, mit dem bereits bestehende DFG-Projekte zur Einbindung gefährdeter Wissenschaftler_innen personell aufgestockt werden können. Auch dieses Programm sei den Kolleg_innen mit laufenden DFG-Vorhaben an deutschen Universitäten ans Herz gelegt. Die Alexander von Humboldt-Stiftung wiederum hat mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes die Philipp Schwartz-Initiative ins Leben gerufen, bei der sich Hochschulen mit einem Konzept zur Unterstützung für gefährdete Wissenschaftler_innen bewerben und in diesem Zusammenhang bis zu 24monatige Stipendien für konkrete Scholars at Risk beantragen können.

Insbesondere junge Wissenschaftler_innen (viele der Unterzeichner_innen des o. g. Friedensappells sind in der Position von Assistant Professors) brauchen – dies bestätigen mir auch etablierte Kolleg_innen aus der Türkei – internationale Unterstützung noch dringender als bereits etablierte Kolleg_innen mit funktionierenden Netzwerken. Auch mit Blick auf bisherige ‹Elite›-Kriterien etwa der Humboldt Stiftung muss darauf hingearbeitet werden, explizit auch noch nicht etablierte Wissenschaftler_innen in die Förderungen mit einzubeziehen.

Während es bei den Gezi-Protesten 2013 darum ging, den Mächtigen die ‹Plätze zu lesen›, wird Lesen und Agieren im Modus der Kommunikationsguerilla in der aktuellen Situation nicht ausreichen.

(5.8.2016)

Bevorzugte Zitationsweise

Hanke, Christine: Verkehrung der Plätze. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/verkehrung-der-plaetze.

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