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Web-Extra

Universitätsrevolution und Mediendidaktik in Amsterdam

1.5.2015

Facebook-Seite von «De Nieuwe Universiteit»: Foto der Besetzung des Maagdenhuis, Universität Amsterdam, Februar 2015.

Am 28. Februar versammelten sich mehr als 150 WissenschaftlerInnen der Universität Amsterdam im Atrium des Maagdenhuis – einem herrschaftlichen Gebäude an einem der zentralen, historisch und touristisch belebten Plätze der Stadt (Spui), das wenige Tage zuvor noch Sitz der Universitätsleitung gewesen war. Bei diesem und weiteren Treffen, die seither beinah wöchentlich stattfanden, diskutierten wir die zunehmende Zerstörung der akademischen Kultur durch Ökonomisierung und Bürokratisierung; wir formulierten Forderungen gegenüber der Universitätsleitung und der Regierung in Den Haag und wir entwarfen politische Strategien: ProfessorInnen und Promovierende, Studierende und Sympathisierende standen und saßen in einem Halbkreis und benutzten die durch die Occupy-Bewegung bekannt gewordenen Handzeichen, um – unter Leitung eines facilitator – eine möglichst hierarchiefreie, auf Konsens gerichtete Diskussion zu führen. Die general assemblies des akademischen Personals hatten diese Verfahrensweise von der studentischen Protestbewegung übernommen, die durch die dicht aufeinanderfolgende Besetzung zweier Universitätsgebäude die sich seit Jahren schleichend verschärfende Misere überhaupt erst diskutierbar und protestierbar gemacht haben.
 

Übersicht der von der Occupy-Bewegung 2011 in London genutzten Handzeichen.

Übersicht der von der Occupy-Bewegung 2011 in London genutzten Handzeichen.

Die Handzeichen wurden am Samstag, den 11. April, kurzfristig brutal durch andere Medien ersetzt: Schlagstöcke, Pferdkörper und untergehakte Prostestierende, die sich der Polizei mit dem Ruf «Keine Gewalt!» gegenüber stellten. Obwohl die studentischen BesetzerInnen angekündigt hatten, das Gebäude am Montag darauf zu verlassen, und lediglich noch das schon länger geplante «Wissenschaftsfestival» mit einer Reihe prominenter Vortragenden, Musik und Wellness (!) realisieren wollten, hatte die Universitätsleitung auf die Räumung gedrängt. Besonders pervers: Das Festival war in Erwartung der Räumung auf den Platz vor dem Gebäude verlagert worden, das Maagdenhuis war so gut wie leer, und dennoch griff die Polizei mit brutaler Härte (und in Kampftechniken trainierten Polizisten in Zivil) durch und verhaftete neun Studierende, die sie scheinbar willkürlich, wahrscheinlich aber zielgerichtet aus der Menschenmenge unter freiem Himmel herausgriff.1

Eine gute Woche später, nach einer Demonstration mit 1.500 Beteiligten, dutzenden Zeitungsartikeln und unzähligen Mails und Tweets, trat die Vorsitzende des Verwaltungsrates zurück. Die general assemblies der Studierenden und des akademischen Personals werden – weniger häufig und weniger öffentlich – an anderen Orten der Universität organisiert. Die Proteste haben sich von besetzten Gebäuden und general assemblies in Social Media und Arbeitsgruppen verlagert.

Wie jede politische Bewegung ist auch diese in Amsterdam nicht nur durch Medien in allen Formen und Varianten ermöglicht, sie ist auch begleitet von einer manchmal systematischen und manchmal spontanen Mediendidaktik: Neue Gesten der kollektiven Kommunikation werden etabliert, die politische Rolle der Architektur wird getestet, kommerzielle Mainstreamplattformen wie Twitter und Facebook erhalten auf einmal auch für Langzeitverweigerer unmittelbare Plausibilität, Netiquette (vor allem das angemessene Verhalten auf Mailinglisten) wird auf einmal wieder explizit – ganz banale und gerade deshalb interessante Aspekte des Mixed Media-Gebrauchs in einer Situation, in der die Formen und Routen der institutionellen Kommunikation zur Diskussion stehen.

Mehrere englischsprachige Statements, Berichte und Petitionen geben einen Einblick in die Motivationen und die Forderungen des Protests:
Nicholas Vrousalis, Robin Celikates, Johan Hartle, Enzo Ross: Why we occupy: Dutch universities at the crossroads, in: opendemocracy.net, dort datiert 2.3.2015, gesehen am 2.5.2015.
Jonathan Gray: Dutch student protests ignite movement against management of universities, in: The Guardian, dort datiert 17.3.2015, gesehen am 2.5.2015.
Nicholas Vrousalis, Robin Celikates, Johan Hartle, Enzo Ross: First we take Amsterdam, then we take The Hague, in: opendemocracy.net, dort datiert 3.4.2015, gesehen am 2.5.2015.

Die größtenteils englischsprachigen Internetseiten der Studierenden (Humanties Rally; De Nieuwe Universiteit) und des akademischen Personals (Rethink UvA) geben einen Einblick in die Entwicklung der letzten Monate. Eine besonders lesenswerte Chronik des Protests in Form von zwei „Briefen aus Amsterdam“ findet sich bei dem Online-Magazin n+1: Letter from Amsterdam (dort datiert 26.3.15), On Horseshit. Letter from Amsterdam Part II (dort datiert 12.4.15, alle gesehen am 3.5.15)

 

Architektur als Medium

Schon im Herbst 2014 hatte eine Gruppe von Studierenden («Humanities Rally») gegen die anstehenden Kürzungen bei den Geisteswissenschaften – inklusive der drohenden Abschaffung einiger Studiengänge – protestiert: Zu ihren Medien zählten Petitionen, Demonstrationen und eine «Nacht des Protests» einschließlich eines Sit-ins in einem Hörsaal. Auffällig war schon hier, dass die Studierenden es kategorisch ablehnten, lediglich symbolische Gespräche mit der Universitätsleitung zu führen: Gespräche gibt es nur, wenn tatsächlich die Option auf Veränderungen zugestanden ist und wenn die relevanten Dokumente zur Verfügung gestellt werden, so dass der Dialog «auf Augenhöhe» stattfinden kann. Das wissenschaftliche Personal zeigte sich zaghaft auf der durch die Studierenden errichteten Bühne, trug aber selbst wenig zur Organisation und noch weniger zu den Aktionen des Protests bei.

Durch die Einrichtung von Arbeitsgruppen innerhalb der Fakultät, die sich mit einzelnen Aspekten der Umstrukturierung beschäftigten, schien Anfang 2015 zunächst die unmittelbare Empörung gedämpft. Umso überraschender kam es für die meisten Universitätsangehörigen, dass eine Gruppe mit dem Namen De Nieuwe Universiteit (Die neue Universität) am 13. Februar das Bungehuis besetzte, ein wuchtiges Art-Deco Gebäude, in dem sich neben dem Dekanat der geisteswissenschaftlichen Fakultät auch ein Teil der Sprach- und Literaturwissenschaften befindet.

Besetzung des Bungehuis, Foto: Markus Stauff.

MitarbeiterInnen ärgerten sich, dass sie keinen Zugang zu ihrem Arbeitsplatz mehr hatten, und fürchteten um die Sicherheit ihrer Daten und Dokumente. Die Verwaltung stellte die Heizung und das WLAN ab. Das Gebäude selbst wurde so zu einem umkämpften Ort, an dem die Frage des Zugangs und der Zugehörigkeit neu und unerwartet strukturiert wurde. Trotz der Besetzung wollten die Studierenden das Gebäude zugänglich halten: Mithilfe einer Küchenleiter konnte durch ein kleines Fenster an der Rückseite des Gebäudes geklettert werden; ein tägliches Programm mit Filmen, Vorträgen, Diskussionen lud zum Besuch ins Bungehuis ein, sogar die Bibliothek war an den ersten Tagen noch geöffnet. Die Universitätsleitung bot den BesetzerInnen Gespräche an, war jedoch nicht bereit, ins Bungehuis zu kommen. Schnell wurde behauptet, dass es sich hauptsächlich um halbprofessionelle Hausbesetzer (kraker) handele, was nur insofern stimmt, als die Studierenden schlau genug waren, alle verfügbaren juristischen und taktischen Kompetenzen zu versammeln – nicht anders als die Universitätsleitung, die mehr Manager bezahlt, die auf Immobilien und Finanzen spezialisiert sind, als Manager, die Forschung und Lehre organisieren.

Besetzung des Bungehuis, Foto: Markus Stauff.

Am Abend vor der sich abzeichnenden Räumung schrieben sich alle, die im Bunghuis bleiben wollten, die Telefonnummer eines Anwalts auf den Arm. Den Anwesenden wurde erklärt, was die je spezifischen Konsequenzen sein können, wenn man sich anonym oder unter Preisgabe der Identität in Haft begibt. Sie konnten sich mit individuellen Nummern – und somit anonym – bei einer Unterstützergruppe registrieren und dort ihre Pässe hinterlegen. Es wurde vorgeschlagen, aus Solidarität mit Veganern nach der Festnahme um veganes Essen zu bitten, dies jedoch nur dann zu tun, wenn man sich mental und körperlich stark genug fühle, da die Bereitstellung von veganem Essen einige Stunden länger dauern könne. Ich habe schon oft und viel von Studierenden gelernt, aber noch nie in so dichter, reflektierter und zugleich dringlicher Form. (Betont wurde auch, dass es verschiedene Formen politischer Aktionen gäbe und niemand sich schämen müsse, wenn er/sie angesichts der Informationslage nicht bleiben wolle. Meiner eigenen politischen Kondition etwas unsicher, zog ich mit meinem Schlafsack dann auch tatsächlich kurz nach Mitternacht ab.)

Als das Bungehuis dann tatsächlich am kommenden Morgen nach elf Tagen Besetzung geräumt wurde, befanden sich mehr als 50 Studierende (und ein Dozent) im Gebäude, die alle inhaftiert wurden, aber innerhalb von zwei Tagen wieder freikamen. Schon am nächsten Tag wurde eine Demonstration organisiert, an deren Ende sich mehr oder weniger unerwartet die Gelegenheit ergab, in das Maagdenhuis einzudringen: dem sonst durch Sicherheitsservice hermetisch abgeschirmten Sitz der Universitätsleitung. Im Unterschied zum Bungehuis ergab sich daraus keine neue Besetzung, sondern eine «Befreiung» oder «Aneignung» des Gebäudes: Der Haupteingang blieb durchgängig geöffnet, die von der Universität bezahlten Sicherheitsleute saßen weiter am Eingang, ließen aber jeden herein und griffen – in enger Absprache mit den Studierenden – nur in Einzelfällen ein, wenn beispielsweise nachts betrunkene Schaulustige auftauchten (das WLAN blieb intakt, Heizung und Gebäudereinigung wurden dagegen ausgesetzt). Für mehr als sechs Wochen blieb das Gebäude ein Ort akademischer und politischer Vielfalt: Neben vielen Workshops und Vorträgen von Amsterdamer Universitätsangehörigen waren auch Jacques Rancière, Gloria Wekker, Wolfgang Streek und David Graeber im Maagdenhuis zu Gast.

Die Beibehaltung des offenen Charakters des Maagdenhuis als Ort für studentische Diskussionen und Veranstaltungen wurde dann auch als eine zentrale Forderung in die Verhandlungen mit der Universitätsleitung aufgenommen. Dies zielte nicht nur darauf, das Management symbolisch und räumlich enger an die universitäre Gemeinschaft und die akademischen Debatten zu binden, sondern hatte auch konkrete ökonomische Motive, insofern an der Universität Amsterdam – wie an so vielen anderen – alle Räume für jede Form von Veranstaltung extra bezahlt werden müssen.

 

Die beiden Besetzungen nutzten die Architektur in vielfältiger Weise, wobei der Schwerpunkt beim Bungehuis auf der Unterscheidung zwischen Innen und Außen und somit der Frage des Zugangs lag, während er sich beim Maagdenhuis mehr auf die vielfältige Produktivität des Raums richtete: So wurde samstags gemeinsam geputzt; Amsterdamer Touristenführer machten bald schon kurze Abstecher ins Gebäude. Vor dem Gebäude wurde ein großes rotes Quadrat auf den Platz gemalt – ein von kanadischen Studierendenprotesten übernommenes Symbol gegen die Ökonomisierung der Studiums und die damit einhergehende Verschuldung von Studierenden. Am Eingang des Gebäudes wurden kleine rote Filzquadrate mit Sicherheitsnadeln verteilt, die bald an vielen Jacken zu sehen waren. Im Atrium des Maagdenhuis fanden die Versammlungen auf einem roten Stoffquadrat statt. Beim Bungehuis wurde vor allem die Fassade mit den Transparenten der Protestierenden zu einem markanten (Medien-)Bild, beim Maagdenhuis dominierten Fotos, die von der Balustrade im ersten Stock das lebendige Treiben auf dem roten Quadrat zeigen.

Foto des roten Quadrats auf dem Spui (Platz vor der Universität Amsterdam) auf der Facebook-Seite von «De Nieuwe Universiteit» .

Temperature check

Im befreiten Maagdenhuis mit seinen dauerhaft offenen Türen und seinem großen, pittoresken Atrium wurden vor allem die general assemblies der Protestbewegung zu einem für alle sichtbaren Modell. Schon weil diese generell offene Versammlungen einer Bewegung ohne feste Mitgliedschaft und ohne institutionalisierte Hierarchie sind, werden die organisierenden Handzeichen zu Beginn jedes Mal kurz erläutert:
Eine Hand strecken = gewöhnliche Wortmeldung (bitte sparsam mit der Zeit aller umgehen und nicht immer nur wiederholen, was schon vorher gesagt wurde);
zwei Hände strecken = direkte, kurze Reaktion (nicht länger als 10 Sekunden; AkademikerInnen können besonders schlecht einschätzen, wie kurz 10 Sekunden sind);
mit zwei Händen ein T bilden = Vorschlag zum Verfahren (technical point – etwa die Frage: Wollen wir die Kameras der Massenmedien zulassen oder bitten wir sie, den Raum zu verlassen);
beide Hände über dem Kopf schütteln = Zustimmung;
nach unten schütteln = Ablehnung (so können die Präferenzen der gesamten Gruppe kontinuierlich in den Diskussionsprozess eingehen, ohne dass – wie beim Klatschen – das Sprechen unterbrochen werden muss);
durch ein mit den Fingern geformtes P (proposal) kann ein konkreter Vorschlag einem temperature check unterzogen werden (ebenfalls durch nach oben oder unten gerichtetes Wedeln mit den Händen).

General assemblies sind häufig zäh und ermüdend, nicht zuletzt weil es gerade ihr Verdienst ist, Raum für und auch Zusammenhalt zwischen sehr heterogenen Gruppen zu schaffen. Es passierte nicht nur einmal im Maagdenhuis, dass Studierende ein wenig verächtlich den Kopf schüttelten, wenn mal wieder ein ungeduldiger Akademiker forderte, jetzt endlich zur Sache zu kommen. In den heißen Phasen, in denen Verhandlungen mit der Universitätsleitung anstanden und die Drohung einer Räumung konkret wurde, hatten die Studierenden mehrfach general assemblies, die zwischen fünf und sieben Stunden lang dauerten. Es ist leicht, sich über die Trägheit des Verfahrens und die ungewohnten Gesten lustig zu machen – die Frustration der Universitätsleitung, die nach Gesprächen mit studentischen Delegationen immer zu hören bekam – wir müssen das aber erst in unserer general assembly besprechen – gehört aber sicher zu den wichtigen Lernprozessen dieser Wochen.

Es war entsprechend mehr als nur ein Zeichen der Anerkennung gegenüber den Studierenden, dass die erste general assembly der Lehrenden und Forschenden am 28. Februar im Maagdenhuis (und dann noch viele weitere) unter Leitung einer studentischen facilitator stattfand. Es war auch die Einsicht, dass eine Veränderung der Universität neue Verhandlungs- und Beschlussformen nötig hat und dass eine symbolische und operationale Distanzierung gegenüber dem business-as-usual notwendig ist, die eben auch das Erlernen neuer Verhandlungsmedien mit sich bringt. Die Studierenden selbst hatten die Verfahrensweise früh und schrittweise in ihre internen Debatten eingeführt; einige kannten Elemente davon aus der Occupy-Bewegung und im Maagdenhuis wurde auch ein Flyer verteilt, der das Konsensverfahren erläutert und kurz auf die Gesten verweist:
«The most common is finger-wigling of ‹twinkling›, which originated from American Sign Language for applause, and signifies approval. It allows a group to signify support quickly. […] Make sure [the signs] are visible, and that everyone knows what they mean. Too many signals become confusing and alienate new people.»2

Auch in kleineren Arbeitsgruppentreffen von RethinkUvA, der Plattform der Universitätsangehörigen, wird mittlerweile flexibel und spontan zum facilitator-Modell gewechselt, wenn die Diskussion zu laut oder zu durcheinander gerät. Das didaktische Potential zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich die Gesten allmählich auch in den verwalteten akademischen Alltag einschleichen: Selbst KollegInnen, die der Bewegung weniger nahe stehen als ich, wurden in offiziellen Fakultätssitzungen dabei beobachtet, wie sie mit ihren Händen in der Luft wedeln, um kurz ihrer Zustimmung Ausdruck zu geben. Auch wenn dies möglicherweise halb ironisch geschieht, tut dies dem Potential der Geste keinen Abbruch.

Lokalfernsehen und Live-Event

Seine größte Sichtbarkeit erreichte diese Versammlungsform an dem Abend, an dem sich die Studierenden das Maagdenhuis aneigneten. Dies wurde möglich, weil ein oder zwei Personen das nötige Werkzeug zur Hand hatten, um eine nur minimal gesicherte Tür zu öffnen, und führte dazu, dass auf einmal rund 200 Studierende im Atrium des Herrschaftsgebäudes standen und nicht recht wussten, was sie damit nun tun könnten und sollten.

Ich selbst hatte die Demonstration zehn Minuten vorher verlassen und musste, gerade zu Hause angekommen, auf Twitter lesen, was passiert war; darauf hin schickte ich einem Freund und Kollegen, von dem ich wusste, dass er nach der Demonstration in direkter Umgebung des Maagdenhuis ein Bier trinken wollte, eine SMS. In der Folge konnte ich wenig später im Fernsehen beobachten, wie er sich in die Debatte mengte: Der lokale Amsterdamer Fernsehsender AT5 war vor Ort und übertrug für die folgenden vier Stunden live.

Schon die Räumung des Bungehuis zwei Tage vorher war live übertragen worden. Der Stream von AT5 teilte sich in den Büros der Angehörigen der geisteswissenschaftlichen Fakultät die Monitoroberfläche mit Exceltabellen oder Blackboard. Auch wenn schon vorher durch eine Petition ein gewisses Bekenntnismoment eingesetzt hatte, zeigt sich hier die besonders unmittelbare Öffentlichkeitsfunktion des Fernsehens. Von den Studierenden und KollegInnen, die im Fernsehen dabei zu sehen waren, wie sie den Abtransport der BesetzerInnen blockierten, war nun bekannt, dass sie mit der Besetzung sympathisierten. Damit veränderte sich die Weise, wie über die Proteste gesprochen wurde. Weil die Live-Übertragung eben nicht von einem fernen Ort kam, sondern von der eigenen Universität, war das Ereignis nicht mehr negierbar.

Die Live-Berichterstattung von den ersten Stunden der Aneignung im Maagdenhuis war demgegenüber weniger ein Moment des Sagbarmachens als vielmehr eine komplexe Lektion in Demokratie. Zunächst begannen die Studierenden vor den Augen der Kamera zu beraten, was sie mit dem überraschend angeeigneten Raum machen sollten, welche Forderungen man nun stellen könne und müsse. Nach einer guten Stunde tauchte die Vorsitzende des Verwaltungsrates der Universität auf, um mit den Studierenden zu sprechen. Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, wies der facilitator sie zunächst darauf hin, dass sie sich wie alle anderen DiskussionsteilnehmerInnen zu melden und zu warten habe, bis sie an der Reihe sei. Im Laufe der Diskussion beging sie den schwerwiegenden Fehler, mehrfach darauf zu insistieren, dass die Studierenden doch bitte «our Maagdenhuis» verlassen sollten, womit eindeutig gemeint war: das Maagdenhuis des Verwaltungsrats. Nochmals eine Stunde später hatte die Versammlung beschlossen, den Amsterdamer Bürgermeister als möglichen Vermittler anzurufen. Er kam und diskutierte – aufgrund einer Operation mit Augenklappe versehen – mehr als eine Stunde mit den Studierenden. Etwa alle 50 Minuten fiel das Bild der Live-Übertragung für eine kurze Zeit aus, weil die Kamera mit neuen Batterien versehen werden musste. Authentizität und Absurdität verschränkten sich hier in einer Weise, die weiterhin zu den besonderen Potential der Live-Übertragung zählt, auch wenn die Amsterdamer Revolte einmal mehr zeigte, wie eng die verschiedensten Medientechniken miteinander verwoben sind.

Bericht über die Proteste in Het Parool («Verwaltungsratsvorsitzende sollten nicht mehr verdienen als Professoren» / «Verwaltungsratsvorsitzende Louise Gunning spricht im Maagdenhuis zu Protestierenden»).

Social Media

Schon seit den ersten Protesten in der geisteswissenschaftlichen Fakultät im November 2014 war ich – ohne genau zu wissen, wer mich hinzugefügt hatte –einer von etwa 25 Universitätsangehörigen, die sich über eine Mailingliste durch schlichtes ‹reply all› gelegentlich E-Mails zusendeten – vor allem, um ihre Empörung über die bevorstehende Umstrukturierung zu teilen. Diese informelle Mailingliste veränderte ihren Charakter durch die erste Besetzung im Februar 2015. Als die Universitätsleitung vor Gericht eine tägliche Strafzahlung von 100.000 Euro pro Besetzer forderte, formulierte ein Kollege eine Petition zur Unterstützung der Studierenden:

»The aims and methods of the protest are, of course, not shared by everyone, but occupying a university building is a time-honored part of the repertoire of student protest, and while it may be understandable that the university tries to use legal means to get the occupying students out of the building, resorting to criminalization and financial threats of such magnitude against them is disproportionate and unjustifiable. We hereby publicly declare that we have also been, and will continue to be for shorter or longer time, in the Bungehuis during the occupation.»3

Die UnterzeichnerInnen wurden dem informellen Mailverteiler zugefügt, der so schnell auf 90 Adressen anwuchs, aber noch weitgehend beschränkt blieb auf Mitglieder der Fakultät für Geisteswissenschaft. Erst als im Zuge der zweiten Besetzung (Maagdenhuis) der Plan gefasst wurde, eine general assembly für Lehrende / Forschende der Universität zu organisieren, war deutlich, dass auch in den Sozial- und Rechtswissenschaften (und vereinzelt auch bei Ökonomie und Naturwissenschaften) die gleichen Probleme existieren. Zu Beginn der general assembly wurde #ReThinkUvA als Hashtag vorgeschlagen, was dann mehr oder weniger willkürlich zum Namen der Bewegung wurde. Binnen weniger Tag wurde dieser Name auf Twitter und in der Presse immerhin so präsent, dass ein holländisches Unternehmen mit einer ‹Rethink›-Brand im Portfolio rechtliche Schritte androhte. Glücklicherweise war ReThinkUvA zu diesem Moment schon so interdisziplinär, dass die Kolleginnen von der Rechtswissenschaft sofort Entwarnung geben konnten. Die Protestbewegung verdeutlicht, wie reich und vielfältig die Kompetenzen an der Universität sind; nicht zuletzt hat sie auch dazu geführt, dass ich die Gebäude der anderen Disziplinen regelmäßig betrete und in der Zwischenzeit mehr mit KollegInnen von anderen Fakultäten gesprochen habe als im disziplinierten Routinebetrieb je möglich oder nötig ist.
Bei all den versammelten Kompetenzen muss eine solche Bewegung, gerade weil sie heterogen ist, auch alles immer wieder von vorne lernen. Dazu gehört vor allem der Mediengebrauch – von den Gesten der general assemblies bis zum Umgang mit kollektiven Blogs und (bislang eher unspektakulären) leaks von Verwaltungsdokumenten (http://uvaleaks.nl/bestuur/bestuur.html ). Hier nur ein paar Beispiele vom vielleicht banalsten Mediengebrauch – der Selbstorganisation mit Hilfe von E-Mails.

Am 26. Februar wird zum ersten Mal gefordert, die E-Mail-Kommunikation auf Englisch zu führen (während alle Pressemitteilungen zweisprachig veröffentlicht werden). Am 27. Februar – einen Tag vor der ersten general assembly – steigt die Anzahl der Adressen im ‹reply all› Feld von 90 auf 290; mein eigenes E-Mail-Programm weigert sich vorübergehend, Mails zu versenden, weil zu viele nicht-gültige Adressen identifiziert werden. Zugleich bilden sich erste Subgruppen aus Leuten, die sich entweder persönlich kennen oder sich zu ähnlichen Themen äußern. In der Diskussion über eine mögliche Vortragsreihe zu aktuellen Problemen der Universität werden immer häufiger Statements wie «Great Idea!» oder unterschiedliche Einschätzungen zu den Gehaltsforderungen von Martha Nussbaum an mittlerweile mehr als 300 Leute geschickt. Entsprechend wird am 1. März zum ersten Mal explizit die Arbeitsteilung diskutiert: «This mailing list tends to be overburdening. We should consider to reduce the flow by forming working groups so that not everyone has to be involved with everything.»

Dass an diesem Tag (neben der Website) auch auf eine tatsächliche Mailingliste umgestellt wird und schnell zusätzlich Mailinglisten für Arbeitsgruppen zu Unterthemen eingerichtet werden, behebt zwar die technischen Schwierigkeiten mit den 300 Adressaten, aber nicht das kulturelle Problem des ‹undisziplinierten› Kommentierens. Erste Personen tragen sich gleich wieder aus, weil sie mit den mehr als hundert E-Mails, die pro Tag verschickt werden, nicht umgehen können. Eine Kollegin, die schon vorher dafür Sorge trug, dass alle Interessierten auf die informelle Liste kamen, trägt vorsichtig aber bestimmt zur Disziplinierung des Mailaufkommens bei: «In two hours I will create a number of mailing lists for specific topics and contact names. Until then, I would kindly request everyone to keep email flow to a minimum.» (3. März 2015, 15 Uhr) «Firstly, please only cc to rethink-uva@list.uva.nl if you consider it necessary that your message reaches the over 500 subscribed members of this list.» (3. März, 17 Uhr). In den folgenden Wochen wird sie immer wieder vorschlagen, eine aufflammende  Diskussion in eine der Teilgruppen zu verlagern. Gleichzeitig damit tauchen erste Sorgen auf, dass ReThink selbst intransparent und undemokratisch wird, weil nicht zuletzt durch die – vermeintliche – Notwendigkeit, zügig auf Presseberichte oder Briefe der Universitätsleitung zu regieren, eine kleine Gruppe vorentscheidende Schritte unternimmt, ohne vorher die Community zu informieren. Wie so häufig werden auch hier die medieninduzierten Probleme durch mehr Mediatisierung bearbeitet: Unser Blog verfügt über ein virtual assembly – einen passwortgeschützten Bereich, in dem die Arbeitsgruppen ihre Materialien zur Diskussion stellen können. Dies wiederum wird von zu wenig KollegInnen aktiv genutzt, weil auch die Mediendidaktik der Universitätsrevolution ihre Grenzen kennt. Ein Freund, der noch ein klassisches Handy hat, scherzte darüber, dass ReThink ihn dazu bringe, ein Smartphone anzuschaffen, ich selbst sah mich kurz in der Versuchung, doch einen Facebook-Account anzulegen; bislang haben wird uns beide noch nicht zum medialen Modernisieren entschlossen.

Die hier besprochenen Medien sind alle eng miteinander verflochten: Die Besetzung der Gebäude war durch general assemblies und Social Media vorbereitet. Die meisten Untersuchungen zu rezenten (und unendlich viel relevanteren) Revolutionen zeigen, dass sie immer auf mixed media basieren und dass die Medien häufig aus dem lokal und regional je spezifischen Mix erst ihr organisierendes und mobilisierendes Potential erhalten. Zugleich ist die Abfolge der hier behandelten Medien vielleicht aber auch ein Hinweis auf die medialen Herausforderungen, mit denen sich politische Bewegungen konfrontiert sehen: Es bleibt schwierig, die Identität und die Dynamik einer Bewegung von der steinernen Architektur und dem so lebendigen wie zähen Austausch in general assemblies in die Infrastrukturen der Online-Medien zu übersetzen – nicht zuletzt, weil diese mit ihrer Vielfalt an tools und den unterschiedlichen Niveaus ihrer Beherrschung die Mediendidaktik gleichzeitig wichtiger und komplizierter machen.
 

  • 1Zeitweise verfolgte ich die Ereignisse zunehmend schockiert auf Twitter und dem Stream des Amsterdamer Lokalfernsehens – bei dem sich auch jetzt noch ein kurzer Clip von der Räumung finden lässt: http://www.at5.nl/artikelen/142018/live-negen-aanhoudingen-bij-ontruiming-maagdenhuis, gesehen am 2.5.2015.
  • 2Wikipedia verweist darauf, dass Quaker in Konsens-orientierten Sitzungen schon seit mehr als 200 Jahren ähnliche Formen praktizieren: https://en.wikipedia.org/wiki/Consensus_decision-making, gesehen am 2.5.2015.
  • 3OPEN LETTER FROM ACADEMIC STAFF AGAINST LEGAL THREATS ON OCCUPIERS!!, in: HumanitiesRally.com, dort datiert 19.2.2015, http://humanitiesrally.com/2015/02/19/open-letter-from-academic-staff-against-legal-threats-on-occupiers/, gesehen am 2.5.2015.

Bevorzugte Zitationsweise

Stauff, Markus: Universitätsrevolution und Mediendidaktik in Amsterdam. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/universitaetsrevolution-und-mediendidaktik-amsterdam.

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