Rückblick nach vorn — Das Durcheinander der Videospiele 2010
Geht es nach Ian Bogost, Professor an der Georgia Tech, werden die Game Studies dieses Jahr ein lang gepflegtes Thema endgültig zu den Akten legen: "Ludologie vs. Narratologie". Diese bisweilen hitzig geführte Grundsatzdebatte drehte sich um nichts weniger als die Deutungshoheit über das Wesen des Spiels. Sollten wir es im Sinne der Narratologie als eine gespielte Geschichte betrachten und als Text analysieren, oder nach Ansicht der Ludologen doch eher als Simulation auffassen und Regelwerk sowie Spielmechanik untersuchen? Viel vorwärts bewegt hat sich in den Game Studies durch diese Diskussion letztlich nicht, und grundlegende Fragen, beispielsweise nach dem Handlungsbegriff der Spieleforschung, bleiben nach wie vor unbeantwortet. Mittlerweile existieren beide Sichtweisen in gemäßigter Form friedlich nebeneinander, und so erhob sich auch kein großer Widerstand als Bogost vorschlug, diese Frage endgültig zu den Akten zu legen.
Stattdessen müsse das Fach sich seiner Ansicht nach mit dem schlicht unstrukturierbaren Durcheinander des Gegenstands auseinandersetzen: "A mess is a thing that you find where you don't want it. A mess is the cascade of broken glass on the floor when you miss the alarm clock and catch the water glass. A mess is the heap of hot, unseen dog shit on the stoop, and then on the stoop and the bootsole. A mess is inelegant, a clutter, a shamble, a terror. We recoil at it, yet there it is, and we must deal with it. Videogames are a mess. A mess we don't need to keep trying to clean up, if it were even possible to do so."
Damit fasste Bogost eloquent zusammen, was auf den Konferenzen im Bereich der Game Studies letztes Jahr ohnehin weitgehend Realität war. Künstlich zugespitzte Dichotomien und Versuche der Wiederbelebung der Grundsatzdebatte suchte man weitgehend vergebens. Nichts weniger als eine Neuausrichtung versprach daher die Konferenz der Digital Games Research Association (DiGRA) im September 2009 an der Brunel University bei London, auf eben der auch Bogost in seiner Keynote das Durcheinander der Computerspiele ausrief. "Breaking New Ground: Innovation in Games, Play, Practice and Theory", so der Titel der Tagung. Geprägt war sie allerdings weniger von grundlegenden Innovationen oder neuen Streitfragen, sondern vor allem von interessanten Einzelvorträgen. Damit spiegelte die DiGRA Conference, bedingt auch durch ihre internationale und interdisziplinäre Zusammenstellung, vor allem die Heterogenität des Feldes wieder.
Zu nennen ist beispielsweise Mikael Jakobsson, der das Onlinenetzwerk "Xbox Live" als "Achievement Machine" auffasste. Eine zentrale Rolle spielte dabei der beständige Leistungsvergleich der Spieler untereinander. Durch die vom Xbox-Live-Netzwerk bereitgestellten "Erfolge" entwickle sich zudem ein Metaspiel, dem die Spieler auch über verschiedene Spieletitel hinweg nachkommen könnten. Eine ähnliche Perspektive nahm auch Mike Molesworth in seinem Vortrag ein: "How many headshots you've done: Achievement as discursive practice in videogame play" Er identifizierte Erfolg als einen der zentralen Diskurse im Computerspiel und konzeptualisierte Spiele dementsprechend als Abfolge von "in-game achievements".
Um zu verstehen, wie sich die Spieler in Online-Rollenspielen untereinander organisieren, schlugen Harko Verhagen und Magnus Johansson den Begriff der "Norm" vor. Sie modellierten in ihrem Beitrag "Demystifying guilds: MMORPG-playing and norms" Spieler und Gruppen von Spielern als normative Systeme, mit der Möglichkeit Normen festzulegen und den Verstoß gegen sie zu sanktionieren.
Spannend aber letztlich wenig fruchtbar war der Versuch von Steve Dahlskog und Andreas Karmstrup die Einteilung von Genres in Computerspielen auf Basis von 17 Kategorien und Clusteranalysen vorzunehmen ("Mapping the game landscape: Locating genres using functional classification"). Untersucht wurden mit dieser Methode dann insgesamt 100 verschiedene Spiele. Was zunächst eine spannende Neueinteilung der Spielelandschaft versprach, blieb zum Schluss aber an der Tatsache hängen, dass man anstelle der vorgeschlagenen 17 Kategorien genauso andere Kombinationen und Anzahlen von Kategorien hätte bilden können. Der eher taxonomische Ansatz scheiterte damit letztlich an der Komplexität des Gegenstands.
Zwei kleine Schwerpunkte bildeten auf der Konferenz die Bereiche "Ethik" und "Game Archives". Zu ersteren trugen José P. Zagal mit "Ethically Notable Videogames: Moral Dilemmas and Gameplay" vor sowie Yasmin B. Kafai, William Q. Burke und Deborah A. Fields mit "What Videogame Making Can Teach Us About Access and Ethics in Participatory Culture" und Stefan Heinemann mit "Gold farming in the MMORPG (Massive Multiplayer Online Role Playing Game), World of Warcraft. An ethical perspective on a controversial growth market." Darüber hinaus fand ein Workshop zu dem Thema "Ethics in Videogames" statt.
Das Thema Spielearchivierung hatte insbesondere durch das Projekt Keeping Emulation Environments Portable (KEEP), das Teil des 7. Rahmenprogramm für EU-Forschung (RP7) ist, einen aktuellen Bezug. Hier berichteten Dan Pinchbeck, David Anderson, Janet Delve, Antonio Ciuffreda, Getaneh Otemu und Andreas Lange zu "Emulation as a strategy for the preservation of games: the KEEP project". Zudem nahmen sich James Newman und Iain Simons ("Make Videogames History: Game preservation and The National Videogame Archive") sowie Henry Lowood, Andrew Armstrong, Devin Monnens, Zach Vowell, Judd Ruggill, Ken McAllister, Rachel Donahue und Dan Pinchbeck ("Before It’s Too Late: Preserving Games across the Industry / Academia divide") der Thematik an.
Insgesamt bot sich vom 1.—4. September 2009 eine ausgewogene Mischung aus anwendungsorientierten Vorträgen und Fallstudien, die auf Verbesserungen im Game Design abzielten, Studien über die Spielerinnen und Spieler selbst sowie medientheoretischen Themen. Daneben bot die DiGRA Conference auch Platz für (noch) kleine Genres, seien es Spiele in sozialen Netzen, sogenannte "Big Games", die über mit RFID-Chips verdrahteten Gegenständen neue Spielmöglichkeiten in der physikalischen Umgebung ermöglichen, Online Collectible Card Games oder Newsgames als Pendant zu politischen Cartoons. Genauso kamen auch Praktiken im Umfeld von Spielen zur Sprache, so zum Beispiel Machinima und Fan Fiction. Mehrere Vorträge gab es jeweils auch zu Game Criticism und Gamebased Learning. Die über 100 Vorträge sind mittlerweile auch als Abstracts, Full Paper und Extended Abstracts in der DiGRA Digital Library online einzusehen.
Weitere Überlegungen zum Durcheinander der Computerspiele und wie man damit zukünftig umgehen könnte, fehlten jedoch. Dies bleibt also den Konferenzen in diesem Jahr überlassen. Und davon gibt es Zahlreiche (siehe Tabelle). Den Auftakt bildete bereits im Februar die 31. Jahreskonferenz der SW/TX PCA/ACA, der Regionalkonferenz Southwest-Texas der Popular Culture Association / American Culture Association in Albuquerque, USA. In einer angenehm unkomplizierten Atmosphäre trafen sich vor allem US-Wissenschaftler zu rund 50 Vorträgen aus verschiedenen Bereichen der kulturwissenschaftlichen Computerspielforschung. Einen möglichen Weg für zukünftige Spieleanalysen zeigte Marc Ouellette auf, in seinem Vortrag "Removing the Checks and Balances That Hinder Freedom: The Counterhegemonic and Contradictory Pleasures of GTA". Er schlug vor Spiele weniger allgemein als Medium zu untersuchen, sondern verstärkt ausführliche Einzelspielanalysen vorzunehmen, analog zum Vorgehen in den Literaturwissenschaften. Auch die Frage nach der Ethik fand in dem Beitrag "Nothing is True, Everything is Permitted: Playing with Morality in Video Games" von Brendan Van Voris hier ihre Fortsetzung. Gleichermassen war auch das Thema der Archivierung von Spieletiteln präsent, mit Beiträgen von Shino Ohno und Akinori Nakamura zu "Game Preservation Endeavours in Japan: A Case of the Ritsumeikan University Game Archive Project" sowie Devin Monnens mit "State of Game Preservation in 2010: A Survey of Game Preservation Programs in the United States and Abroad". Bereits stattgefunden haben 2010 daneben die nationale Jahreskonferenz der Popular Culture Association / American Culture Association sowie das Games Research Methods Seminar in Tampere, Finnland. Kurzfristig abgesagt wurde mangels Teilnehmerinnen und Teilnehmern dagegen die für Ende März angesetzte Women in Games Conference.
Ende April startet dann in Köln die erste diesjährige Konferenz der Game Studies in Deutschland, und zwar die dritte Ausgabe der Clash of Realities. Dort werden dann vor allem gesellschaftliche und psychologische Fragestellungen eine Rolle spielen. Dieses Jahr findet die Tagung in Kombination mit Next Level statt, einer Veranstaltung, die gleichzeitig Konferenz und Festival sein möchte und auf die Kunst im Spiel zielt. Auch die Vienna Game Conference wird fortgesetzt. Bereits zum vierten Mal widmet sie sich der "Future and Reality of Gaming", kurz F.R.O.G. Die Hamburg Media School, das Hans-Bredow-Institut für Medienforschung und die TU Ilmenau richten erstmalig einen Tag zum Thema Avatars and Humans. Representing Users in Digital Games aus, als Vorkonferenz der European Communication Conference (ECREA). Neu dazu kommt auch der Game Education Summit Europe. Er richtet sich speziell an die Organisatoren von Studiengängen im Bereich der Game Studies und des Game Designs.
Die Möglichkeiten zu Präsentation und Diskussion sind also in den Game Studies auch in 2010 zahlreich vorhanden. Begleiten werden die (kultur-)wissenschaftliche Forschung im Bereich der Computerspiele dabei mit Sicherheit weiterhin die Heterogenität des Feldes und die Komplexität des Gegenstandes. Genauso wie auch World of Warcraft. Es ist nicht nur eines der erfolgreichsten Online-Rollenspiele, sondern auch einer der beliebtesten Gegenstände in wissenschaftlichen Vorträgen. Auf der SW/TX PCA/ACA 2009 wurde schließlich sogar ein spontan ins Leben gerufener Sonderpreis für alle Vorträge vergeben, die Bezug auf World of Warcraft genommen hatten. Und auch auf der DiGRA Conference 2009 fanden sich allein acht Vorträge, die sich explizit mit dem Spiel beschäftigten. Wenn die Game Studies sich auch sonst nach wie vor im Fluss befinden, scheint zumindest dies ein stabiler Trend zu sein.
Name | Zeitraum | Ort |
---|---|---|
Konferenzen im deutschsprachigen Bereich | ||
Next Level | 20.—21.04.2010 | Köln |
Clash of Realities | 21.—23.04.2010 | Köln |
F.R.O.G. | 24.—26.09.2010 | Wien |
Avatars and Humans. Representing Users in Digital Games (Pre-conference zur ECREA) | 12.10.2010 | Hamburg |
Jahreskonferenz der GfM | 30.09.—02.10.2010 | Weimar |
Internationale Konferenzen und weitere Veranstaltungen | ||
Workshop "Medialität des strategischen Spiels" | 05.—06.02.2010 | Braunschweig |
SW/TX PCA/ACA | 10.—13.02.2010 | Albuquerque, USA |
PCA/ACA National Conference | 31.03.—03.04.2010 | St.Louis, USA |
Games Research Methods Seminar | 08.—09.04.2010 | Tampere, Finnland |
DIGITEL | 12.—16.04.2010 | Kaohsiung, Taiwan |
DIGAREC Wissenschaftsforum der Deutschen Gamestage | 29.04.2010 | Berlin |
Game to Learn | 30.04.2010 | Dundee, England |
6th Games for Health Conference | 25.—27.05.2010 | Boston, USA |
Ludotopia — Workshop on Spaces, Places and Territories in Computer Games | 27.—29.05.2010 | Kopenhagen, Dänemark |
CGSA Conference | 28.—29.05.2010 | Montreal, Kanada |
Under the Mask — Perspectives on the Gamer | 02.06.2010 | Luton, England |
Games+Learning+Society | 09.—11.06.2010 | Madison, USA |
Game Education Summit | 15.—16.06.2010 | Los Angeles, USA |
ACS Crossroads | 17.—21.06.2010 | Hongkong, China |
Game Education Summit Europe | 22.—23.06.2010 | Kopenhagen, Dänemark |
Videogames Culture & the Future of Interactive Entertainment | 07.07.—09.07.2010 | Oxford, England |
SIGGRAPH | 25.—29.07.2010 | Los Angeles, USA |
IADIS | 26.—28.07.2010 | Freiburg |
CGAMES | 28.—31.07.2010 | Louisville, USA |
Jahreskonferenz der GfM | 30.09.—02.10.2010 | Weimar |
Nordic DiGRA | 16.—17.08.2010 | Stockholm, Schweden |
Fun and Games | 15.—17.09.2010 | Leuven, Belgien |
Academic Mindtrek | 06.—08.10.2010 | Tampere, Finnland |
Meaningful Play | 07.—09.10.2010 | Michigan, USA |
ECGBL | 21.—22.10.2010 | Kopenhange, Dänemark |
The Online Videogame: New Space of Socialization | 28.—30.10.2010 | Montreal, Kanada |
SIGGRAPH Asia | 15.—18.12.2010 | Seoul, Südkorea |
Vorschau 2011 | ||
Computerspiele und (politische) Bildung in der Praxis | 31.03.—01.04.2011 | Universität Augsburg |
SW/TX PCA/ACA | 20.—23.04.2011 | San Antonio, USA |
April 2010
Bevorzugte Zitationsweise
Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.