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Web-Extra

Postfordistische Verführungen

Harmony Korines Spring Breakers mit Tiqqun

10.10.2014

Mit unverhohlener Faszination nimmt Harmony Korines Film Spring Breakers (USA 2012) die schaurig-schönen und verführerischen Bilder unter die Lupe, die der US-Mainstream seit Jahren generiert, und lotet Ordnungen des Begehrens und Mechanismen der Verführung aus. Der Beitrag schlägt vor, den Film einerseits als Remake zu begreifen, und ihn andererseits mit Hilfe des begrifflich-theoretischen Instrumentarium des französischen Theoretikerkollektivs Tiqqun zu lesen.

Im Jahr 1981 wird Britney Spears geboren und der Musiksender MTV geht erstmals auf Sendung. Fünf Jahre später, 1986, beginnt MTV mit seiner Spring Break-Berichterstattung: Wenn Hunderttausende amerikanischer College-StudentInnen an die Strände von Florida pilgern, um zu trinken und zu feiern, dann ist MTV von jetzt an dabei. Bis zu acht Stunden wird täglich live aus Daytona Beach gesendet – blauer Himmel, weißer Sand und ein Haufen spärlich bekleideter hardbodies, um es mit Bret Easton Ellis zu sagen. Noch einmal gute zehn Jahre später kommt 1997 das erste Video der Reihe Girls Gone Wild: Ultimate Spring Break auf den Markt, eine Art Reality-TV mit Softporn-Elementen, das mit dem Versprechen «Real Girls! Uncensored! Raw! Real! Uncut!» wirbt.1 Britney Spears, MTV und Girls Gone Wild – das sind ein paar der Koordinaten, in deren Kreuzungspunkt der Spielfilm Spring Breakers von Harmony Korine angesiedelt ist.2 Mit unverhohlener Faszination nimmt Spring Breakers die schaurig-schönen und verführerischen (Menschen-, Körper-, Frauen-)Bilder unter die Lupe, die der US-Mainstream seit Jahren generiert. Gegenstand dieser Filmbilder sind in gewisser Weise also wiederum Bilder: im Zentrum von Spring Breakers steht die Auseinandersetzung mit einem kulturindustriell gefertigten und massenmedial zirkulierten Bilderfundus, der einem Programm der Nachstellung und Imitation, der Überzeichnung und Übererfüllung unterzogen wird. Anschauliches Beispiel hierfür ist der knapp zweiminütige Prolog von Spring Breakers, der – untermalt von einem höllisch lauten EDM-Soundtrack3 – einen obszönen Reigen fitnessgestählter und halbnackter Spring Breaker-Körper in lasziven Posen und anzüglichen Gesten zeigt.

Das ist Mimikry an den Fernseh- und Videobildern von MTV und Girls Gone Wild und zugleich deren Verfremdung und Überhöhung durch den Einsatz von Farbfiltern und Slow Motion. Andere Strand- und Party-Sequenzen von Spring Breakers wurden extra mit alten VHS-Kameras gedreht, um die Bilder nach «vintage MTV»4 aussehen zu lassen: «like having old spring break footage», erzählt Kameramann Benoît Debie.5 Es scheint Spring Breakers in der möglichst authentischen Nachstellung und Reproduktion dieser Fernsehbilder jedoch weniger um eine ironische Distanzierung oder parodistische Brechung zu gehen. Im Mittelpunkt des Films steht vielmehr ein genuines Interesse dafür, wie genau die Verführungen beschaffen sind, mit denen diese Bilder maximal normierter und optimierter Körper handeln, und worin genau die Reize bestehen, die diese Bilder offerieren. Mich interessiert im Folgenden, auf welche Weise Spring Breakers Ordnungen des Begehrens und Mechanismen der Verführung auslotet. Inwiefern beleuchtet Spring Breakers den Status Quo der rules of attraction, um es noch einmal mit Bret Easton Ellis zu sagen?

Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, werde ich einen längeren Umweg machen und dabei eine Richtung einschlagen, die zunächst nicht unbedingt naheliegend erscheinen mag: ich werde einen «Hypotext»6 und Vorläuferfilm zu Spring Breakers zur Diskussion stellen, der in der Rezeption des Film bislang gänzlich unberücksichtigt geblieben ist – zu sehr war und ist man damit beschäftigt, die zahllosen Bezüge zu Popkultur und New Media zu sortieren und zu analysieren, wie Korine das Kino auf andere Medien und Bildwelten hin öffnet, es auf ein schwindelerregendes «magma visuel»7 hin dezentriert: «Spring Breakers et un jeu vidéo, une chanson pop, ou un mélange de tout ce qui peut passer par les téléphones de ses héroïnes», schreibt Nicholas Elliott in den Cahiers du Cinéma, und fährt fort: «on pense aussi à une session Internet avec dix fenêtres ouvertes et iTunes en boucle».8 Doch obwohl auch Korine selbst die Einordnung von Spring Breakers in Film-Schubladen und Kino-Genealogien abwehrt und stattdessen die Pop(musik)-Affinitäten seines Films hervorkehrt – «Je ne pensais pas à d’autres films en préparant Spring Breakers. Le langage du film était plus proche de la musique, du clip»9 –, lässt sich Spring Breakers durchaus auch in den etwas angestaubten filmtheoretischen Kategorien von Genre oder gar Remake verhandeln. Seit den späten 1950er Jahren existiert in Hollywood ein «beach-movie genre», das als Subgenre eine Reihe von Filmen hervorgebracht hat, die den Spring Break zum Thema haben: den Anfang machte im Jahr 1960 die Komödie Where the Boys are, ein Film über vier junge College-Studentinnen aus dem Mittleren Westen, die sich trotz Geldmangels den Traum eines Spring Break in Florida erfüllen und dabei allerlei lustige Abenteuer (Musik, Männer, Alkohol) erleben.10 Die Ähnlichkeiten zwischen Spring Breakers und Where the Boys are sind unübersehbar und doch von kaum jemandem bemerkt worden – selbst der Topos vom ‹Spring Breaker vor dem Gesetz› – eine der ikonischen Szenen aus Korines Film – taucht bereits in Where the Boys are auf.11

Vor dem Gesetz I. Film-Still aus Where the Boys are, Regie: Henry Levin, USA 1960.

Vor dem Gesetz II. Film-Still aus Spring Breakers, Regie: Harmony Korine, USA 2013.

Was aber wäre damit gewonnen, Spring Breakers als eine Art Remake oder, vorsichtiger formuliert, als Umschrift von Where the Boys are zu diskutieren? Die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Filmen beschränken sich auf ein paar basale Plot-Konstruktionen; jenseits dieser Konvergenzen tun sich in filmästhetischer Hinsicht Gräben auf. Hinzu kommt, dass der Plot in Spring Breakers eine eher untergeordnete Rolle spielt, dass es da gewissermaßen um einen Fetzen Story geht, der notdürftig die narrative Blöße des Films bedeckt. Trotzdem will ich im Folgenden eine Lektüre von Spring Breakers entwickeln, die ihren Ausgang von einem Vergleich mit Where the Boys are nimmt, jenem ersten aller Spring-Break-Filme: ich will den Vergleich als heuristisches Experiment wagen, und wenn es am Ende nur darum gehen sollte, den Blick für die Differenzen zwischen beiden Spring Break-Filmen zu schärfen.12 Dahinter steht die Hoffnung, dass die Begehrensordnungen, Verführungsmechanismen und Körperpolitiken, von denen Spring Breakers erzählt, in der diachron verfahrenden Abgrenzung deutlicher zu Tage treten mögen als in einer Synopsis synchron zirkulierender Bilderströme.

Fangen wir jedoch mit Gemeinsamkeiten an: Spring Breakers wie Where the Boys are verdichten den Spring Break zur Chiffre generalisierter Verführung, zum allgemeinen Begehrenskatalysator. Beide Filme verknüpfen darüber hinaus die libidinös aufgeladene Reise ihrer jungen Protagonistinnen mit einem ökonomischen Subplot – es ist nicht genug Geld da. In Where the Boys are wird deshalb ständig gezählt, gespart und gerechnet: zu siebt bewohnen die jungen Frauen ein Doppelzimmer in Fort Lauderdale, und im Café bestellen sie nichts als heißes Wasser, in das heimlich mitgebrachte Teebeutel getunkt werden. In Spring Breakers wird ebenfalls gezählt und gerechnet, dann aber nicht gespart, sondern ein Fast-Food-Restaurant überfallen (mit Spielzeugpistolen). Beide Filme wissen also, dass der Spring Break utopische Strahlkraft besitzen mag, als kommodifizierte Auszeit aber gleichzeitig den Gesetzen des Marktes gehorcht: man muss bezahlen, um teilzuhaben. So verkoppeln und verquicken beide Filme das Libidinöse mit dem Ökonomischen und umgekehrt. Betrachtet man allerdings genauer, welche «libidinösen Ökonomien»13 die beiden Filme jeweils im Einzelnen entfalten, stößt man schnell auf grundlegende Differenzen.

In Where the Boys are – ein Film, der auch als «the ultimate expression of 50s man-chasing»14 bezeichnet wurde – dreht sich letztlich alles um die Frage, ob es den jungen Frauen gelingen wird, einen potentiellen Ehemann zu finden. Der Titel ist insofern lockender Wink mit dem Zaunpfahl, trägt aber darüber hinaus einen Kern historischer Wahrheit in sich. Denn auch wenn amerikanische Journalisten nicht müde werden, den Spring Break im Modus archaisierender und auto-ethnographischer Selbstzuschreibung als ‹rite de passage› zu apostrophieren und seine vermeintlichen Ursprünge bis ins antike Griechenland zurückzuverfolgen,15  so hat seine Entstehung ihren konkreten historischen Ort doch im Amerika der unmittelbaren Nachkriegszeit. Er ist ein veritables «post-World War Two development», und es scheint fast, als ob sich in diesen Anfangsjahren vor allem demobilisierte Soldaten oder eben nicht mehr mobilisierte junge Männer im Spring Break verlustiert hätten.16 Darauf könnte zumindest das krasse Geschlechterungleichgewicht hindeuten, das in den 1950er und 60er Jahren an den frühsommerlichen Stränden Floridas herrschte: Auf zehn männliche Spring Breaker kam damals nur eine weibliche Spring Breakerin.17 Im Fall von Where the Boys are gilt also: Kino-Mund tut Wahrheit kund und dabei sein Bestes, um dieses Geschlechterungleichgewicht abzuschaffen. Ausgestattet mit sexualpädagogischer Verhaltenslehre – der Film empfiehlt Zurückhaltung, besser noch Enthaltsamkeit, denn als ständige Bedrohung lauert in dunklen Ecken stets: der date rape –, geriert sich Where the Boys are als kleines Einmaleins der Paarproduktion, in dessen Rahmen Libido-Ökonomie vor allem Kanalisierung der Libido in ökonomisch sinnvolle Bahnen bedeutet: such dir einen, der Ivy League-Student ist. Da sitzen zwei Mädchen am Strand und stellen Vermutungen über die Provenienz vorbeiflanierender Männer an: «Princeton!» rät die eine, «No, Harvard, definitely», erwidert schwärmerisch die andere. Das Happy End von Where the Boys are besteht folgerichtig in der Produktion eines heterosexuellen Paares, das sich über den Spring Break hinaus die Treue halten will und darüber hinaus Ivy League-prämiert ist. Der blonden Merritt ist es gelungen, sich den gutaussehenden und reichen Ryan (Brown University) zu angeln, der am letzten Abend vor der Abreise klarstellt: «I don’t wanna know you for just a few days or a spring vacation. I’d like to know you for a long time.» Konkret kann er anbieten: «Lot of big things coming up this term: senior prom, house dance, graduation. Lot of big things. You think you could make a couple of them?» Daraufhin erklingt die Titelmelodie, «Where the boys are...», singt eine Frauenstimme, und das junge Paar darf sich küssen: The End.

Paarproduktion I. Film-Still aus Where the Boys are, Regie: Henry Levin, USA 1960.

In Spring Breakers hingegen sind die Begehrensströme völlig anders gelagert und scheinen weniger klar codiert. Viel offensiver als Where the Boys are stellt Spring Breakers in proto-pornographischer Weise die Körper seiner Bikini-bekleideten Protagonistinnen zu Schau (Kritiker argwöhnen: im Interesse eines «jungen männlichen Heteropublikum[s]»18), zeigt sich dafür aber höchst desinteressiert an heterosexueller Paarbildung und entbehrt auch jeder sexuellen Moral oder Verhaltenslehre: «not a single allusion is made to the possibility of [sexual] violence.»19 Das einzige Paar, das hier produziert wird und obendrein im roten Sportwagen dem Sonnenuntergang entgegenfahren darf, heißt Brit und Candy: The End.

Paarproduktion II. Film-Still aus Spring Breakers, Regie: Harmony Korine, USA 2013.

Wo die Jungs sind, where the boys are, scheint diesen Mädchen und diesem Film ziemlich gleichgültig zu sein. Das stimmt, und es stimmt nicht: natürlich bedient Spring Breakers heterosexuell codierte und dichotomisch strukturierte Blickregime, die sich mit den analytischem Werkzeug klassischer feministischer Filmtheorie säuberlich auseinanderdröseln ließen. Interessanter aber ist vielleicht die Tatsache, dass der Film – trotz aller «Fleischbeschau»20 – sich nicht in diesen dichotomischen Blick- und Begehrensordnungen erschöpft, dass er das Begehren nicht in der heterosexuellen Paar-Form seine Stillstellung, seinen Höhepunkt und Abschluss finden lässt. Wie also funktioniert das Begehren in Spring Breakers, wie ist die spezielle Art der Verführung organisiert, von der der Film erzählt?

Zur Diskussion dieser Fragen möchte ich auf ein begrifflich-theoretisches Instrumentarium zurückgreifen, das die Rede von der Libido-Ökonomie recht wörtlich nimmt: mit dem anarcho-revolutionären französischen Theoretikerkollektiv Tiqqun könnte man die eben beschriebene Differenz zwischen Where the Boys are und Spring Breakers auch als jene zwischen fordistischer und postfordistischer Verführung begreifen.21 Verführung fordistischer Art operiert Tiqqun zufolge mit festgelegten Orten und Momenten, wie beispielsweise jenen, die der Brown-Student Ryan in Where the Boys are anführt: «senior prom, house dance, graduation». Das Ziel dieser Verführung ist die «statische und proto-bourgeoise Paar-Form»22, also das «I’d like to know you for a long time», mit dem Where the Boys are endet. Postfordistische Verführung hingegen lässt sich mit Tiqqun als diffus und flexibel, als prekär und entritualisiert charakterisieren; sie hat «die Paar-Fabrik auf den ganzen gesellschaftlichen Körper und Zeitraum ausgeweitet»: «In diesem besonders fortgeschrittenen Stadium der totalen Mobilmachung ist jeder aufgerufen, seine ‹Verführungskraft› zu unterhalten...»23 Spring Breakers, so würde ich vorschlagen, ist ein Film über postfordistische Verführung, über eine Art Verführung also, die, ohne konkrete Objekte auskommt, ungerichtet ist und gerade deshalb ihren Aktionsradius ins Unermessliche erweitert hat: «Spring break forever, bitches...» lautet konsequenterweise das Mantra, das wieder und wieder von der Tonspur erklingt.

In Spring Breakers ist die Verführung allgegenwärtig und kapillar geworden, sie durchtränkt jedes Bild und jede Szene und lässt sich kaum mehr an konkreten Darstellungen oder Handlungen dingfest machen – dem Film wurde ein «surprising deficit of actual carnality» attestiert.24 Agent und Substrat dieser totalen Verführung sind die Protagonistinnen des Films, Brit, Candy, Cotty und Faith, die den gesamten Film hindurch konsequent halbnackt in neonfarbenen Bikinis herumstolzieren. Dass es sich bei diesen vier Spring Breakerinnen um einigermaßen seltsame Geschöpfe handelt, ist vielen KritikerInnen aufgefallen. Da wäre etwa die Tatsache, dass man die Mädchen «nur schwer auseinanderhalten kann», was den Film über weite Strecken zu einem verwirrenden und desorientierenden Rezeptionserlebnis macht.25 Darüber hinaus kichern und juchzen diese schwer auseinanderzuhaltenden Figuren in einem fort, aber sprechen kaum, und wenn sie sprechen, dann nur in hohlen Phrasen und leeren Floskeln, die in redundanter Repetition aus dem Off widerhallen – als generische Stimmen, die losgelöst von jedem individuellen Körper über die Filmbilder wandern. Die Logik der ‹Fleischbeschau› erfährt auf diese Weise immer wieder eine Irritation: die besondere Beschaffenheit der dargebotenen Objekte der Begierde lässt den begehrlichen Blick immer wieder abgleiten. Korines vier Spring Breakerinnen bleiben leere und flache Wesen, weniger Quell erotischer Verführung denn vielmehr deren Durchgangsstation, abstrakte Attraktionen – ohne Innerlichkeit, ohne Geschichte, ohne Selbst.

Damit durchbricht Spring Breakers ein hegemoniales Erzählmodell, das man provisorisch mit dem Namen Four Kinds of Girls fassen könnte. Von Louisa May Alcotts Roman Little Women aus dem späten 19. Jahrhundert über die TV-Serien Golden Girls, Sex and the City und Pretty Little Liars bis hin zu Lena Dunhams Girls präsentiert dieses Modell seinen Leserinnen und Zuschauerinnen vier möglichst gegensätzliche, gegeneinander gepolte Frauenfiguren: «In most worlds, there are four kinds of girls. Depending when and where and what in the West you’re watching, you can choose with whom to ID», schreibt Sarah Nicole Prickett und fährt fort: «We want to believe in this matrix. We hope to feel that making different choices – what to do with our bodies, our hair – will free us and set us apart.»26 De facto kommt den Identifikationsangeboten des Four Kinds of Girls-Modells, das sich als Wahlfreiheit und Möglichkeitsvielfalt ausgibt, eine gewisse Scheinheiligkeit zu, denn sie bringen eine Entweder-Oder-Logik ins Spiel, die letztlich restriktiv ist: Sei Hannah oder Marnie oder Jessa oder Shoshanna, sei Carrie oder Miranda oder Samantha oder Charlotte – alles kannst du nicht haben, alles kannst du nicht sein. Spring Breakers dagegen «implodes a century of fabulist foursomes», schreibt Prickett, «[it] is a story not of a girl group, but of a gang.»27 Die Matrix des Mädchen-Vierers – die im übrigen auch Where the Boys are strukturiert – gerinnt in Spring Breakers zur leeren Form: die vier Mädchen sind zwar noch da, irgendwie, aber die Logik der Individuation und Identifikation, der das Girl-Quartett normalerweise gehorcht, gerät aus den Fugen. Die Nicht-Individualität von Korines Vierer-Truppe hat zur Folge, dass diese Spring Breakerinnen kein aus individuierten Subjekten gefügtes Quartett mehr bilden.28 Stattdessen bewegen sich die vier ausnahmslos als Meute oder Bande: immer wieder zeigt die Kamera sie in zärtlicher Umarmung, als ungeschiedener Haufen ineinander verstrickter und verschlungener Gliedmaßen. Diese Spring Breakerinnen sind radikal dividuell, statt individuell.

Dividuell. Film-Still aus Spring Breakers, Regie: Harmony Korine, USA 2013.

Der Begriff des Dividuellen aber deutet darauf hin, dass es Spring Breakers mit seiner ununterscheidbaren Mädchenmeute nicht nur darum zu gehen scheint, ein überkommenes Erzählmodell zu dekonstruieren: «Die Individuen sind ‹dividuell› geworden...», schreibt Gilles Deleuze im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften und markiert das Dividuelle damit als Kennzeichen eines bestimmten Gesellschaftstypus’, der im Laufe des 20. Jahrhunderts – parallel zur Entwicklung dessen, was man Postfordismus genannt hat – die Disziplinargesellschaften abgelöst hat und nicht mehr mittels repressiver Einschließungsinstitutionen regiert, sondern vielmehr durch «Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen».29 Spring Breakers begreift die Institution des Spring Break als eine genau solche Kontrollform mit freiheitlichem Aussehen und spürt in der vermeintlichen Überschreitung die Konformität schlechthin auf: «Promiskuität oder deren Feier zum Beispiel fallen in Spring Breakers nicht...mit Freiheit zusammen, sondern eher mit Monotonie»,30 schreibt Dietmar Dath, und der englische Popkultur-Theoretiker Simon Reynolds fasst die Botschaft von Spring Breakers kurz und bündig zusammen als: «excess is normative and breaking loose just another set of chains».31

Mit den TheoretikerInnen von Tiqqun, von denen ich die Unterscheidung zwischen fordistischer und postfordistischer Verführung übernommen habe, lässt sich darüber hinaus darüber nachdenken, welche Subjektivierungsweisen den Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen entsprechen – eine Frage, die in letzter Instanz auch für Spring Breakers relevant sein wird. Tiqqun haben eine Figur erfunden, die sie das «Junge-Mädchen» nennen und als «Dreh- und Angelpunkt der ‹permissiven Dressur›» begreifen: «Das Junge-Mädchen  ist der zentrale Artikel des permissiven Konsums und des Freizeitmarktes».32 Was genau soll das sein, dieses Junge-Mädchen? Ein ganzes Buch haben Tiqqun ihm gewidmet: Ihre Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens sind ein wildes Konglomerat von apodiktisch vorgetragenen Aussagen, Zitaten und Bildern, eine situationistisch inspirierte Collage, deren aus verschiedensten Schrifttypen zusammengesetztes Schriftbild allein schon schwindeln macht. «Trash-Theorie» nennen die AutorInnen selbst das ganze und fügen hinzu: «man müsste da wirklich mal ein bisschen Ordnung hineinbringen.»33 Zusammengeschustert auf eine Art und Weise, die gleichermaßen fragmentarisch wie redundant ist, widersetzt sich die Theorie des Jungen-Mädchens jedem Versuch einer thetischen Zuspitzung. Wollte man eine solche dennoch versuchen, so würde sie in etwa lauten: Das Junge-Mädchen ist das exemplarische Subjekt unter den Bedingungen eines Kapitalismus, der sich zum anthropotechnischen Projekt gemausert hat, der Körper und Gefühle kolonisiert und Subjekte zu permanenter Selbstkontrolle und -optimierung, zu ständiger Selbstvermarktung und -verwertung auffordert. In Tiqquns polemischem Stakkato hört sich das so an: «Das Junge-Mädchen ist ein Konsumartikel, ein Dispositiv zur Aufrechterhaltung der Ordnung, ein Produzent von raffinierten Waren, ein unerhörter Verbreiter von spektakulären Codes, eine Avantgarde der Entfremdung, und es ist auch eine Zerstreuung.»34 In durchaus martialischer Rhetorik entwerfen Tiqqun das Bild eines Kapitalismus’, der seine Hegemonie auf das ganze gesellschaftliche Leben ausgeweitet und das Alltagsleben vollkommen in seine Kontrolle gebracht habe: ein «totaler Krieg», bei dem die Existenz jeder und jedes einzelnen zum «Schlachtfeld» werde.35 Indem das Junge-Mädchen sich auf sich selbst ausschließlich als Wert und Ware beziehe, gehorche es dem «Imperativ einer totalen Vermarktung der Existenz»,36 es erscheint als Kollaborateur, dessen restlose Affirmation und perfekte Verkörperung von konsumistischer Warenlogik und biopolitischem Kalkül die eigene und allgemeine Unterdrückung fröhlich und freiwillig vorantreibt. Biopolitisch meint hier «die Form eines Unterwerfungsprozesses der Menschen unter und durch ihre eigenen Körper», und wenn Tiqqun das Junge-Mädchen als «die elementare biopolitische Individualität» bezeichnen, dann vor allem deshalb, weil sie dem Jungen-Mädchen in seiner Konformität mit weiblichen Schönheitsidealen und hingebungsvollen Instandhaltung des eigenen «Körperkapitals» eine entscheidende Rolle in diesem System zusprechen: «Das Junge-Mädchen besetzt den Hauptknotenpunkt des gegenwärtigen Systems der Begierden», es hält einen repressiven Mechanismus am Laufen, der «viel mächtiger ist als die schlichte Macht des Zwangs: die gesteuerte Anziehung oder Attraktion.»37 Das Junge-Mädchen erscheint demnach bei Tiqqun als eine Art Köder oder Lockvogel, als Agent einer Verführung, die letztlich nichts anderes als Machtausübung, ja Regierungstechnik ist und Prozesse der Subjektivierung – im nach Foucault doppelten Sinne von assujettissement als Subjekt-Werdung wie Unterwerfung – ins Werk setzt: «Wie hätte es dem Kapitalismus gelingen können, die Affekte zu mobilisieren und seine Macht bis zur Kolonisierung unserer Gefühle und Emotionen zu molekularisieren, wenn das Junge-Mädchen sich nicht als Relais angeboten hätte.»38

Ich möchte vorschlagen, Spring Breakers als Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Subjektivierungsweisen verstehen, die jener von Tiqqun in nichts nachsteht und viele Überschneidungspunkte mit ihr aufweist: Korines Spring Breakerinnen sind Junge-Mädchen, wie sie – bei Tiqqun – im Buche stehen. Erst in diesem Kontext wird etwa die viel diskutierte Besetzungspolitik des Films plausibel, die mit Selena Gomez, Ashley Benson und Vanessa Hudgens drei der Mädchen in Spring Breakers von jungen Mainstream-Teenie-Stars spielen lässt, die die totale Vermarktung der eigenen Existenz repräsentieren. Und es ist in diesem Zusammenhang ebenso wenig Zufall, dass Spring Breakers immer wieder Britney Spears die Ehre erweist, die ihre Karriere, wie Selena Gomez und Vanessa Hudgens, als Disney-Jungstar begann und als vielleicht ultimative Verkörperung des Jungen-Mädchens gelten kann: «her example hovers over Spring Breakers like a presiding deity.»39 Viele der auffälligen Eigenheiten von Spring Breakers’ ebenso verführerischen wie abstrakten und dividuellen Mädchenfiguren machen plötzlich Sinn, wenn man sie als Versuche begreift, eine Subjektivierungsform ins Bild zu setzen, ihr einen Körper zu geben, sie in Szene zu setzen: ihr Vergnügungshunger («Das Junge-Mädchen bewegt sich wie eine lebendige Maschine, die vom Spektakel gesteuert wird und sich in Richtung des Spektakels bewegt.»40), ihre Verführungsmacht («Das Junge-Mädchen besetzt den Hauptknotenpunkt des gegenwärtigen Systems der Begierden.»41), ihre Leere («Das Innenleben des Jungen-Mädchens, das mit jedwedem Innenleben gleichgesetzt wird, ist so zu etwas Anonymen, Äußerlichem und Objekthaften geworden.»42), ihre Ununterscheidbarkeit («Der Wert des Jungen-Mädchens beruht...in seiner Austauschbarkeit. Der Wert des Jungen-Mädchens erscheint nur in seiner Beziehung zu einem anderem Jungen-Mädchen. Deshalb kommt es niemals allein.»43), ihre Sprachlosigkeit («Das Junge-Mädchen  spricht nicht, im Gegenteil, es wird vom Spektakel gesprochen. [...] Der rachitische Charakter der Sprache der Jungen-Mädchens ist...keineswegs ein praktisches Handicap, da diese Sprache nicht dazu gemacht ist, um zu sprechen, sondern um sich zu beklagen und sich zu wiederholen.»44) – am Ende auch ihre Gewalt (das Junge-Mädchen hat den «Charakter der Kriegsmaschine,...seine pneumatische Leere [kündigt] bereits seine künftige Militarisierung an.»45).

Tiqqun ziehen aus alledem die Konsequenz einer radikalen Feindschaft dem Jungen-Mädchen gegenüber: «Insgesamt bilden die Jungen-Mädchen schlichtweg den furchtbarsten Körper, den MAN bis heute gegen jede Heterogenität, gegen jede Anwandlung zur Desertion eingesetzt hat», sie markierten «den fortgeschrittensten Posten der Biomacht, mit seiner grauenhaften Fürsorglichkeit und der allumfassenden kybernetischen Befriedung»; Tiqqun resümieren: «Unter dem Anschein einer kichernden Neutralität bietet sich unserem Blick im Jungen-Mädchen das schrecklichste aller politischen Dispositive zur Unterdrückung dar.»46 Natürlich ist Tiqquns Theorie des Jungen-Mädchens in gewisser Weise selbst ein schreckliches Buch. Nicht nur wegen seines nöligen Entfremdungs-Diskurses, der in obsessiver Weise den Verlust von Authentizität und Innerlichkeit beklagt, nicht nur aufgrund seines aggressiven Anti-Hedonismus’ und seiner Verführungs-Phobie, sondern auch weil die vorgeblich so progressive Analyse immer wieder auf ganz traditionelle Geschlechterstereotypen und althergebrachten Frauenhass zurückfällt; stellenweise lese sich Tiqquns Text «like a theoretically inflected revenge manual for male nerds», urteilt eine Kritikerin.47 Von feministischer Seite sind Tiqqun deshalb kontrovers diskutiert worden. So merken Tiqqun zwar an, dass der Begriff des Jungen-Mädchens «selbstverständlich kein geschlechtlich differenzierter Begriff»48 sei, sondern Chiffre (sie sprechen auch von «Seh-Maschine»49) für Subjektivierungsimperative, denen Männer wie Frauen gleichermaßen unterliegen. Nichtsdestotrotz dominiert dann aber doch eine eindeutig gegenderte Rhetorik, die die Schwelle zur Misogynie immer wieder überschreitet: «Im Körper des Jungen-Mädchens gibt es keinen Platz für zwei», heißt es da, oder auch: «Das Junge-Mädchen hat tief in seinem Inneren den Charakter eines Tampons; es ist somit Träger jeder gebotenen Indifferenz und der ganzen notwendigen Kälte, die die Bedingungen des großstädtischen Lebens verlangen.»50 Was auch immer dieses Bild im einzelnen bedeuten mag oder soll – derart drastisch formuliertes Ressentiment kann drastische Reaktionen provozieren: «translating this book made me sick…it gave me migraines, made me puke», schreibt die amerikanische Übersetzerin von Tiqqun.51 Auf der anderen Seite ist ebenso evident, dass Tiqquns Kritik an heteronormativen Körperbildern und Selbstoptimierungsappellen mit feministischen Analysen viel gemein hat.52 Das hat zu der Überlegung geführt, ob es sich bei Tiqquns Theorie des Jungen-Mädchens um eine «ironic performance of misogyny» handeln könnte – ganz sicher könne man sich dabei allerdings nicht sein: «The rhetorical strategy of Theory of the Young-Girl is to remain undecidable: Its self-ironizing speaker refuses to settle the question of whether the book is in fact sexist or just impersonating someone sexist in order to make its point.»53

Eine etwas anders gelagerte Unentscheidbarkeit steht im Zentrum von Spring Breakers: es bleibt bis zum Schluss offen, wie der Film zum Jungen-Mädchen steht. Ob Spring Breakers auf eine Dekonstruktion oder doch auf eine Apotheose des Jungen-Mädchens abzielt, kann kaum geklärt werden, weil sich Korines Film jeder Festlegung auf eine eindeutige Aussage entzieht. Damit mutet Spring Breakers’ Nachdenken über das Junge-Mädchen deutlich weniger phobisch an als das von Tiqqun, es bedient sich aber einer Reihe ähnlicher rhetorischer und ästhetischer Kunstgriffe: das radikale Offenhalten einer grundlegenden Unentscheidbarkeit wäre hier ebenso zu nennen wie der Hang von sowohl Korines Film als auch Tiqquns Theorie hin zum Obszönen und Viszeralen (man denke an den Tampon bei Tiqqun und die vielen grellen Momente von «tits’n’ass»54 in Spring Breakers), also der Versuch, intensive, präsentische und extrem körperbezogene Formen der Involvierung bei LeserIn bzw. ZuschauerIn herzustellen.55 Nicht zuletzt ähneln sich beide Werke auch in dem ganz konkreten Verfahren, mit dem sie zeitgenössische Subjektvierungsweisen über die Collage dekontextualisierter und generischer (Frauen-)Stimmen zu evozieren suchen.56

Angesprochen ist damit schließlich und endlich die Frage nach den konkreten filmästhetischen Verfahren, mit denen Spring Breakers’ Erkundung jung-mädchenhafter Subjektivitäten vor sich geht – Schlagkraft entwickelt diese nämlich nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie auf der Ebene der Repräsentation, sondern vielmehr in formaler Hinsicht. In diesem Punkt unterscheidet sich Spring Breakers von Filmen wie etwa Sofia Coppolas The Bling Ring, der zwar in ähnlicher Weise an der Problematik des Jungen-Mädchens interessiert zu sein scheint, es aber nicht schafft, dieses Interesse auch filmästhetisch produktiv zu machen.57 Spring Breakers dagegen findet eine filmische Form, die sich der Figur des Jungen-Mädchens als Chiffre postfordistischer Verführung und kontrollgesellschaftlicher Subjektivierung anschmiegt und sie in Gefüge von Bildern und Tönen übersetzt, die jeden Abbildrealismus weit hinter sich lassen. «[C]’est beau, c’est lisse comme un bonbon, hermétique, froid, pop, et séducteur», umschreibt Korine in den Cahiers du Cinéma sein visuelles Konzept, das intensiv farbige und leuchtende Bilder zu attraktiven Oberflächen konstelliert, in denen Verführung haptisch wird.58 Die konkrete Verknüpfung und Montage dieser attraktiven und verführerischen Bilder operiert dabei mit einem Verfahren, das Korine als «Mikroszene» bezeichnet und folgendermaßen umschreibt: «Si un dialogue durait une minute, j’essayais de l’étirer ou de le réduire à quelque chose de très simple ou de le répandre à cinq ou six endroits comme une accroche musicale ou un mantra.»59 Mikroszenen sind also das Resultat einer beliebigen Zerdehnung oder Zerstückelung, Verschiebung oder Verdichtung und vor allem Wiederholung von kurzen Dialogpartien, deren ursprünglich im Drehbuch fixierte Form dabei aufgebrochen wird. Übrig bleiben Wortfetzen, Satzbausteine  und Szenenbruchstücke, dürftige Dialogrudimente, in deren unablässiger und beschwörender Wiederholung («Spring Break, Spring Break...!») sich die Sprache entleert und zerfasert. Korines zerdehnte und zerstückelte Mikroszenen haben weder Anfang noch Ende; stattdessen gehen sie ineinander über, tröpfeln aus, ebben ab, werden später an anderer Stelle vielleicht wieder aufgenommen: sie sind in gewisser Weise formlos, aufgesplittert über den gesamten Film, verteilt, teilbar – dividuell. Das Konzept der Mikroszene kann damit als Grundbaustein einer Ästhetik des Dividuellen begriffen werden, in der die dividuelle Subjektivierung des Jungen-Mädchens ihre Entsprechung, ihren sinnlichen Ausdruck und filmästhetische Umsetzung findet. Dabei produzieren die ständige Verschiebung und Wiederholung von Mikroszenen immer wieder Vorgriffe und Flashbacks, sie führen zu Asynchronien von Ton- und Bild, durchbrechen die lineare Abfolge von Ereignissen und unterminieren die Chronologie und Konsistenz der erzählten Zeit. Konsequent verweigert sich Spring Breakers so jeder kohärenten Narration und zielt stattdessen auf eine «post-narrative Erfahrung»60, die zugleich auch eine «post-dialogische» ist: «il y a très peu de texte. Les filles ne parlent quasiment pas. Qu’est-ce qu’elles auraient pu dire? Ce n’est pas un film pour ‹dire›, c’est une expérience.»61 Indem Korine den Film hier weniger als Erzählung denn als Erfahrung oder Erlebnis definiert, eröffnet sich zudem eine weitere Perspektive auf die Mikroszene als Element einer Ästhetik des Dividuellen, eine Perspektive, die Korines Verweis auf die Musik oder das Mantra als Vorbild für das Arrangement der Mikroszenen –«comme une accroche musicale ou un mantra»62  – beim Wort nimmt. In ihrer rhythmisierten und rhythmisierenden, an elektronischer Musik, Rap und Sampling orientierten Wiederholungsstruktur lassen sich die Mikroszenen nämlich auch als Trancetechniken beschreiben, als Techniken der Trance-Induktion, die einen quasi-hypnotischen Sog produzieren.63 Spring Breakers adressiert seine Zuschauer damit weniger als sich ihrer selbst bewusste Subjekte, sondern packt sie irgendwo knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle: in der trance-induzierten Auflösung und Ablenkung des Bewusstseins erweist sich das Individuum, in diesem Fall das Zuschauer-Individuum, erneut als dividuell. Dabei schwemmt die Trancetechnik der Mikroszene jedes Streben nach einem festen und sicheren Ort der Kritik genauso mit sich fort, wie sie Zuschauer-Bewusstseine unterläuft. Die Welt von Spring Breakers, schreibt Diederich Diederichsen, «kennt kein beobachtendes Außen mehr».64 Stattdessen bejaht und bekennt sich der Film zur eigenen Verstrickung in jenes System der Verführungen und Begierden, welches Tiqqun mit dem Begriff des Jungen-Mädchens belegt haben, und nimmt so eine Haltung radikaler Immanenz ein. Auf Grundlage der Mikroszene entwickelt Korines Spring Breakers also eine Ästhetik des Dividuellen, die die dividuelle Subjektivierung des Jungen-Mädchens in Bilder und Töne fasst, eine Ästhetik, die post-narrativ ist, über Wiederholungen funktioniert und sich in Immanenz übt: «Das Junge-Mädchen will keine Geschichte. [...] Das Junge-Mädchen schwelgt im Déjà-vu. [...] Das Junge-Mädchen schwimmt ohne Atemgerät in der Immanenz»,65 schreiben Tiqqun, und es scheint, als hätte Spring Breakers diese drei Sätze zu den Leitlinien der eigenen Poetik erhoben.

  • 1Vgl. Rebecca Mead, Endless Spring. How much spring break can anyone stand?, in: The New Yorker, dort datiert 1.4.2002, http://www.newyorker.com/archive/2002/04/01/020401fa_FACT, gesehen am 15.4.2014.
  • 2Spring Breakers, Regie: Harmony Korine, USA 2012.
  • 3Vgl. zur programmatischen Musikauswahl von Spring Breakers Simon Reynolds, You only live once, in: Sight & Sound, 23/5, 2013, 26–31.
  • 4Thomas Doherty, Spring Breakers, in: Cineaste, 38/3, Sommer 2013, 45–46, 45.
  • 5Iain Stasekevich, Girls Gone Wild. Interview with Benoît Debie, in: American Cinematographer, 94/6, Juni 2013, 26–31, 26. Debie war unter anderem übrigens auch Kameramann für Gaspar Noés Irréversible (Frankreich, 2002) und Enter the Void (Frankreich, 2009); insbesondere letzterer weist mit seiner intensiven Farbigkeit und Schwarzlichtästhetik Ähnlichkeiten zu Spring Breakers auf.
  • 6Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1993.
  • 7Vgl. zu Korines Einflüssen von außerhalb des Kinos: Joachim Lepastier, Korine en Morceaux, in: Cahiers du Cinéma, Heft 687, März 2013, 20–21.
  • 8Nicholas Elliott, Spring Break à Nashville, in: Cahiers du Cinéma, Heft 687, März 2013, 6–14, 11 und 12.
  • 9Korine zitiert nach Elliott, Spring Break à Nashville, 12.
  • 10Where the Boys are, Regie: Henry Levin, USA 1960, unter anderem mit Paula Prentiss, Connie Francis und George Hamilton. Vgl. zum «beach-movie genre» und zu weiteren Spring Break-Filmen: Mead, Endless Spring.
  • 11Einzige Ausnahme bildet der Film Comment, in dem Michael Chaiken kurz auf die Korrespondenzen zwischen beiden Filmen hinweist: «Updating the basic premise of the 1960 genre-definig spring break movie Where the Boys are, Spring Breakers introduces us to...undergraduates at an unspecified provincial university who are long on boredom and short on cash.» Michael Chaiken, The Dream Life. Spring Breakers Takes the Children of Bush and Adderall Down the Road of Excess, in: Film Comment, 2/48, März/April 2013, 30–33, 32.
  • 12Where the Boys are ist außerdem ein interessanter Film, weil er konstitutiv für die Durchsetzung der Institution Spring Break überhaupt war: Erst durch den Erfolg von Where the Boys are wurde die Frühjahrs-Reise nach Florida zum Breitensport. Besuchten 1959, vor Erscheinen von des Films, 20.000 Studenten Fort Lauderdale, so waren es 1961, nach Erscheinen des Films, bereits mehr als doppelt so viele, nämlich 50.000. Vgl. Ashley Doiron, Michael Dawson und Catherine Gidney, «The Students Swarm to these Peaceful Shores in Droves»: An Historical Overview of the Postwar Spring Break Phenomenon, in: Historical Studies in Education, 24/1, 2012, 1–20, 4. Vgl. auch Pagan Kennedy, Who Made Spring Break? in: The New York Times, dort datiert 22.3.2013, http://www.nytimes.com/2013/03/24/magazine/who-made-spring-break.html?_r=0, gesehen am 15.4.2014.
  • 13Vgl. Jean-François Lyotard, Libidinöse Ökonomie, Berlin, Zürich (Diaphanes) 2007.
  • 14Camille Paglia, It’s A Jungle Out There, ursprünglich 1991 in der Zeitschrift New York Newsday erschienen, wieder abgedruckt unter anderem in: William Vesterman u.a. (Hg.), Readings for the 21st century, Needham Heights (Allyn & Bacon) 2000, 229–233.
  • 15Vgl. die leicht kokette Aussage: «Like Western democracy, Socratic philosophy, witten histories, epic poetry, and every other foundational pillar of high culture, spring break began in ancient Greece.» Derek Thompson, 2,000 Years of Partying: The Brief History and Economics of Spring Break, in: The Atlantic, dort datiert 20.6.2012, http://www.theatlantic.com/business/archive/2012/06/the-economic-history-of-the-last-2000-years-part-ii/258762/, gesehen am 15.4.2014.
  • 16Doiron, Historical Overview, 4.
  • 17Vgl. Doiron, Historical Overview, 4.
  • 18Manfred Hermes, Mehrdeutigkeit ohne Mehrdeutigkeit, in: Texte zur Kunst, Heft 90, Juni 2013, 194–198, 195.
  • 19Ayesha Siddiqi, Bikini, Kill, in: Sarah Nicole Pickett und Malcolm Harris (Hg.), Spring Break Forever. Free Supplement, in: The New Inquiry, http://www.thenewinquiry.com/tag/spring-break-forever/, gesehen am 15.4.2014, 10–12, 11. Vgl. auch Dietmar Dath: «Die erste Filmhälfte zeigt uns die rasante Enthemmung des Mädchenquartetts; die zweite wird ja dann wohl die Rechnung präsentieren – Absturz, Missbrauch, schiefe Bahn, Drogenstrich, Buße. Nichts da: Pippi Langstrumpf darf alles.» Dietmar Dath, Pippi Langstrumpf auf Crack, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, dort datiert 21.3.2013, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/im-kino-spring-breakers-pippi-langstrumpf-auf-crack-12122074.html, gesehen am 15.4.2014.
  • 20Dietrich Kuhlbrodt, Ficken, Kotzen, Regeln brechen, in: Konkret, Heft 3, 2013, 47.
  • 21Tiqqun, Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens, Berlin (Merve) 2009, 128.
  • 22Tiqqun, Grundbausteine, 128.
  • 23Tiqqun, Grundbausteine, 128.
  • 24Reynolds, You only live once. Vgl. auch Doherty, Spring Breakers und Hermes, Mehrdeutigkeit ohne Mehrdeutigkeit.
  • 25Hermes, Mehrdeutigkeit ohne Mehrdeutigkeit, 195. Vgl. auch Doherty, Spring Breakers, 45.
  • 26Sarah Nicole Prickett, Introduction, in: Sarah Nicole Pickett und Malcolm Harris (Hg.), Spring Break Forever. Free Supplement, in: The New Inquiry, http://www.thenewinquiry.com/tag/spring-break-forever/, gesehen am 15.4.2014, 7–8, 7. Girls ist seiner Reproduktion des Modells schon recht selbstironisch: in einer der ersten Folgen fragt Shoshanna Jessa, als was für einen Typ Frau sie sich selbst begreife: Carrie oder Miranda oder...?
  • 27Prickett, Introduction, 8.
  • 28Vgl. Prickett, Introduction, 8.
  • 29Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1993, 254–260, 255.
  • 30Dath, Pippi Langstrumpf auf Crack.
  • 31Reynolds, You only live once, 31.
  • 32Tiqqun, Grundbausteine, 95, 96. Im französischen Original ist die Rede von «Jeune-Fille», die Assoziation mit Modellen des Androgynen oder Hermaphroditischen schwingt also nur in der deutschen Übersetzung mit. Gut zur allgemeinen Einführung in Tiqquns Text ist Adam Morris, Drone Warfare: Tiqqun, the Young-Girl and the Imperialism of the Trivial, in: Los Angeles Review of Books, dort datiert 30.9.2012, http://www.lareviewofbooks.org/review/drone-warfare-tiqqun-the-young-girl-and-the-imperialism-of-the-trivial, gesehen am 15.4.2014.
  • 33Tiqqun, Grundbausteine, 21. Zitiert werden u.a. Baudrillard, Gombrowicz, Kracauer, Horkheimer und Adorno, Foucault sowie diverse Frauenmagazine.
  • 34Tiqqun, Grundbausteine, 107.
  • 35Tiqqun, Grundbausteine, 11.
  • 36Tiqqun, Grundbausteine, 82.
  • 37Tiqqun, Grundbausteine, 94, 92, 38, 92.
  • 38Tiqqun, Grundbausteine, 91.
  • 39Chaiken, The Dream Life, 33.
  • 40Tiqqun, Grundbausteine, 92.
  • 41Tiqqun, Grundbausteine, 38.
  • 42Tiqqun, Grundbausteine, 24.
  • 43Tiqqun, Grundbausteine, 71.
  • 44Tiqqun, Grundbausteine, 24, 33.
  • 45Tiqqun, Grundbausteine, 106. Der Begriff der Kriegsmaschine stammt aus Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris Tausend Plateaus und markiert das Buch, neben Guy Debords Gesellschaft des Spektakels und Foucaults Studien zur Biomacht, als wichtigen Stichwortgeber für Tiqquns Theorie des Jungen-Mädchens.
  • 46Tiqqun, Grundbausteine, 92.
  • 47Nina Power, She’s just not that into you, in: radical philosophy, http://www.radicalphilosophy.com/web/rp177–shes–just–not–that–into–you, gesehen am 15.4.2014.
  • 48Tiqqun, Grundbausteine, 14. Tiqqun nennen Berlusconi als Beispiel für ein Junges-Mädchen männlichen Geschlechts.
  • 49Tiqqun, Grundbausteine, 14.
  • 50Tiqqun, Grundbausteine, 69 und 96.
  • 51Ariana Reies, Translator’s note, in: Triple Canopy, dort datiert 22.5.2012, http://www.canopycanopycanopy.com/16/preliminary_materials_for_a_theory_of_the_young_girl, gesehen am 15.4.2014.
  • 52So zieht Hilary Malatino eine Verbindung zwischen den Interventionen der punk-feministischen Riot Grrrls in den USA und Tiqquns ungefähr zeitgleich Ende der 90er formulierten Theorie des Jungen-Mädchens: «Tiqqun’s writing echo, nearly point for point, a corpus of political critique scattered across...the agglomeration termed Riot Grrrl.» Hilary Malantino, The Becoming-Woman of the Young-Girls: Revisiting Riot Grrrl, Rethinking Girlhood, in: Rhizomes, http://www.rhizomes.net/issue22/malatino.html, gesehen am 15.4.2014.
  • 53Moira Weigel und Mal Ahern, Further Materials Toward a Theory of the Man-Child, in: The New Inquiry, dort datiert 9.7.2013, http://www.thenewinquiry.com/essays/further-materials-toward-a-theory-of-the-man-child/, gesehen am 15.4.2014, kursiv im Original.
  • 54Hermes, Mehrdeutigkeit ohne Mehrdeutigkeit, 198.
  • 55Robin Curtis, Viszeralität und Monotonie: Girls, Spring Breakers, in: Pop. Kultur und Kritik, Heft 3, Herbst 2013, 66–70, 69.
  • 56«‹Ich fände es toll, wenn alle Leute schön wären.› [...] ‹Es ist mir egal, ob ich frei bin, solange ich glücklich bin!› [...] ‹Ich mache mit meinen Haaren, was ich will!›», steht verstreut in Tiqquns Text zu lesen. Tiqqun, Grundbausteine, 23, 40 und 47.
  • 57The Bling Ring, Regie: Sofia Coppola, USA 2013.
  • 58Korine zitiert nach Elliott, Spring Break à Nashville, 11.
  • 59Korine zitiert nach Elliott, Spring Break à Nashville, 11. Korine gibt hier zudem an, erstmals im Rahmen von Werbefilmen mit Mikroszenen experimentiert zu haben: «je jouais avec l’idée de micro-scènes dans mes pubs.»
  • 60Curtis, Viszeralität und Monotonie, 68.
  • 61 Korine zitiert nach Elliott, Spring Break à Nashville, 12.
  • 62Korine zitiert nach Elliott, Spring Break à Nashville, 11.
  • 63Vgl. zum Kino als Trancetechnik: Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, Berlin (Brinkmann & Bose) 2002.
  • 64Diederich Diederichsen, Bikini Riot, in: Die Tageszeitung, dort datiert 20.3.2013, http://www.taz.de/!113166/, gesehen am 15.4.2014.
  • 65Tiqqun, Grundbausteine, 93, 40 und 113.

Bevorzugte Zitationsweise

Meilicke, Elena: Postfordistische Verführungen. Harmony Korines Spring Breakers mit Tiqqun. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/postfordistische-verfuehrungen.

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