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GAAAP_ The Blog

#NotHeidisGirl – oder doch?

Wir sind alle Heidis Mädchen

28.10.2017

#IchbinGNTM2018 und #NotHeidisGirl

«Aufgepasst Mädels!» – seit dem 9. August 2017 sind junge Frauen aufgerufen, sich für die Teilnahme bei Germany’s Next Topmodel 2018 zu bewerben.1 Die Bewerberinnen können hierfür ihre Fotos auf der Social Media-Plattform Instagram posten und mit dem Hashtag #ichbinGNTM2018 in die Sammlung der potentiellen Kandidatinnen einfügen, aus der dann eine Vorauswahl für die eigentliche Castingshow getroffen wird. Die Jugendzeitschrift Bravo, die in ihrem Onlineartikel «Alle News zur 13. Staffel» verbreitet, nominiert vorab vier Frauen als ihre Favoritinnen. Die Wahl fällt auf vier perfekt ausgeleuchtete Fotografien (eine wurde nun von Instagram entfernt). Zwei sind Selfies (dieses und dieses) mit dem charakteristischen Arm, der den Bildrand verlässt, da in der Hand die Kamera liegt, mit der die junge Frau sich selbst in den Blick nimmt. Das dritte könnte eine Aufnahme mit Selbstauslöser sein. So ein Foto ist Arbeit – Arbeit am Körper und Arbeit des Fotografierens. In einem YouTube-Video erklärt der Star Kim Kardashian, wie sie das perfekte Selfie macht. Die Expertin der Selbstdarstellung beendet das kurze Erklärvideo mit dem erstaunlichen Satz «and I just pose away and take about 300 photos until I get the perfect selfie».2

Keine junge Frau, die sich der soziomedialen Aufgabe stellt, auf Instagram gut auszusehen, unterschätzt den Aufwand hinter einem guten Selfie. Es ist ein Prozess der rigiden und ausdauernden Selbstbegutachtung, des Posierens und der Selektion. Die jungen Frauen, die sich für einen Auftritt im Fernsehen bewerben, sind Expertinnen der Selbstdarstellung und des Schönheitshandelns. Sie bewerben sich für einen Job, der genau dies von ihnen verlangt. Für die vier Bravo-Favoritinnen gibt es auf Instagram Herzchen und Smileys für den tollen Stil, die Schönheit, die Natürlichkeit des Aussehens. Sie erhalten zwischen 277 und 1345 Likes (Stand 27.10.2017) – Aufmerksamkeit und Komplimente, die symbolischem Kapital entsprechen, das sich vielleicht mit einem Modelvertrag in tatsächliches Kapital umsetzen lässt, so das Versprechen, doch «nur eine kann Germany’s Next Top Model werden»…

Im Oktober hat das feministische Kollektiv Vulvarines, das zur sozialistischen Jugend Die Falken Mönchengladbach gehört, zu einer Gegenaktion aufgerufen: In drei Schritten und unter Verwendung mindestens zweier Hashtags wird ein Social-Media-Protest lanciert, der durch die Nennung des Bewerbungs-Hashtags #ichbinGNTM2018 die Aufmerksamkeit für GNTM verwendet, um sodann mit dem Hashtag #NotHeidisGirl die Unterordnung unter die Maßgaben der Show zu verweigern.

Hier der vollständige Aufruf, der über die Sozialen Medien verteilt wird:

#ichbingntm2018 #iamnot #iamnotgntm2018 #notheidisgirl #notmycompetition #sisterhood #everydaybeautiful #grlpwr #vulvarines #iamnothereforyourentertainment #supportyourlocalgirlgang #girlgang #smashingpatriarchyismycardio #instagood #selfietime #happyme #follow
1. Mache ein Foto von dir, auf dem du ganz du selbst bist. Auf dem Foto hältst du ein Blatt Papier in der Hand, auf dem steht «#notheidisgirl, weil...» und kurz zusammenfasst, warum du nicht Heidis Mädchen sein willst und das Format Germanys Next Topmodel ablehnst.
2. Poste das Foto auf Instagram, Facebook und/oder Twitter mit den Hashtags, die wir oben verwendet haben. Welche Hashtags du verwendest, bleibt dir überlassen. Wichtig ist, dass du das Bild auf jeden Fall unter dem Hashtag #ichbingntm2018 postest, damit es unter den üblichen Bildern zur Qualifikation «Heidis Mädchen» zu werden auftaucht und ein Zeichen setzt.
3. Nominiere in deinem Post 5 weitere Personen (alle Geschlechter), die sich innerhalb einer Woche der Kampagne anschließen und wie du ein Bild posten.
WICHTIG: Jeder Post, der darauf aufmerksam macht, dass es nicht ok ist, welche utopischen Schönheitsideale Germany's Next Top Model vertritt und wie es Menschen jeglichen Geschlechts unter Druck setzt, setzt ein Zeichen und ist deshalb wertvoll! Je mehr wir sind, desto stärker die Botschaft!

Neben den Bildern von ernsthaften Bewerberinnen finden sich nun Aufnahmen von Frauen und seltener Männern, die ihre Kritik an GNTM äußern und ihre Selbstinszenierung als ein Gegenbild ausstellen, das zugleich zum anderen Vorbild wird.

Hashtags NotHeidisGirl IchBinGNTM2018

Ganz du selbst und ganz natürlich

Auf bento, dem jungen online-Format des Spiegel, schreibt Katharina Hölter über die netzfeministische Aktion: «Diese Frauen haben keinen Bock, Heidis ‹Meeeeedchen› zu sein.» Die Zuschreibung, die ernsthaften Bewerber_innen seien sowohl infantile «Mädchen» als auch in einem Besitzverhältnis zu Klum (nicht etwa auch zu Thomas Hayo oder einem der anderen öffentlich auftretenden Juroren), wird so wiederholt und, wenn auch ungewollt, bekräftigt.3 Hölter paraphrasiert die oben zitierte Aufforderung der Vulvarines, ein Foto zu machen, auf dem «du ganz du selbst bist», und wandelt sie in den Satz: «Ein Foto posten, auf dem man ganz natürlich aussieht.» Diese Verschiebung von «du selbst sein» zu «ganz natürlich aussehen» ist bemerkenswert. Die Beschwörung der Authentizität, die von einer Sehnsucht nach Befreiung aus dem Status des Schauobjekts getragen ist, verwendet Begriffe, die auch in der Show GNTM geprägt werden.

In beinahe jeder Staffel wird in der ersten Episode, die das Massencasting zum Inhalt hat, ein «Mädchen», das «zu extrem» geschminkt sei, zum Abschminken aufgefordert.4 Zugekleistert solle man nicht sein, nicht zu blond gefärbt, nicht zu auffällig gestylt – bloß nicht «künstlich» wirken. Das «Übertreiben» mit Makeup und Blondiercreme wird zum Geschmack, der als unnatürlich-extreme Sichtbarkeit markiert und Geschmacklosigkeit abgewertet wird. Die junge Frau solle sich nicht hinter Makeup verstecken, sondern sich selbst zeigen, auf ihre Schönheit vertrauen. Das regelmäßig inszenierte Ab- und Umschminken, das von einer Selbstreflektion der Kandidatin begleitet ist, die ihren Körper und ihr Bild für die Kamera kommentiert, und sich eifrig den professionellen Stylingtipps der Jury übergibt, verdeutlicht eine kulturwissenschaftliche Grundlage: auch das natürliche Aussehen ist Effekt einer Einpassung in Standards der vergeschlechtlichenden Körper- und Kulturtechniken des Schönheitshandelns und der Darstellungskonvention.5 Die Zuschreibungen des extremen zu blond, zu sexy, zu viel, das häufig als ‹prollig› markiert wird, lassen die spezifisch standardisierte «Natürlichkeit» als bürgerliche und eine besonders gezähmte Form von Kultivierung erkennen, die sich bestimmten, sehr weiblichen Idealen (Mäßigung, Zurückhaltung etc.) verpflichtet zeigt.

Die feministische Konteraktion unter dem Hashtag #NotHeidisGirl verwendet nun die gleichen Formeln der Authentizität, welche das Extrem der Modelschönheit als künstliches, als zu starke Zurichtung markieren, unter der junge Frauen zu leiden haben (der Imperativ kann wörtlich genommen werden). Die (Ein)Passung in das Ideal der Fernsehshow wird abgewehrt. Die Unterstützer_innen der Kampagne stellen ihre Körperbilder einem vereinheitlichenden Schönheitsideal entgegen.

Arbeiten am und mit dem Körper

Auf bento findet sich, wie bei der Bravo, eine Auswahl an Bildern, die sich unter den Hashtags #ichbinGNTM2018 und #NotHeidisGirl versammeln. Sie zeigen junge Frauen, die statt eines gesenkten Kinns und Blicks von unten nach oben – eine Pose, die maßgeblich auf Kim Kardashians Tipps zurückzuführen ist – frontal in die Kamera blicken. Eine blonde Frau mit Brille macht eine Schnute, die sie verschmitzt zur Seite zieht und so, mit gehobenen Augenbrauen, eine Grimasse zeigt. Auf ihrem DinA-4-Blatt, das sie vor ihren Hals hält, steht in getippten Buchstaben «#NotHeidisGirl Weil man wahre Schönheit nicht mit den Augen sieht». Eine weitere blonde Frau mit Nasenpiercing nimmt sich schräg von der Seite auf. Sie verdeckt ihr gehobenes Kinn mit dem handgeschriebenen Papier, das erklärt «#not Heidis girl #weil unperfekt perfekt ist». Sie steht vor einer weißen Kachelwand, das Foto ist körnig und lässt erkennen, dass sie es – entgegen der Tipps von Kardashian: «make sure that the lighting is amazing» – bei schwachem, künstlichem Licht aufgenommen hat. Es wirkt so weniger professionell, spontaner, das Gesicht leicht gerötet, die Haare matt-struppig. Den größten Aufwand bedeutete augenscheinlich die geschriebene Botschaft, auf die auch bento die Aufmerksamkeit richtet. Beide Fotos zeigen lediglich Gesicht und DinA-4-Papier; der Rest der weiblichen Körper verschwindet so hinter den Statements, die gleichsam Geist über Aussehen und eine Art authentischer Makelhaftigkeit gegen Makellosigkeit stellen.

Das dritte Bild in der elfzähligen Reihung, die bento vornimmt, zeigt eine der Vulvarines. Sie nimmt sich frontal vor einer weißen Raufasertapete auf, blickt ernst in die Kamera und hält vor ihre Brust das Din-genormte Papier mit ihrer Botschaft «#NOTHEIDISGIRL, weil Mädchen und junge Frauen nicht Anerkennung für ‹erfolgreiches› Hungern lernen sollen. Das ist gefährlich!» Die Vulvarine ist blond, schlank, hat eine ebenmäßige Haut, gepflegte, stylish frisierte Haare und überzeugt mit einem starken Gesichtsausdruck, der wohl auch für ein Fotoshooting brauchbar wäre. Die Zuschreibung des pathologischen Hungerns bei gleichzeitigem Zurschaustellen eines schlanken Körpers, der sich im Rahmen des Gesunden-Normalen bewegt, findet sich in vielen Postings unter dem Hashtag #NotHeidisGirl.

Die Gegenkampagne arbeitet selbst mit Differenzen, die im Rahmen eines bürgerlichen Wertesystems hierarchisiert werden. Innere Schönheit wird gegenüber äußerer Schönheit aufgewertet, gesunde Körper werden ‹krankhaft› dünnen übergeordnet, geistige Tätigkeiten werden ‹oberflächlicher› Körperarbeit entgegengesetzt. Die Betonung von Äußerlichkeiten wird abgewertet, GNTM wird Oberflächlichkeit zugeschrieben. Somit stehen gängigere Formen der Körperarbeit wie Schminken (GNTM) dem Ausdruck von positiven Gefühlen (#NotHeidisGirl) und Essstörungen (GNTM) einer Vielfalt von Körperformen (gesund, kurvig, genussvoll) gegenüber. Wörter wie «Magerwahn», die in vielen Besprechungen der Show gebraucht werden (hier oder hier oder hier) und die Betonung innerer Werte gegenüber einer vermeintlich krankhaften Äußerlichkeit verdecken dabei die von der Show unabhängig stattfindende Fixierung auf Körperarbeit und ihrer Überhöhung als Wert an sich in der neoliberalen Leistungsgesellschaft. Die Abgrenzung, die bereits im Hashtag #NotHeidisGirl formuliert wird, zieht sich nicht ausschließlich durch die verschriftlichten Botschaften der Kampagne, sondern steckt auch in der Zuschaustellung von «gesunder» und «natürlicher» Körperarbeit und deren Rahmung. «Natürliche» Körperarbeit setzt, neben Standards der Authentizität in Erscheinung und Darstellung, eine gewisse Zwanglosigkeit voraus. Die Kritik von #NotHeidisGirl begreift sehr richtig, dass GNTM auch als ein System von Zwängen besteht.

Dieser Zwang wird vor allem als die Abhängigkeit von Fremdurteilen und dadurch offenkundige mangelnde Selbstbestimmung erkannt. Im Rahmen dessen, was gezeigt wird, ist das sicher richtig – jedoch vernachlässigt diese Analyse, dass die Teilnehmerinnen von GNTM in einem Lohnarbeitsverhältnis stehen, sie also nicht nur bei ihrer Körperarbeit gefilmt werden, sondern dass diese Körperarbeit ein Ausbeutungsverhältnis darstellt und hier Körper nicht nur vermittelt als Arbeitskraft Ware sind, sondern dass die Körper sehr konkret und unvermittelt Ware sind. Der Model-Körper ist nicht mehr nur Vehikel, sondern bereits Produkt. Weibliche Körperarbeit bei GNTM ist Reproduktionsarbeit im eigentlichsten Sinne: Sie stellt das Produkt wieder her. Kritik daran, wie Körper in GNTM hergestellt werden, ist so auch eine Kritik an einer Arbeitsform, wobei häufig nicht die Bedingungen, unter denen diese Arbeit stattfindet, beleuchtet und kritisiert werden, sondern die Arbeiterinnen und ihre Ware. Die zu dünn, zu künstlich, nicht mehr schön in einem als gesund klassifizierten Sinne seien. Die Kritiker_innen von GNTM schreiben sich in einen Diskurs über Schönheitsnormen ein, der sie in den Rahmen bürgerlicher Bewertungskriterien von Körperarbeit stellt und damit ihren Protest mit der Abgrenzung von Arbeiterinnen verknüpft bzw. verflixt. Die Vulvarines werden dies gewiss nicht als ihr Programm vorsehen, auch sind die User_innen des Hashtags #NotHeidisGirl sehr wahrscheinlich nicht im Besitz von Produktionsmitteln. Um einen Vorwurf gegen die Kritiker_innen geht es uns folglich nicht, jedoch um den Versuch einer weitergehenden Analyse, die sich vom Topmodel und vom (Körper-)Bild als Anlass und Ort der Kritik löst.

Ästhetiken der Autonomie: (K)Ein Foto für mich

Eine weitere von bento verlinkte Aufnahme unter dem #NotHeidisGirl zeigt eine junge Frau, die sich für ihr Foto ausgezogen hat. Das Bild ist schwarz-weiß. Ihr weißer Körper hebt sich hell vor einem dunklen, teils schwarzen Hintergrund hervor, der durch einen Türrahmen als Privatraum lesbar wird und sich so von einer Studioaufnahme unterscheidbar macht. Sie positioniert sich bildmittig, ihre Stirn ist am oberen Bildrand abgeschnitten, sodass das Foto oben mit ihren Augen beginnt, die nach unten in die Kamera und auf die so aufschauenden Betrachter_innen blicken. Sie lächelt nicht, wirkt, als liefere sie sich dem Kamerablick aus, über den sie sich zugleich durch ihr Herabschauen stellt. Sie trägt fünf Piercings im Gesicht, ein Tattoo auf dem Mittelfinger, ihr rechter Oberarm scheint ebenfalls tätowiert, der dunkle Nagellack an ihrer linken Hand ist abgebrochen. Vor ihren vermutlich nackten Brüsten, die in der Bildmitte liegen, hält sie mit beiden Händen das Papier mit dem handschriftlichen Statement, sodass ihre Arme eng angelegt und ihre Schultern zurückgezogen sind. Ihr Körper(bild) endet so mit dem Blatt, das beinah exakt so breit ist wie der dahinter verschwindende Körper, den sie so in eine handbeschriebene Oberfläche übergehen lässt. Die junge Frau steht aufrecht vor der Kamera und schreibt: «#notheidisgirl… Weil das Bewerten von Körpern scheiße ist und nur ich entscheide, was für mich als schön gilt!»

Die schriftliche Souveränität, die zur Schau gestellte Autonomie gegenüber dem institutionalisierten Schönheitsregime bedient sich einer Ästhetik, die sich auch in professionellen Modefotografien findet. Die junge Frau, die von oben in die Kamera – auf ihre Betrachter_innen blickt. Die zu groß, zu dünn, zu extravagant gekleidet ist, um dem normalen Jungen von nebenan zu gefallen – man wird nicht müde zu betonen, dass die sogenannten «Magermodels» für heterosexuelle Männer unattraktiv seien. Ihr ist es egal, wer sie anschaut, wie man sie findet. Sie ist souverän, stolz, läuft auf hohen Schuhen in großen Schritten durch die Metropolen der Welt. Sie raucht, sie schaut zurück, sie schaut herab, sie ist selbstbewusst. Die Modefotografie, so analysiert Angela McRobbie in Unlesbare Wut, bedient eine Fantasie weiblicher Autonomie. Sie bietet Szenarien der Identifikation, ruft «Momente wieder auf, in denen wir alle gefragt haben: Ist das eine Version von mir? Existiere ich wirklich?»6 Die Sichtbarkeit, die die Modebranche für junge Frauen anbietet, erzeugt ein Begehren nach Anerkennung, das an eine bestimmte Sichtbarkeit – ein spezifisches Angeschaut-Werden und dem Blick Standhalten gebunden ist. GNTM ist eine Show, in der junge Frauen diese Sichtbarkeit einüben und zur Anerkennung ein Foto von sich erhalten. Am Ende jeder Folge betrachten die jungen Frauen ihre aufwändig erstellten Porträts, die neue Selbstbilder sein können und erklären häufig ihr Erstaunen: «Wow. Bin ich das?» Sie bangen um ihr Bestehen in der Show, die Anspannung bricht sich regelmäßig in Tränen Bahn. Die «Mädchen» müssen sich den Blicken der Jury, Fotograf_innen, Castingagent_innen, Kameras und Zuschauer_innen aussetzen. Cool über den Laufsteg laufen, natürlich lächeln, sexy und entspannt aussehen – die Anweisungen zur Professionalität sollen uns vergessen machen, dass die (d.h. auch unsere) urteilenden Blicke Stress bedeuten. Das Mädchen soll eine Fassade der Coolness, der Gefühle auf Knopfdruck, ein unbeschriebenes, wandelbares Blatt sein, das für alles stehen kann. Den Blicken standzuhalten ist hart. Eine junge Frau, das heißt heute Nicht-/Heidis Girl zu sein, ist schmerzhaft. Ein Schmerz, der sich auch in den Protestbildern zeigt und den wir teilen. Die Show etabliert Standards, denen wir junge Frauen uns nicht einfach entziehen können. Sie prägen unsere (Selbst-)Wahrnehmung und unseren (Selbst-)Wert auf Heirats- und Arbeitsmarkt, auf den Märkten der Anerkennung.

Der zur Marke geronnene Satz «Ich habe heute leider kein Foto für dich», der die Teilnahme an der Show beendet, erklärt die Verkörperung der fotografisch inszenierbaren Identität für gescheitert. Das «Mädchen», das ihr Vorbild zu werden strebt, fällt zurück in den Status der Phantasmatikerin, sie ist «ein bildhübsches Mädchen», aber kein Model. Sie kann das Objekt ihres Begehrens, die junge, schöne, erfolgreiche, selbstbewusste Frau nicht verkörpern. Jene Frauen, die sich offensiv als an dem Schönheitsideal scheiternde #NotHeidisGirls selbst abbilden, versuchen, ein eigenes Foto für/von sich zu produzieren, das die Maßgabe der Show für irrelevant erklärt. Für die Kritik an GNTM wird also die Leugnung des Schönheitsideals oder die Überwindung des Begehrens danach, einen als Model anerkennbaren Körper zu besitzen, zentral gesetzt.

Die Vulvarines, die die Schönheitsideale als Utopien benennen, formulieren selbst ihre Kritik von einem utopischen Ort der Überwindung aus – sie haben das Begehren nach Anerkennung durch ihre Einpassung in das Schönheitsideal überwunden. Sie stehen scheinbar souverän über den Bewertungsschemata, in die sie sich gleichwohl durch ihre Zuordnung zum #IchbinGNTM2018 einfügen. Der Aufruf, Selfies unter #NotHeidisGirl auch gleichzeitig unter #IchbinGNTM2018 zu posten, zeigt den inhärenten Widerspruch der Kritik: In der Distinktion liegen zugleich Identität und Unterordnung. Was Aufmerksamkeit ziehen soll, zieht gleichzeitig die Blicke jener auf sich, die einer Kritik unterzogen – und letztlich getilgt – werden sollen. Jedoch muss der Hashtag hier kapitulieren. Körper sind immer Zeichen, werden immer gelesen, bewertet und interpretiert. Bilder berauben Körper immer ihrer Komplexität. Sie inszenieren und werden inszeniert. Die Aufnahme, das Aufgenommene, der Ort der Aufnahme und ihr Ausstellungsort sind Inszenierungen. Bereits die Wahl des Mediums schreibt sich in eine Lust des Schauens und Beschautwerdens, in eine Lust des Lobs und der Strafe ein. Die Bilder der jungen Frauen sind unter den Bedingungen der Plattformen Instagram, Twitter, Facebook zwangsläufig der Bewertbarkeit ausgesetzt – das Like impliziert den Dislike, der Kommentar ermöglicht Anerkennung und Abwertung und retraditionalisiert das Geschlechterverhältnis.7 Der Hashtag #NotHeidisGirl stellt die Frage: wie sehr ist sie (nicht) Germany’s next Topmodel? – zwangsläufig wird so das Schema des Vergleichs aufgerufen, in dem Frauen als Konkurrentinnen in der Show wie auch im heterosexistischen Alltag gegeneinander gestellt werden. Die Frauen, die von bento für ihre besonders kreativen Statements gekürt werden, reihen sich im versammelnden Hashtag, der einen normalisierenden Durchschnitt, eine Ordnung erzeugt, die wiederum mit dem Bilderwissen vergleichbar ist, das wir, die Leser_innen von Modezeitschriften, die User_innen der Social Media, die Konsument_innen von Werbung, Film, Fernsehen verinnerlicht haben. So wissen die User_innen, welche der Frauen am wenigsten ‹Potential› hat und damit vielleicht am ehesten eine ‹emanzipierte› Frau zu sein beanspruchen kann. Die Betrachter_innen bleiben eine unberechenbare Größe, die Abwertung in Form von degradierenden Kommentaren unter oder neben den Bildern liegt eine scrollende Bewegung entfernt. Das Angeschaut- und äußerlich bewertet-Werden bleibt die Performanz des Weiblichen.

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Distinktion und Unterordnung – Zwang zur Souveränität

Wenn wir diese Kampagne als den Versuch verstehen, eine Norm abzulösen und durch eine neue zu ersetzen, dann stehen im Zentrum dieser neuen Norm Werte wie Natürlichkeit und die dadurch entstehende Vielfalt, oder auch Familie, oder Innerlichkeit. Jedoch sind das bereits Werte, die in einer bürgerlichen Gesellschaft etabliert sind, wobei Innerlichkeit und Natürlichkeit – also unsichtbare Körperarbeit – auch mit sozialem Status verbunden werden. Der Rückzug aus der vergleichenden Öffentlichkeit, die solche ‹Ideale› produziert, ist eine Frage des ökonomischen Kapitals, denn sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen bedeutet auch, sich der dort verorteten Lohnarbeit zu entziehen. Natürlichkeit ist sowohl eine Frage des ökonomischen wie auch des kulturellen Kapitals: Wie weit verändert meine Arbeit meinen Körper? Ohne ihn zu einem karnevalesken, übertrieben proletarischen Körper zu machen? Habe ich gelernt, meinen Körper so zu bearbeiten, dass es nicht zu sehr auffällt, dass ich ihn bearbeite?

Diese Werte erfordern eine ausgeprägte Selbstregulierung. Der Körper soll arbeitsfähig sein, ist auf Leistung getrimmt, das Zutagetreten der damit verbunden Körperarbeit wird als ‹krankhaft-unnatürliche› Übertreibung moralisiert und abgewertet. Der ‹Magerwahn›, der ‹Schönheitswahn› funktionieren als Synonyme für die Arbeit am Körper und den Ökonomien, die den Teilnehmerinnen bei GNTM abverlangt werden. Die Zuschreibung der (abnormalen) Körperarbeit auf GNTM leugnet dabei den eigenen Arbeitsfetisch der bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Bürgerlichkeit bedient sich bestimmter Ausschlussmechanismen, um stabil zu bleiben. Einer dieser Ausschlussmechanismen ist die Abwertung der körperlichen Lohnarbeit oder konkreter der Lohnarbeit, die die Warenförmigkeit des Körpers und eine entsprechende Zurichtung erfordert, und die Verschleierung durch Naturalisierung und Romantisierung dieser Form von Körperarbeit am bürgerlichen Subjekt. Die Wiederherstellung des eigenen Körpers muss möglichst mühelos erscheinen und sich im besten Falle auf eigene «natürliche» Bedürfnisse zurückführen lassen, oder aber sie wird emotional stark aufgelanden und verklärt. So wird auf dem Portal familie-und-tipps.de zum Thema Schminken erklärt: «Es schadet nichts, wenn die Mutter der Tochter hilfreiche Tipps und Erfahrungen weitergibt und einen kleinen Schminkkurs abhält. Das sind ganz spezielle Mutter-Tochter-Momente, an die sich später gern alle erinnern.» Im erwähnten Artikel geht es darum, ab wann und welches Make Up gut für junge Frauen bzw. in diesem Fall Töchter ist. Auch hier wird sich um eine Naturalisierung des Bedürfnisses bemüht: «In ihrem Heranwachsen verspüren sie [die Töchter] den Drang nach Weiblichkeit, das Kindliche wird mehr und mehr abgelegt.»

In der Abgrenzung, also einem wortwörtlichen Nichtsein (#NotHeidisGirl), liegt demnach auch ein Sein, eine Identität. Der Verweis auf das Nichtsein findet von einem Ort des Überwundenhabens statt, der sich bei genauerer Betrachtung als Nichtort herausstellt. Es gibt keinen Ort, an dem der Blick, der in GNTM offen gelegt wird, nicht existiert. Es gibt keinen Ort, an dem die Unterordnung gänzlich nivelliert werden kann. Über Distinktion hinaus geht es auch darum, die abgeschlossene Annullierung jeder Rückführbarkeit auf eine Identität mit Heidis Mädchen unter Beweis zu stellen. Dafür werden GNTM und Heidi Klum als Kristallisationspunkt des Patriarchats ausgemacht und für allerlei Dinge verurteilt und schuldig gesprochen, die auch die eigenen Anteile an dem leugnen, was in der Kritik steht. Es wirkt wie Askese, wie ein Wutausbruch, der sich gegen die vermeintlich zur Vergangenheit gewordene Unterwerfung zur Frau wendet.

Die Zielgruppe von GNTM, wie sie von #NotHeidisGirl ausgemacht wird, hat noch kein Konzept von anerkanntem Frausein und sucht daher Orientierung in den Alternativbildern. Als unbeschriebenes Blatt muss sie davor geschützt werden, mit den falschen Idealen und Vorstellungen beschrieben zu werden. Einige Appelle dieser Art wenden sich nicht nur an die Menschen, die die Bilder der Protestkampagne ansehen, sondern auch an die eigenen Kinder. Man möchte, dass die nächste Generation frei von den Attributen heranwächst, die GNTM zugeschrieben werden. Trotz des Wunsches, dass die unbeschriebenen Blätter frei von gesellschaftlich Gemachten bleiben sollen, beschreiben die Kritiker_innen diese mit gesellschaftlich gemachten, nämlich bürgerlichen Werten. Hier liegt ein blinder Fleck der Kritik. Die Naturalisierung von gesellschaftlich Gemachtem ist ein Herrschaftsinstrument, welches der Abwertung jener dient, die diesen Werten aus welchen Gründen auch immer nicht gerecht werden können oder sie nicht teilen. Die Sprachlosigkeit über die vielfältigen Dimensionen der Unterwerfung zur Frau benötigt Projektionsflächen wie GNTM, um ihren eigenen Schmerz über das Gewordensein auszudrücken. Sie ist Ausdruck des Leids, das weibliche Subjektwerdung in einer bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Dieses Aus einem Schmerz heraus-Sprechen ist notwendig, um Unadressierbares codiert adressierbar zu machen. Für eine solidarische Kritik, die die durch die Codierung bedingte Distinktion auflöst, ist aber auch eine Auflösung dieser Codierung notwendig und damit eine Auflösung des medialen Rahmens und der nicht einlösbaren Freiheitsversprechen. Es ist eine Auseinandersetzung von Nöten, die das Gewordensein und den damit verbundenen Schmerz, die bürgerliche Zurichtung anspricht und reflektiert. Ob der virtuelle Raum der Social Media für eine derartige Aufarbeitung der richtige ist, ist fraglich. Es gilt ins Gespräch zu kommen und durch radikale Ehrlichkeit einen solidarischen Raum zu schaffen, wo Herrschaftsverhältnisse als solche benannt werden und wo ihnen der Schleier entrissen wird.

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Dieser Text ist das ausformulierte Ergebnis einer Diskussion, die im Ausschuss für Frauen- und Genderpolitik FGP des freien Zusammenschluss Student*innenschaften FZS aufkam, als es um die Frage ging, warum einige von uns sich nicht an der Social Media-Kampagne #NotHeidisGirl beteiligen wollen. Wir verstehen unseren Text als solidarische Kritik, die das Unbehagen aufschließen möchte, das die Kampagne in uns auslöst.

  • 1Bravo Team, GNTM 2018: Alle News zur 13. Staffel von Germany’s next Topmodel!, in: Bravo.de, 14.09.2017.
  • 2https://www.youtube.com/watch?v=beTs_Uk3-zI (Minute 0:28).
  • 3Die Vulvarines auf Facebook: «Unsere Wut gilt nicht den Teilnehmer*innen von GNTM und auch nicht der Privatperson Heidi Klum, sondern gleichsam diesem Format, wie auch einer Gesellschaft, die Frauen* vorschreibt, was Schönheit ist. Wir lassen uns nicht für ein ‹wir gegen sie› instrumentalisieren. Wir sind für Vielfalt! #notmycompetition» (09.10.2017).
  • 4In der dritten Staffel trifft diese Inszenierung der Korrektur des Schönheitshandeln die Prominente Gina-Lisa Lohfink, die in der ersten Folge ihr eigenes Aussehen als «vielleicht prollig» benennt. Heidi Klum für ProSieben:GNTM Staffel 3, Episode 1, 28.02.2008 (ab Minute 4:00).
  • 5Eine schöne Parodie zur Aufforderung einfach ganz natürlich auszusehen, zeigt die Comedian Amy Schumer in: Girl, You Don’t Need Makeup, in: Comedy Central, 29.04.2017. In einem Musikvideo wird Schumer von einer aufgedrehten Boyband dazu aufgefordert, sich abzuschminken und einfach ganz natürlich zu sein. Nachdem die jungen Männer sehen, wie Schumer ohne Make up aussieht, ändern sie ihre Meinung bzgl. der Schminke: «We kinda changed our mind on the makup thing… I didn’t know that your lashes were so stubby and pale, just a little mascara and you’ll look female… just get up an hour earlier. And you can make yourself much girlier… just a little makeup, some natural looking makeup.»
  • 6Angela McRobbie, Kapitel Vier: Unlesbare Wut: Postfeministische Störungen, in: dies., Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden 2010, 131-164, hier 144.
  • 7Vgl. Angela McRobbie, Notes on the perfect. Competitive femininity in neoliberal times, in: Australian Feminist Studies, Bd. 30, Nr. 83, 2015, 3-20, hier 5f.

Bevorzugte Zitationsweise

Haitz, Louise; Gratz, Mandy: #NotHeidisGirl – oder doch?. Wir sind alle Heidis Mädchen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, GAAAP_ The Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/notheidisgirl-oder-doch.

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