‹Mit Meunier über Meunier hinaus›
Das neue Leben von Jean-Pierre Meuniers Buch Les structures de l’expérience filmique: L’identification filmique (1969)
Jean-Pierre Meuniers Les structures de l’expérience filmique: L’identification filmique (1969) wird als ein Schlüsseltext innerhalb der Geschichte der Filmwissenschaft gehandelt. Darin verknüpft der belgische Psychologe phänomenologische Reflexionen mit Überlegungen der französischen Filmologie-Bewegung und vollzieht eine systematische Erforschung unterschiedlicher Identifikationsmöglichkeiten der Zuschauer_innen mit dem im Film gezeigten. Inspiriert von Jean-Paul Sartres L’Imaginaire (1940) unterscheidet Meunier drei Haltungen der Zuschauer_innen gegenüber Filmen: fiction attitude, documentary attitude und home movie attitude.
Anlässlich der Erstübersetzung des Buches Les structures de l’expérience filmique ins Englische, die Ende 2018 / Anfang 2019 in der Reihe Film Theory and Media History des Amsterdam University Press Verlags erscheint, versammelte das Symposium an der Städel-Schule ein interdisziplinäres und internationales Publikum, um in Anwesenheit des Autors die Bedeutung dieses Buches für die Filmwissenschaft zu diskutieren.1 Das Symposium wurde mit einem Gespräch zwischen Meunier und Daniel Fairfax sowie Julian Hanich zu den Hintergründen seines Buches eröffnet, zu Filmen, an die er dachte, als er seine Schrift verfasste, und zur Kinolandschaft in den 1960er und 1970er Jahren im belgischen Löwen. Mit Bescheidenheit sprach Meunier über seine Verwunderung hinsichtlich des erneuten Interesses an seinem Werk:
Die Beachtung, die Frau Sobchack meinem Buch Les structures de l'expérience filmique schenkte, verhinderte, dass mein Buch in Vergessenheit geriet. Es scheint mir, dass mein Buch jetzt ein neues Leben genießt, fast 50 Jahre nach der Erstpublikation. Natürlich wunderte ich mich über das erneute Interesse. Was mir in den Beiträgen zu dieser Konferenz auffiel, war das Interesse für die drei Haltungen und vor allem für die memory attitude [gemeint ist die home movie attitude]. Für mich war es zu jener Zeit besonders interessant, den Kontrast zur fiction attitude zu unterstreichen. Es scheint mit, dass die attitude of remembering [gemeint ist die home movie attitude] in den Vordergrund gerät. Vielleicht ist die technologische Entwicklung, die eine unerhörte Vervielfachung der Erinnerungsbilder und Repräsentationen des Selbst ermöglichte, ein Grund dafür. [Orig. in Englisch, Übers. RB]
Meuniers Aussage kann einerseits als Vorwegnahme einiger Vorträge der Tagung gesehen werden, andererseits mag sie als ein zentraler Hinweis und historischer Kommentar im Hinblick auf das zeitgenössische Interesse an seinem Buch dienen. 1969 galt sein Forschungsinteresse am Beispiel von Filmen wie Jean-Luc Godards À bout de souffle (FR 1960), Federico Fellinis La Dolce Vita (FR/IT 1960) oder Michelangelo Antonionis L’avventura (FR/IT 1960) der Identifikation der Zuschauer_innen mit Spielfilmfiguren. Die Vorträge unterstrichen zwei wesentliche Aspekte an Meuniers Text: Zum einen hoben sie die home movie attitude hervor, also die Haltung der Zuschauer_innen gegenüber Gebrauchsfilmen oder -objekten (Marie-Aude Baronian, Christian Ferencz-Flatz, Vinzenz Hediger, Vivian Sobchack), zum anderen befassten sie sich mit der historischen Bedingtheit des Textes und seiner Relevanz für die Filmphilosophie im Allgemeinen und ihre phänomenologischen Spielarten im Besonderen (Dudley Andrew, Jenny Chamarette, Daniel Fairfax, Victor Fan, Julian Hanich, Kate Ince, Robert Sinnerbrink, Florian Sprenger).
Vivian Sobchacks (Los Angeles) Vortrag mit dem Titel «Apprenticed to My ‹Self›: On the ‹Unheimlich› in Home Movies» erfolgte im Anschluss an das Interview mit Meunier. Diese Dramaturgie widerspiegelte die Rezeptionsgeschichte von Meuniers Buch in der Filmwissenschaft, zugleich machte sie die nachhaltige Wirkung von Meuniers Gedanken innerhalb des phänomenologisch ausgerichteten Strangs der Filmwissenschaft im Hinblick auf zeitgenössische Fragestellungen deutlich. Die home movie attitude als Vergegenwärtigung von vertrauten, aber physisch nicht anwesenden Personen in Verbindung mit der heutzutage ubiquitären Kulturtechnik des Selfie wurde für Sobchack zum Anlass, eine Dreiteilung des Unheimlichen – ähnlich Meuniers tripartite der Haltungen – vorzunehmen. In diesem Zusammenhang benennt Sobchacks Terminus «axiological uncanny» die ästhetische Problematisierung des Selbstwerts im Hinblick auf die Rezeption des Selfies. Das Bedürfnis des Wiedererkennens des Selbst, nachdem das Gefühl der Fremdheit des eigenen Abbildes sich eingestellt hat, hingegen bezeichnete Sobchack als ein epistemologisch Unheimliches. Die existenzielle Frage «Was bin ich?» schließlich steht im Zentrum des ontologisch Unheimlichen. Auch der Beitrag von Christian Ferencz-Flatz (Bukarest) thematisierte filmische Identifikation im Hinblick auf das Selfie, jedoch nicht auf das Standbild, sondern auf das Bewegtbild des Video-Selfies bezogen. Einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Video-Selfie und dem Home Movie verortete der Vortragende in der Selbstbetrachtung während der Produktion des Bewegtbildes. Die strukturelle Komplexität werde dadurch erhöht, dass die Person sich nicht nur wie vor einem Spiegel auf dem Display des Handys betrachte, sondern sich dabei filme, posiere und an zukünftige Betrachter appelliere.
Das Erkenntnisinteresse der Phänomenologie hinsichtlich menschlichen Wahrnehmens und Handelns muss stets mit historisch spezifischen Befunden konfrontiert werden. Aufgrund dieses Umstandes, kann eine heutige Leser_in von Les structures de l'expérience filmique kaum über das Fehlen der Diskussion von Differenz im Hinblick auf eine Phänomenologie des Körpers hinwegsehen. In Meuniers Buch werden nicht nur der je eigene Körper und die je eigene Erfahrung des Films, sondern auch die Erfahrung bzw. Wahrnehmung anderer Körper beschrieben, ohne dabei spezifische Differenzen oder historische Kontexte zu verdeutlichen. Dieser durchaus problematische Sachverhalt wurde von Jenny Chamarettes (London) im Hinblick auf Fragen der ethnischen und geschlechtlichen Differenz von Intersubjektivität und Körperlichkeit bei der Rezeption des Films Bande des filles (FR 2014) von Céline Sciamma kritisch beleuchtet. Kate Ince (Birmingham) fokussierte in ihrem Vortrag das nicht-männliche Subjekt der Wahrnehmung. Eine hitzige Debatte entzündete sich um den im Vortrag verwendeten Terminus der feminist conciousness, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Konturierung des Begriffs, die sowohl aufseiten des Publikums als auch von der Vortragenden selbst empfunden wurde.
Guido Kirstens (Stockholm) Überlegungen mit dem Titel «Meunier’s Modalities of the ‹Filmic Attitude› Towards a Theory of Reference in Cinematic Discourse» beschäftigten sich mit dem theoretischen Potential von Meuniers Schrift im Hinblick auf das Problem von Referenz innerhalb des filmischen Mediums. Der Vortrag begann mit einer Einführung zu Roland Barthes’ Beobachtungen zum Film Les inconnus de la terre (FR 1961) und den darin gefundenen «problèmes généraux du paysan français d’aujourd’hui» (Roland Barthes, Préface aux Inconnus de la terre, in: Artsept, Nr. 2, 1963, 76) und Meuniers Gedanken zu «la personne-en-générale». Im Hinblick auf die Wahrnehmung der «Person-im-Allgemeinen» theoretisierte Kirsten die stattfindenden Verschiebungen des Referenten wie folgt: Es sei nicht das unmittelbar Sichtbare, das als Referent diene, sondern es seien abstraktere Konzepte, welche für den Referenten einstehen. Meuniers Gedanken zum Einfluss, den die jeweilige Haltung der Zuschauer_in darauf hat, auf welche Objekte das jeweilige filmische Bild referiert, stellten einen der Ausgangspunkte für Kirstens Skizze einer Allgemeineren Theorie der Referenz innerhalb des filmischen Diskurses dar.
Die historische Bedeutung und Positionierung von Meuniers Buch wurde von Robert Sinnerbrink (Sydney) unter dem Titel «The Missing Link: Meunier on Imagination, Empathy, and Emotional Engagement» und von Daniel Fairfax (New Haven/Frankurt) unter dem Titel «A Missing Link in Film Theory? Meunier between Phenomenology and Psychoanalysis» diskutiert. Während sich Sinnebrinks Vortrag auf die zentrale Bedeutung der Imagination für das Verständnis audiovisueller Bilder bei Meunier bezog, verfolgte Fairfax die These, dass Les structures de l'expérience filmique ein fehlendes Glied im Stammbaum der Filmtheorie darstelle. Das Buch ermögliche es, die sich ansonsten diametral gegenüberstehenden Positionen der psychoanalytisch und der phänomenologisch grundierten Filmtheorie zu versöhnen. Dagegen suchte der Medienhistoriker Florian Sprenger (Frankfurt) die historischen Bedingtheiten der Übersetzung des Textes und dessen Situiertheit in der Gegenwart zu eruieren. Dies reflektierte er in Verbindung mit der geschichtlich-technologischen Situation um die Zeit der Erstpublikation des Textes im Unterschied zur Situation heute.
Im Rahmen des Beitrags «Identifying with Filmic Identification: Encounters in Three Stages» skizzierte Dudley Andrew (New Haven) eine in drei Phasen geteilte Geschichte der Beziehung zwischen einer Forscher_in und einem Buch. Die Geschichte der Beziehung beginnt mit der Erstbegegnung, um danach in die Phase des hermeneutischen Verdachts überzugehen. Die Beziehung erreicht die letzte Etappe, wenn die Forscher_in die Bedeutung einer Schrift für den eigenen wissenschaftlichen Werdegang versteht. Seine anekdotischen Erläuterungen und die autobiographische Verortung des Symposiums innerhalb der Phase, in welcher die Forscher_in die Bedeutung eines Buches für den eigenen Lebensverlauf zu verstehen beginnt, führten gewisse allgemeine Mechanismen intellektueller Biographien auf paradigmatische Weise vor Augen. Anders als die übrigen Vorträge, setzte Victor Fan (London) den stark westlich geprägten Strang einer phänomenologisch ausgerichteten Filmtheorie mit östlichen Lehrtraditionen und Religionen in Beziehung. Durch die Konfrontation von Meuniers Gedanken zur Identifikation und der westlich orientierten Phänomenologie mit zwei Schulen des Buddhismus – der Madhyamaka-Philosophie und der Yogācāra-Schule – erschlossen sich alternative Perspektiven auf die Phänomenologie des photographischen Bildes.
Marie-Aude Baronian (Amsterdam) erläuterte Meuniers Gedanken anhand von Werken des kanadisch-armenischen Regisseurs und Künstlers Atom Egoyan, Family Viewing (CA 1987) und A Portrait of Arshile (CA/GB 1995). Sie konzentrierte sich auf die Darstellung von Home Movies innerhalb jener Werke, um auf die Erinnerungsleistung des Kinos durch die Figur des Film Souvenirs hinzuweisen. Baronian kam zur Schlussfolgerung, dass die Figur des Film Souvenirs bzw. des Home Movies das zwiespältige Begehren des Kinos als eines des Sich-Erinnerns-an-sich-selbst und als eines der Selbstvergessenheit verdeutliche. Nicht das Kino als solches, aber die spezifischen Erfahrungen von Ephemeral Films – nach Rick Prelinger – waren Gegenstand von Vinzenz Hedigers (Frankfurt) Vortrag «Towards a Phenomenology of Ephemeral Films». Meuniers unterschiedliche Haltungen der Zuschauer_in fungierten als theoretischer Rahmen und Ausgangspunkt für Hedigers Konzeption einer Phänomenologie des Ephemeren. Hediger analysierte die Erfahrung von Orphan Films oder Waisenfilmen, die weder im juridischen Sinne urheberrechtlich geschützt sind oder einem bestimmten Besitzer gehören noch einen identifizierbaren Autor haben. Die unterschiedlichen, ineinander verflochtenen Haltungen einer einzelnen Person wie der des Filmwissenschaftlers bei der Sichtung von solchen Waisenfilmen – z. B. die Sichtung eines Industriefilms im Bochumer Bergbaumuseum – dienten Hediger als Ausganspunkt für das Weiterdenken von Meuniers tripartite der Haltungen. Der Leitgedanke des Vortrags «mit Meunier über Meunier hinaus» führte Hediger dazu, die Überschneidungen der unterschiedlichen Haltungen oder die Grenzen der Zuschreibungen von einzelnen, klar voneinander getrennten Haltungen zu eruieren. Das hierfür gewählte Untersuchungsobjekt eignete sich besonders gut, denn Industriefilme lassen sich weder klar als Dokumentarfilme noch als Film Souvenirs einordnen.
Zum Abschluss der Tagung entwarf Julian Hanich (Groningen) einige Überlegungen zum Tagträumen im Kino. Weil der Zustand des Tagträumens so schwer vom Phantasieren zu unterscheiden sei, schlug er eine Arbeitsdefinition des Tagträumens im Kino als eines Aktes des Bewusstseins vor, in welchem die Zuschauer_in sich bewusst oder unbewusst in einen Strom sinnlicher Vergegenwärtigungen begibt, welche sie in unterschiedlichen Graden vom Film selbst ablenken. Die Diskussion zu diesem Vortrag entflammte, als Jenny Chamarette die Frage stellte: »What is at stake?«, womit eine mögliche Schärfung des spezifischen Unterschieds zwischen dem Tagträumen im Alltag und dem Tagträumen im Kino angesprochen war.
«What is at stake?» kann jedoch auch als allgemeine Frage an ein Symposium gerichtet werden, das sich der Re-Lektüre eines fast 50-jährigen Textes eines belgischen Psychologen im Kontext zeitgenössischer Filmtheorie widmete. Wie die Beiträge der Wissenschaftler_innen aus unterschiedlichen Fächern mit unterschiedlichen Schwerpunkten und die darauffolgenden Diskussionen gezeigt haben, ist die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit historischen Schlüsseltexten nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar für das methodische Selbstverständnis einer immer noch jungen akademischen Disziplin wie der Filmwissenschaft.
- 1Link zum vollständigen Programm: http://www.hfmakademie.de/system/attachment/file/5a0b77edaba67d7e4c0e8cc2/Meunier_Faltplakat_RC__4.pdf
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