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Filmrolle
Open-Media-Studies-Blog

    Filmarchive als Partner in Open Science Kontexten

    Adelheid Heftberger im Interview mit Jürgen Keiper über die wachsende Bekanntheit von Open Science und Wikidata sowie den Begriff der Autorschaft bei Wikipedia

    7.8.2019

    Das Fellow-Programm Freies Wissen wurde 2016 von Wikimedia Deutschland und dem Stifterverband initiiert, um junge Wissenschaftler_innen dabei zu unterstützen, ihre eigene Forschung und Lehre im Sinne von Open Science zu öffnen und damit für alle zugänglich und nachnutzbar zu machen. Ich war in der ersten Ausschreibung mit einem Projekt zu enriched publications in den Film- und Medienwissenschaften ausgewählt worden. Im Zuge des Fellowships, habe ich auch Interviews mit Personen durchgeführt, die einerseits aus dem Filmarchiv-Bereich und andererseits aus der Wissenschaft kommen. Eines davon im Januar 2017 mit Jürgen Keiper, der seit 2006 Mitarbeiter bei der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen ist, und dort IT-Projekte wie LOST FILMS, die Internet-Präsentation zu «Wir waren so frei … Momentaufnahmen 1989/90» und die Entwicklung kollaborativer Systeme geleitet hat.

    Der Text verhandelt durchaus noch aktuelle Positionen, was die grundsätzliche Haltung zu Open Science in Filmerbeeinrichtungen betrifft. Andererseits ist Wikidata mittlerweile auch in Filmarchiven zu einem gängigen Begriff geworden und wird zunehmend in die Informationsstrukturen und Katalogisierung eingebettet. Siehe dazu auch den Bericht zum Workshop «Linked Open Data For Filmarchives» oder den Workshop-Beitrag beim FIAF Kongress 2019 in Lausanne von Mats Skarstrand, beide organisiert von der Cataloguing & Documentation Commission der FIAF, deren Mitglied ich bin. Siehe außerdem meinen Beitrag bei der WikidataCom 2017 «Employing Wikidata to Foster Scholarly Research».

    Adelheid Heftberger: Welcher Aspekt interessiert dich vor allem bei Open Science?

    Jürgen Keiper: Ich muss gestehen, ich habe mich nie wirklich mit Open Science beschäftigt, und wüsste jetzt wirklich nicht, was man unter diesem Begriff versammelt. Aber ich würde es so verstehen, dass man allgemein die Forschungserkenntnisse und Forschungsbedingungen unter diesem Aspekt betrachtet, in dem Sinn, dass man Kollaboration gegenüber Konkurrenz stärkt.

    Adelheid Heftberger: Du bist nun seit Jahren sehr aktiv damit beschäftigt Schranken, vor allem im Filmbereich, abzubauen und Menschen zu vernetzen - das Label «Open Science Aktivist» würde ich dir sofort anheften. Wenn nun Open Science nicht einmal dir bisher ein Begriff war, woran könnte das dann liegen? Setzt sich Open Science einfach nicht durch oder fest?

    Jürgen Keiper: Nein, ich denke, das hängt mit meinem eigenen Kontext zusammen, denn Forschung ist stärker in den Universitäten angesiedelt und nicht so sehr in den Archiven.

    Adelheid Heftberger: Dann könnte man einmal festhalten, dass Open Access in den Gedächtnisinstitutionen (z. B. die deutschen Filmarchive) noch nicht angekommen ist. Zur Forschungsseite noch eine Nachfrage: Gibt es dabei nicht auch einen Unterschied innerhalb der Disziplinen, z. B. Geistes- und Naturwissenschaften? Wäre «transparente Wissenschaftspraktiken» eine mögliche Alternative?

    Jürgen Keiper: Ich finde schon, dass der Begriff «Open Science» stimmig ist. Offene Systeme beruhen auf der These, dass individuelle Leistungen der Gemeinschaft zugutekommen sollen und im Gegenzug die Leistungen der Gemeinschaft dem Individuum nützlich sein sollten. So könnte man im Groben den Regelmechanismus beschreiben, der dahintersteckt. Mit dem Begriff Transparenz als Konzept allein ist das nicht getan.

    Adelheid Heftberger: Ich möchte noch einmal auf die Kulturinstitutionen zurückkommen. Wie ist es denn nun, wenn man «Offenheit» auch dahingehend versteht, dass man auch Dokumente teilen sollte, nicht nur Wissen. Was bedeutet das dann z. B. für Filmarchive konkret und welche positiven Initiativen möchtest du erwähnen?

    Jürgen Keiper: Wir können ja mal verschiedene Aspekte durch deklinieren. Fangen wir mit Kollaboration an: Wir hatten 2002/2003 das Projekt COLLATE in Frankfurt, da ging es genau um diese kollaborative Zusammenarbeit, also die Wissensproduktion und Annotation von Dokumenten. Gemeinsame Wissensproduktion ist mehr als ein Einzelner leisten kann, bei COLLATE bezog sich das auf filmhistorische Dokumente.

    Auch das Projekt LOST FILMS wäre ein Beispiel dafür, zumindest so wie es ursprünglich geplant war. Das heißt, Personen stellen bekannte Filme (d. h. Filmtitel) ins Netz und andere schauen, ob sie wissen, ob diese Filme in Archiven vorhanden sind oder ob sie wirklich verschollen sind. Das ist ein sehr schönes Beispiel für ein kollaboratives Projekt, das letztlich auch mit einer freien Software (Collective Access) erstellt wurde, die das unterstützt hat. Das wäre ein zweiter Punkt, dass man die richtigen Werkzeuge braucht, um diese Projekte umsetzen zu können. Das ist oft Software, wir haben damals zunächst eine Wikimedia Software benutzt. Was ich mir auch gut vorstellen kann, ist das gemeinschaftliche Schreiben, z. B. über Etherpad oder Google Docs.

    Adelheid Heftberger: Gerade Google Docs wird sehr stark genutzt, weil es anscheinend für alle das einfachste ist.

    Jürgen Keiper: Naja, die Form ist kollaborativ. Google hat das ja eigentlich aufgekauft und natürlich ist es schade, dass es nichts Vergleichbares in nicht proprietärer Form gibt. Etherpad ist schon eine gute Alternative, aber es ist z. B. von den Formatierungsmöglichkeiten her sehr simpel.

    Was ich vielleicht auch noch dazu zählen würde, wäre der freie Zugang zu Basisinformationen des wissenschaftlichen Diskurses. Man spricht dabei auch von Normdaten. Ich würde auf jeden Fall die formalen Hintergrundinformationen von wissenschaftlichen Dokumenten dazu zählen, d.h. die Basisinformationen zu Personen, Quellen, Filmographien. Letztlich gehören für mich eigentlich auch die inhaltlichen Erschließungen dazu, z. B. Normdaten im Bereich der Geodaten und Schlagworte. Die GND (Gemeinsame Normdatei) war ursprünglich die Schlagwortnormdatei (SND) und wurde dann mit der Personennormdatei (PND) zusammengeführt.

    Fraglich ist dann schon, ob ein Abstract von einem Text dazu zählt. Letztlich ist es eine politische Sache, wie und wo man diese Linie verhandelt. Aber ich finde, dass man das, was heute unter Normdaten läuft, frei zur Verfügung stellen und frei bearbeitbar machen sollte.

    Adelheid Heftberger: Die Frage ist, wo man diese Normdaten dann verwaltet. Mein Projekt beschäftigt sich mit enhanced publications und z. B. der Frage, wie Autor_innen oder Herausgeber_innen von wissenschaftlichen Journals solche Basisinformationen aus den Artikeln relativ einfach an Wikidata abliefern könnten.

    Jürgen Keiper: Wikidata wäre für mich auch der richtige Ort dafür. Es gibt nichts Vergleichbares, wo dieses parsen, also dieses Mapping, auf hohem Niveau stattfindet. Ich habe gerade gesehen, dass auch TED-Talks in Wikidata indiziert werden dabei ist. (Auf meinen fragenden Blick erklärt Jürgen Keiper kurz, dass es sich bei TED um eine Videosammlung zu unterschiedlichsten Themen handelt, die 1984 gestartet wurde.) Auf der Webseite von TED stehen internationale Konferenzen stehen oft als Videobeiträge bereit, die sind also frei zugänglich und werden wiederum von der Community übersetzt. Man kann die Videos frei runterladen und sie stehen, wie gesagt, auch in Wikidata zur Verfügung. Dort werden sie referenziert und zwar im Gegensatz zu Wikipedia mit persistenten Identifiern. Die speichern natürlich nicht die Ressourcen z. B. in Wikicommons, das wäre zu viel Aufwand.

    Adelheid Heftberger: Nur als Gedankenspiel zur Weiterentwicklung von Wikimedia: Wäre es nicht eine gute Idee, auch Ressourcen aus z. B. Europeana hier als Daten, vielleicht sogar unter Wikicommons, zu sammeln?

    Jürgen Keiper: Naja, die Verbindung ist letztendlich ja über die Referenzierung da. Bei Wikidata muss man fairerweise sagen, dass es relativ unbekannt ist. Es gibt in Wikipedia deutlich weniger Querverweise als in Wikidata. Das Grundproblem von Wikipedia ist, dass es textbasiert ist und das strukturierte Wissen findet man eben in Wikidata. Ich weiß von den Wikipedianer_innen, dass man viel daran arbeitet, das wechselseitig ineinander zu überführen, aber das ist natürlich viel Arbeit. Die versuchen dann schon, z. B. Geburtsdaten aus den Texten zu extrahieren. Aber generell würde ich Normdaten, Basisdaten zu diesem Kernbereich des freien Wissens dazu zählen.

    Adelheid Heftberger: Könnten nun nicht schon die Geburtsdaten problematisch sein. Ich weiß aus Erfahrung, dass nicht wenige Autor_innen ihre Geburtsdaten nicht in den Short Bios von geisteswissenschaftlichen Publikationen gar nicht gern veröffentlicht sehen und deshalb nicht angeben?

    Jürgen Keiper: Nun, Wikipedia hat ja gerade eben in München einen Prozess geführt, weil Wikipedia das Geburtsdatum einer Regisseurin veröffentlicht hat. Sie hat argumentiert, dass sie aufgrund dessen keine Aufträge mehr bekommt, aber verloren, da sie als eine Person des öffentlichen Interesses eingestuft wurde.

    Adelheid Heftberger: Könnten Wikipedia oder Wikidata auch proaktiv Geburtsregister digitalisieren und automatisch einpflegen?

    Jürgen Keiper: Nun, das ist sicher problematischer. Es sind ja auch Persönlichkeitsrechte zu beachten, wenn es sich nicht um Personen des öffentlichen Interesses handelt. Ich möchte in diesem Zusammenhang gern noch auf einen weiteren wichtigen Punkt zu sprechen kommen.

    Wenn das freie Wissen mehr sein soll als ein idealistisches Konzept, dann muss man sich auch Gedanken darüber machen, was die Motivation für Menschen sein könnte, das auch zu praktizieren. Das mag sein, dass die abstrakte Idee des Verfügbarmachens von individueller Leistung zum Wohle der Gemeinschaft für viele hinreichend ist. Ich glaube aber, dass es nicht für alle so ist. Dieses Thema haben wir damals auch bei COLLATE diskutiert und ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass so etwas wie soziale Anerkennung zentral für die Motivation sein könnte, Leistungen zur Verfügung zu stellen. Traditionell ist das ja Geld, das wird aber schwierig umzusetzen. Direkt dahinter kommt Aufmerksamkeit, z. B. über die Autorenschaft.

    Und ich fände es in der Tat auch bedenkens- und erwägenswert, ob z. B. diese Konzepte von Autorschaft oder auch von Multi-Autorenschaft in diese Konzepte von freiem Wissen deutlicher integriert werden könnten. Konkret heißt das, dass sichtbar wird, wer also wirklich dazu beigetragen hat, dass Wissen verfügbar gemacht wurde. Das muss ja nicht auf der obersten Ebene sein und die Information ist bisher auch vorhanden, aber sehr versteckt. Und das finde ich nicht glücklich gelöst. Hier müsste man vielleicht mal eine Zwischenform finden, man muss ja nicht alles aus dem analogen Bereich wiederholen, aber z. B. in der Fußnote hätte man dann die Beitragenden gelistet. Das fände ich z. B. eine schöne Geste. Man könnte auch noch weiter gehen, und das habe ich bisher vermisst, dass man der Person, die Artikel anlegt, einen Eintrag in der Wikipedia gibt. Die sehen sich ja üblicherweise nicht als historisch wichtige Personen, obwohl sie es eigentlich sind. Wo dann z. B. auch gelistet werden kann, welche Artikel sie ganz oder teilweise mitverfasst haben.

    Adelheid Heftberger: Woher kommt diese Zurückhaltung bei der Herausstellung von Autorschaft? Weil es der grundsätzlichen Idee von Wikipedia widerspricht?

    Jürgen Keiper: Das weiß ich nicht, aber ich glaube, man wollte sich auch von der klassischen Autorschaft abgrenzen, da besteht Skepsis in der Community. Man kann sich natürlich fragen, was denn die Schöpfungshöhe eines Wikipedia Artikels ist, das ist z. B. für das Urheberrecht relevant. Und wenn man wirklich nur 10% beiträgt, dann ist das wohl nicht zu argumentieren. Wikipedia sieht es sicher auch so, dass wir alle aufeinander aufbauen und letztlich können wir auch nicht immer genau berechnen, wie viel Einzelne beigetragen haben und wie dieser konkrete Beitrag dann für den gesamten Artikel zu bewerten ist.

    Ein zweites Problem der Wikipedia ist natürlich die Historizität, also dass bestimmte Begriffe oder Konzepte der Zeit geschuldet sind. Das versucht Wikipedia ein bisschen abzufangen, indem sie einerseits die Seiten permanent aktualisiert und andererseits in den Artikeln selbst teilweise zumindest versucht, die Historizität der Konzepte darzustellen.

    Allerdings fände ich schöner, wenn man das systematischer macht und da kommt das Autorenkonzept wieder ins Spiel. Es gibt ja von Joachim Ritter dieses Historische Wörterbuch der Philosophie. Darin gibt es zu bestimmten Begriffen die zeitliche Einordnung zu bestimmten Konzepten, das könnte man gut für Wikipedia adaptieren. Zum Beispiel verfasst Burkardt Lindner einen Artikel auf Wikipedia zum Mimesis-Begriff bei Adorno und wenn er als Autor aufscheint, dann weiß man auch, aus welcher Tradition der jeweilige Autor kommt. Dann holt man aber noch eine zweite Meinung dazu. Das fände ich eine spannende Geschichte. Diesen Zwang zur Vereinheitlichung, also letztlich nur eine Position darzustellen, wenngleich man schon ein bisschen auf Widersprüche eingeht, das könnte man überdenken. Warum lässt man nicht auch als Teil von einem Artikel mal zwei Positionen stehen und in dieser Weise sichtbar? Das täte, glaube ich, auch der Wissenschaft gut. Das würde die Autoren viel mehr markieren, entweder dass sie die Texte schreiben oder zur Verfügung stellen.

    Adelheid Heftberger: Was auffällt, ist dass die Literaturlisten unter den Artikeln meist sehr kurz oder doch sehr eklektisch sind? Nun wird aktuell das Projekt WikiCite entwickelt. Im Grunde könnte man doch einfach die Bibliographien aus zum Thema publizierten Büchern zur Verfügung stellen können, oder? Das wäre dann umfangreich und seriös recherchiert.

    Jürgen Keiper: Ich glaube auch, dass man das noch weiterspinnen kann. Ich habe meinen Student_innen mal den Vorschlag gemacht, dass man die Film-Retrospektiven, die weltweit gemacht werden zur freien Verfügung stellt. Ich finde es einen Aberwitz, dass in diesem Bereich immer wieder neue Listen mit dem vorhandenen Wissen der Autoren erstellt werden, zum Beispiel zum Thema Expressionismus werden ständig Retrospektiven auf der ganzen Welt gemacht. Da wäre es doch viel sinnvoller, diese Rechercheergebnisse einmal zentral zu dokumentieren. Dann könnte man auch sehen, wie sich die einzelnen Retrospektiven unterscheiden, z. B. welche Schwerpunkte eine Retrospektive zum neuen deutschen Film im Museum of Moder Art in New York im Gegensatz zu einer in Japan setzt und warum? Das fände ich super spannend, auch zum Thema implizites Wissen.

    Adelheid Heftberger: Diese Excel-Listen, die auf den Rechnern der Kurator_innen gespeichert sind, wären dann im Grunde auch geisteswissenschaftliche Forschungsdaten.

    Jürgen Keiper: Genau. Wir haben gerade ein Projekt, in dem es genau darum geht. Wir bitten die Kuratoren um solche Informationen. Wir haben ein Archivkonzept erstellt und machen eine Trennung in ein internes (für Wissensmanagement, Dokumentation und Rechercheergebnisse) und externes Archiv (Publikation) und wir bitten ständig darum, die Rechercheergebnisse da auch hinein zu stellen. Für die Recherche wurde öffentliches Geld bezahlt. Und dieses Argument greift dann nicht, weil auf die Vorarbeiten verwiesen wird. Man erwidert dann z. B., dass es sich ja um ist das Ergebnis von 25 Jahren Arbeit handelt.

    Man kann ja noch weiterdenken und weiter öffnen und nutzbar machen. Wenn ich als Privatperson Zugriff hätte und möchte mit meinen Freunden einen Videoabend machen, dann kann ich dort reinschauen und sehe z. B. wer zu Melodramen eine Retrospektive gemacht hat. Wenn man dann auch noch die Möglichkeit hätte zu den jeweiligen primären Ressourcen zu kommen, dann wäre das großartig. Das ist ja dann vernetztes Wissen und das ist ja auch der Hintergrund von Wikipedia oder Wikidata. Das macht natürlich nur Sinn im Semantic Web. Im Moment laufen ja die Vorbereitungen dafür und solche Nutzungen kann man dann damit machen.

    Bevorzugte Zitationsweise

    : Filmarchive als Partner in Open Science Kontexten. Adelheid Heftberger im Interview mit Jürgen Keiper über die wachsende Bekanntheit von Open Science und Wikidata sowie den Begriff der Autorschaft bei Wikipedia. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Open-Media-Studies-Blog, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/filmarchive-als-partner-open-science-kontexten-0.

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