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Die verschämte Anhänglichkeit der Naturalisten – Einige Bemerkungen zu einer Weimarer Tagung

1.7.2010

Offene Objekte/Open Objects – Jahrestagung des IKKM, Weimar, 28.04.-30.04.20101
tinyurl.com/2egrj5p

Schon seit einiger Zeit werden immer wieder Stimmen laut, die angesichts einer mittlerweile stattlichen Reihe von Tagungen und Publikationen einen Dinge-Hype in den Kultur- und Medienwissenschaften sowie den angrenzenden Disziplinen beklagen und gelegentlich auch danach fragen, worin der Mehrwert gegenüber traditionellen Forschungen zur Materialkultur, zur Kunstgeschichte oder zur traditionellen Motivforschung (Das Ding x in...) eigentlich bestehe. Wozu also eine weitere Konferenz zu den Dingen in Weimar – zumal fast genau ein Jahr zuvor die Dinge an (beinahe) gleichem Ort bereits mit aller Macht behandelt worden waren?2 Und entsteht eine neue Sicht auf die Dinge – oder die Objekte3 – dadurch, dass man sie für offen erklärt? Was bedeutet diese Offenheit?

In den Überlegungen, die den Ausgangspunkt für das Konzept der "Offenen Objekte" bildeten, ging es zunächst darum zu betonen, dass für die Medienkulturwissenschaft die Frage nach bestimmten Kategorien von Dingen alles andere als ein Modephänomen ist. Denn die Aufmerksamkeit für die Materialität der Kommunikation, also für die stofflichen Voraussetzungen desjenigen, was zuvor, und bisweilen auch heute noch, meistens als rein immateriell gedacht wurde und wird, sind konstitutiv für jede Medienkulturwissenschaft, die sich als Auseinandersetzung mit Medien als Kulturtechniken versteht. Als offen erwiesen sich die Objekte, um die es der Tagung zu tun war, also zunächst hinsichtlich ihrer konzeptuellen Erfassung und Einschließung innerhalb der Grenzen etablierter Kategorien wie materiell/immateriell oder Ding/Medium – Bernhard Siegert sollte von borderline objects sprechen. Neben der durchlaufenden Frage nach der Ding/Zeichen-Grenze und insbesondere der Debatte um den Index (Tröhler, Holl, Resümee Engell, Geimer, te Heesen) lassen sich mit Fiktion/Fakt (Geimer), Geräusch/Klang/Zeichen im objet sonore (Holl), analog/digital (Engemann, Lehmann), aber auch, konventioneller, Text/Paratext (Stanitzek) oder Text/Intertext (Piper) weitere Grenzen benennen, um deren Beschreibung und Problematisierung es den BeiträgerInnen ging.4 So sind offene Objekte zunächst auch ambige Objekte und einer der expliziten Stichwortgeber der Tagung war Paul Valérys Eupalinos ou l’ Architecte von 1921, ein anti-platonischer Dialog, in dem ein aus dem Meer an den Strand gespültes objet ambigu zum Schicksalsgegenstand wird, denn es bestimmt die Zukunft des Sokrates, der sich vom Meer und dem Offenen ab- und der Philosophie – man sollte sagen: einer bestimmten Philosophie, der Philosophie des Seins, der Idee, der Identität – zuwendet. Somit flieht er vor der Herausforderung durch ein Objekt, dessen Herkunft offen ist, von dem nicht klar ist, wer es geformt hat, die Natur in Gestalt des Meeres oder die Kultur in Gestalt eines unbekannten Handwerkers oder Künstlers; ein Objekt, dessen Form ebenso offen ist wie seine Funktion, so dass nicht umsonst seine weiße Farbe mehr noch als auf die Unbeschriebenheit auf den Überschuss einer Potentialität hinweist, die sich nicht in klaren kategorialen Zuschreibungen aktualisiert.

Vergleicht Sokrates dieses Objekt mit der Büchse der Pandora5, gelangt man von dort direkt zum zweiten expliziten Referenzpunkt des Konzepts des offenen Objekts, als das ex negativo die Latoursche black box zu benennen wäre. Denn wie aus der actor network theory (ANT) allgemein bekannt, ist die Geschlossenheit der Blackbox in der unsichtbaren Evidenz ihres Funktionierens nur in der Retrospektive eine Selbstverständlichkeit. Die Akzentverschiebung dieser Tagung lag nun darin, weniger das vorher/nachher-Spiel der ANT (oder ähnlich der science and technology studies) aufzunehmen und noch einmal auf breiter Front durchzudeklinieren, wie ein bei seiner Konstruktion offenes Objekt nach und nach geschlossen wird, auch wenn sich einzelne Vorträge wie der von Ann-Sophie Lehmann oder Adrian Mackenzie in diesem Kontext bewegten. Weitaus eher ging es um Objekte, die in ihrem Gebrauch weiterhin offen bleiben und offene Relationen produzieren, bzw. um die Gebräuche selbst, die intentional oder unintentional diese Offenheit produzieren (Hennion, Höhne, Engemann, Geimer). Vor diesem Hintergrund war zu verstehen, dass Bruno Latour in seinem Vortrag vehement die Existenz geschlossener Objekte abstritt: Alle Objekte seien immer schon offen, ihre Geschlossenheit beruhe auf einem Sehfehler. Als offene Objekte sind sie durch Relationen nicht nur mit anderen Agenten verbunden, sondern – und hier trifft sich die ANT möglicherweise mit dem systemtheoretischen Konzept der Kopplung – organisieren auch selbst diese Agentennetzwerke.

Angesichts von Valéry als Ausgangspunkt war es wenig überraschend, dass zunächst künstlerische Strömungen und Figuren des 20. Jh. wie die russischen Avantgarden oder Rilke zum Thema wurden. Und natürlich durften auch auf dieser Tagung einige der mittlerweile wohlbekannten Topoi der Auseinandersetzung nicht nur, aber vor allem der Moderne mit den Dingen nicht fehlen: Der Aufstand der Dinge, auch bekannt als Tücke des Objekts, ihre erotische Aufladung oder Fetischisierung (so das Raubtierfell an Rilkes mehrfach thematisierten Archaischen Torso Apollos), die Belebung im Sinne eines mehr oder weniger kokettierenden Animismus oder die rhetorischen Strategien von hypotoyposis, energeia/enargeia, oder auch der Blick der Dinge selbst mittels der Kamera. Doch dabei blieb man nicht stehen. Dass dies so war, hat viel zu tun mit einer Abkehr von einer Emphase der ‚Dinge für sich’ in ihrer vom Menschen abgewandten Fremdheit und Unzugänglichkeit. Diese Herangehensweise tauchte in der Auseinandersetzung mit phänomenologisch motivierten Zugriffen wieder auf (Steiner). Und zweifellos muss gegenüber dem Mainstream der ANT bisweilen auch auf der Rätselhaftigkeit der Dinge, ihrem Entzug, bestanden werden. Nur darf auch angemerkt werden, dass dies nicht unbedingt in Betonung ihrer vermeintlichen hermetischen Verschließung geschehen muss, eine Hypothese, die letztlich spiegelbildlich der Vorstellung von den Dingen als der reinen Projektionsfläche des Subjekts entspricht. Als Beleg dafür, dass auch ein phänomenologisch (und psychoanalytisch) motivierter Ansatz anders argumentieren kann und dabei gerade die Offenheit des Objekts beweist, sei auf die Arbeiten Georges Didi-Hubermans und exemplarisch auf seine Analyse der, auch was ihre Form angeht, vermeintlich völlig geschlossenen, a-relationalen und a-semantischen Skulpturen der minimal art in Ce que nous voyons, ce qui nous regarde verwiesen.6

Friedrich Balke brachte in seinem Vortrag beide Argumentationsstränge, ‚phänomenologische’ wie relationale Öffnung der Objekte, zusammen und machte für beide Hinsichten deutlich, dass mit den Dingen auch Menschen involviert sind: Denn in seinem Weg vom Rilkeschen Apolltorso als offenem Objekt7 zu den Pazaurekschen8 Urteilen über monströse Geschmacksverirrungen in der Gestaltung von Vasen und Schalen ging es zum einen um die Sozialität der Dinge, um den Henkel als den Angriffspunkt für die Handhabbarkeit (Simmel), der damit immer auch schon auf die Verfügbarmachung des Menschen verweist. Zum anderen aber ging es um die Offenheit als Auflösung der prägnanten oder vollkommenen Form. Dies nicht nur im Fragment eines Torsos, sondern eben auch in den Geschmacksverirrungen exuberanter und disproportionierter Formgebung. Was dabei auf dem Spiel steht ist aber, so wurde deutlich, mit Bataille gesprochen stets die Rückversicherung in einer menschlichen Gestalt als Form par excellence. Der Henkel – diesmal an einer Teekanne – sollte später noch in Ann-Sophie Lehmanns Vortrag zum Utah Teapot eine zentrale Rolle spielen, in dem es ihr unter anderem darum ging zu zeigen, wie die Sphäre des vermeintlich immateriellen virtuell-digitalen Bildes offensichtlich von einer Nostalgie eines sehr materiellen und alltäglichen Gegenstand befeuert wird. Allerdings haben sich Teekannen schon in Alice in Wonderland im Reich hinter den Spiegeln befunden und sind spätestens mit Disneys Verfilmung in den kollektiven Vorstellungsschatz eingegangen. Oder anders gesagt: Es sind gerade die zuhandendsten Dinge, deren Fremdwerden den Eintritt in eine andere Welt oder Dimension anzeigt wie erleichtert.

Gerade diese Gewohnheit des Denkens wirft aber angesichts des Vorgehens vieler Beiträge der Tagung auch eine methodische Frage auf, die zwei zentrale Verfahren der medienkulturwissenschaftlichen Arbeit betreffen: Metapher und dichte Beschreibung. Unstrittig ist das Aufzeigen von Analogien zwischen vermeintlich getrennten Bereichen – eine Methode, die sich in den Kulturwissenschaften immer wieder als fruchtbar erwiesen hat. Doch die Sprungtrope der Metapher ist vielleicht nicht immer ein Garant für Erkenntnisgewinn, etwa dann nicht, wenn die Rekonstruktion von Metaphern in der Diskursgeschichte verharrt und dabei die Relation zwischen Zeichen und Dingen aus den Augen verlieren kann, um die es der Untersuchung offener Objekte doch zu tun ist. Zum anderen, weil die Metapher nicht nur sprunghaft ein Objekt auf einen anderen Seinsbereich hin öffnen kann, sondern allzu leicht ganz gegenteilig dazu dient, das Unbekannte mit vertrauten Annahmen über ein (vermeintlich) Bekanntes zu erklären. Noch schlimmer allerdings kommt es, wenn beharrlich auf der Evidenz einer Metapher beharrt wird, ohne dass in irgendeiner Weise erkennbar würde, was eigentlich das tertium comparationis sein soll, das diesen Einsatz rechtfertigen würde. Möglicherweise ist die weniger glanzvolle Beschreibung letztlich produktiver – auch hier würden sich Soziologie der Übersetzung und Phänomenologie treffen. Wie erhellend die sorgsame Beschreibung eines komplexen und sich diachron verändernden Netzwerks oder agencements sein kann, das sich um ein Objekt herum bildet, zeigte Stefan Höhne in seinem Vortrag zum New York subway token, der in seiner langen Geschichte nicht nur zahlreiche taktische Umfunktionierungen erfahren hat, sondern dabei auch beständig den Status zwischen Ding und Zeichen, ökonomischem und juristischem Gegenstand, offiziellem Beförderungsmittel, lokalem inoffiziellem Zahlungsmittel und weltweit zirkulierendem Souvenir wechselt.

Als fruchtbarer Ansatzpunkt für die Diskussion, der bereits auf Fragen vorauswies, die vor allem wieder bei te Heesen und Geimer ins Zentrum rücken sollten, erwies sich Antoine Hennions Analyse der attachments, also der Sympathien und Anhänglichkeiten, etwa von Amateuren, Liebhabern, Fans, aber auch von Abhängigen. Dabei spielt die Kategorie der Leidenschaft eine zentrale Rolle, die eine Aufhebung der klassischen Opposition zwischen aktiv und passiv erlaubt. Hennion zufolge sind wir stets in einem dichten Netz von Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten ‚gefangen’; unsere Freiheit besteht demnach nicht darin, dass wir uns von den Bindungen zu den Dingen losmachen, sondern alte durch neue Bindungen ersetzen. Diese Beschreibung lässt den Umgang mit den Dingen zuallererst als rekursives Verfahren erscheinen, in dem der affektive, körperliche Umgang mit den Objekten uns transformiert. Erich Hörl wies in seiner anschließenden Intervention nicht nur auf die Vorwegnahme des Begriffs des offenen Objektes bei Gilbert Simondon hin,9 sondern plädierte auch dafür, den durch die attachments eröffneten Kontext auch auf eine Ökonomie des Begehrens auszuweiten, wobei neben Bernard Stiegler natürlich Deleuze/Guattari seine zentralen Bezugspunkte waren. Die anschließende Diskussion litt, ganz gleich ob die Reaktionen positiv oder negativ ausfielen, etwas unter dem Missverständnis, dass es dabei um psychoanalytische Objektbesetzungen gehe. Ein Missverständnis, das der Tarde-Leser Bruno Latour hätte aufklären können, wenn er zu diesem Zeitpunkt schon anwesend gewesen wäre, der schließlich in den letzten Jahren ausgehend von Tardes Kategorien von croyance et désir, Überzeugung und Begehren, für eine Ökonomie der Interessen plädiert.10 In seiner Keynote fand Latour Erklärungen für unseren Glauben an die Geschlossenheit der Objekte in euklidischer Geometrie und der cartesianischen Idee der res extensa, gegen die er die Topologie der Netzwerke, Bergsons durée als Kontraktion der Materie und Whiteheads Kritik an der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten anführte. Für die abschließende Argumentation seines Vortrags bezog er sich vor allem auf den Anthropologen Philippe Descola11, der unsere (‚moderne’) Art, die Welt aufzuteilen, den Naturalismus, von den Modellen des Analogismus (dem auch das Abendland bis zum Mittelalter angehört hat), des Animismus und des Totemismus unterscheidet. Demzufolge haben nur wir Modernen (oder eher: der Mainstream unseres Denkens, zu dem etwa schon Leibniz einen Kontrapunkt setzt) die Angewohnheit – in der Theorie, nicht in der Praxis, wie Latour im Unterschied zu Descola betont – die res cogitans für den Menschen (und einige höherstehende Tiere) zu reservieren. Gehen wir also davon aus, dass die ganze Welt aus einer Materie gemacht ist, und glauben, uns durch den Geist vom Rest der Welt zu unterscheiden, worauf wir die Natur/Kultur-Unterscheidung begründen, denken die Animisten, die etwa in Südamerika weit verbreitet sind,12 dass sich alle Wesen hinsichtlich ihrer Körper unterscheiden, aber identische Seelen besitzen. Dass die Modernen aber vom Analogismus zum Naturalismus übergeschwenkt sind, erklärte Latour mit Bezugnahme auf Peter Sloterdijk als einen Konstruktionsfehler des griechisch-christlichen Universums, das mehrere Zentren (als geozentrisches die Erde, als theozentrisches den Himmel) habe. Naturalismus beruhe auf der Konfusion in der Konstruktion des griechischen Kosmos, die dann offenbar mit dem Wegbrechen der christlichen Erklärungen, die von einer Heterogenität der Räume ausgeht (unsere Welt inklusive Hölle und dem irdischen Paradies vs. das Paradies, das einer anderen Ordnung angehört) in der Renaissance problematisiert und mathematisch-geometrisch gelöst werden muss.

Man kann aber auch nicht umhin festzustellen, was Latour aus Descolas Modell aussparte, ja woran er sich nicht einmal erinnern konnte. Dieser bemerkenswert blind spot war der Totemismus, wie er sich etwa bei den Aborigines Australiens findet. Diese teilen die Welt in Teams aus unserer Sicht heterogener Akteure auf: Jedes ‚Team’ umfasst bestimmte Menschen, Tiere, Pflanzen und Artefakte und unterscheidet sich von anderen Teams, die sich aus anderen Menschen, Tieren etc. zusammensetzen. Sind also nicht auch ANTler Totemisten? Zumindest besteht eine bemerkenswerte Analogie mit den Netzwerken als nicht endlos ausgedehnter, sondern begrenzter Form des Zusammenschlusses zwischen heterogenen, menschlichen und nichtmenschlichen, ‚kulturellen’ und ‚natürlichen’ Akteuren.

Ein durchaus nicht unproblematisches Verfahren des Öffnens von Objekten war der Gegenstand von ,Adrian Mackenzies Vortrag, der die sehr konkreten Formen der Verschränkung zwischen dem Öffnen und Schließen von Objekten in der synthetischen Biologie beschrieb. Denn für die Konstruktion biologischer Objekte, so genannter BioBricks, die als black boxes funktionieren sollen, spielt Offenheit nicht nur in der Form der Kooperation zwischen den Wissenschaftlern mittels OpenSource-Software oder der Internetplattform IGem eine zentrale Rolle. Zunächst einmal ist es die biologische Substanz die geöffnet, die aufgebrochen werden muss, um für das biotechnische Redesign verfügbar gemacht zu werden. Problematisch erscheint daran vor allem der Glaube an die Möglichkeit der verlustfreien Überführung von Materie13 in schriftförmige Information, also letztlich die Ablösbarkeit der Information von der Materie – letztlich eine Reaktualisierung des alten abendländischen Topos vom Buch der Natur, der weiterhin wirkmächtig bleibt.

War mit diesem Beispiel einmal mehr und in besonders virulenter Form die Frage nach der Relation zwischen Dingen (oder Materie) und ihrer Überführung in Codes und Zeichen aufgeworfen,14 so griff die letzte Sektion der Tagung diese Frage auf und führte zurück zu den Konzepten von Indexikalität und Spur, die während der Tagung schon zuvor intensiv diskutiert worden waren. Zunächst rekonstruierte Anke te Heesen das kulturwissenschaftliche Paradigma der Spurensicherung, wie es sich in den siebziger Jahren herausgebildet hatte und das damit verbundene Interesse an sentimentalen Objekten, d.h. Objekten, die mit persönlichen Assoziationen und Beziehungen besetzt sind und ihrem Transfer in Museen und somit in das kulturelle Gedächtnis. Schließlich befasste sich Peter Geimer mit den Dingen in und um Prousts Recherche und stellte dabei Fragen, denen die meisten Literaturwissenschaftler gerne ausweichen. Deren offizielle Ideologie, sofern sie nicht positivistisch von einer 1:1-Relation zwischen Welt und Text ausgehen (und wer gibt heutzutage noch zu, dies zu tun?), behauptet eine strikte Grenze zwischen fiktionalen und wirklichen Objekten. Geimer fragte aber nicht nur nach dem Status von Proust-Devotionalien, die reliquiengleich funktionieren und nach der unmöglichen Verortung der ‚Authentizität’ dieser Objekte, die diesen weder einfach inhärent ist, noch ihnen vollkommen willkürlich zugeschrieben werden kann, sondern eben auch nach den Fäden, welche die Dinge, Räume, Häuser, etc. der Recherche aus dem Raum der Fiktion hinaus in die reale Welt hinein ziehen.

Gerade an den niedrigen Objekten in dieser Sektion (Objekten also, deren semantischer, kultureller und ontologischer Status und somit auch deren Relevanz trotz oder möglicherweise gerade wegen ihrer Spurhaftigkeit und indexikalischen Aufladung unklar und beunruhigend blieb), entzündete sich zuletzt das Unbehagen, das aus dem Verdacht einer fundamentalen Störung der symbolischen Ordnung resultiert. Am Ende stand die skeptische Einrede von Manfred Schneider, aus dessen Kommentar das Bedürfnis sprach, der Flut der Dinge Einhalt zu gebieten. Eine Erwähnungsgerechtigkeit, die sich noch in dieser Welt verwirkliche, noch bevor es zur eschiatologischen Justiz komme, so wie es Walter Benjamin in einer mystischen Wendung vorschwebte, könne es ohnehin nicht geben. Hinter der Zeihung der Kulturwissenschaftler als sentimentaler Bande war unschwer die Befürchtung auszumachen (die in etwas anderer Form etwa auch die Mediologie einen Régis Debray umtreibt), dass in der Flut der banalen, kleinen, persönlichen Dinge und der an ihnen geknüpften Erinnerungen die Konzentration auf die großen Werte, Ereignisse, Kunstwerke verloren gehe, die allein die Stiftung einer kollektiven symbolischen Ordnung ermögliche. Hierin traf sich Schneider mit einem Verdacht, der zu einem früheren Zeitpunkt auf der Tagung laut geworden war: Dass nämlich die Proliferation der Dinge – und ihrer Offenheit – Symptom sein könnte für den Übergang in paranoide Zustände, in denen die suture, also die Vernähung mit den Objekten aufgetrennt worden sei. Wie sich dieser Befund allerdings zur Beschreibung des attachment an die Dinge verhält oder generell mit der Arbeit der ANT, sei es in der Spielart Latours, Hennions oder auch Callons, die gerade die funktionalen wie emotionalen Beziehungen zu den Dingen in Gebrauch und Wertschätzung etwa durch Amateure oder, negativ gewendet, durch Süchtige, in den Vordergrund stellt, bleibt dabei ungeklärt. Vielleicht muss man sich, mit Deleuze und Guattari, nicht vor paranoiden Verhältnissen fürchten. Vielleicht ist es aber auch einfach die Paranoia der Psychoanalyse, sich Fetische und andere Objekte vom Leib halten zu müssen, weil sie das, was sie das Reale nennt, nicht aushält. Descolas Animisten oder Totemisten denken ebenso wenig in den Lacanschen Unterscheidungen wie die ANT. Diese sind, so sei behauptet, die Zementierung eben jener fundamentalen Trennung zwischen Natur und Kultur, die wir Modern als Naturalisten in unserer Praxis ohnehin permanent unterlaufen. Mit anderen Worten: Wir sind immer schon paranoid gewesen. Doch wie auch immer man dazu stehen mag, eines machte diese Tagung deutlich: Die Dinge sind nicht einfach gegeben. Offene Objekte gibt es nicht für sich, sondern stets nur in Reflexion über und in der Beschreibung ihrer konstruierten Wirklichkeit und den sie umgebenden Relationen. Mit einem naiven ‚zurück zu den Dingen’, mit einer Abwendung von Theorie und einer Hinwendung zu einem vermeintlich Zuhandenen, Handfesten und Konkreten hat dies allemal nichts zu tun.

Die Vorträge der Tagung werden auf der Website des IKKM unter vimeo.com/ikkm/videos zugänglich gemacht.

Juli 2010

  • 1Vorab eine notwendige Bemerkung in eigener Sache: Die Redaktion der ZfM ist mit der Bitte um eine Besprechung der Tagung an mich herangetreten. Die sonderbare Position oder genauer gesagt: der Spagat, aus dem heraus dieser Text geschrieben ist, kann und soll aber nicht verschwiegen werden. Ich bin nicht nur Mitarbeiter des veranstaltenden IKKM, sondern war als solcher auch in nicht geringem Maße an der konzeptuellen Planung der Tagung beteiligt. Es soll also überhaupt nicht der absurde Versuch unternommen werden, die Objektivität einer Außenperspektive zu behaupten oder zu simulieren. Gleichzeitig wird hier aber auch keine offizielle Verlautbarung des IKKM abgeben.
  • 2Die Macht der Dinge, Weimar, 23.-25. 04. 2009
  • 3Der Titel der Tagung ist nicht als terminologischer Ausschluss des Ding-Begriffs zu verstehen, weil beide Begriffe klar auch Nachteile mit sich bringen, wobei die Nachteile von ‚Ding’ allerdings überwiegen mögen: Der Begriff kann Anschaulichkeit, Handfestigkeit und einen vortheoretischen Status der Gegebenheit suggerieren, das Objekt hingegen die Opposition zum Subjekt sowie theoretische Konnotationen wie die Psychoanalyse.
  • 4Im Folgenden wird kein erschöpfender Überblick über alle Vorträge gegeben. Einzelne Vorträge werden ausführlicher behandelt, wenn sich an ihnen die durchgehenden Argumentationslinien der Tagung nachvollziehen lassen.
  • 5Paul Valéry, Eupalinos ou l’architecte, in: ders.: Eupalinos – L’âme et la danse – Dialogue de l’arbre, Paris (Gallimard) 1970, 7-106, hier 61.
  • 6Georges Didi-Huberman, Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, Paris (Minuit) 1991, dt. Was wir sehen blickt uns an, München (Fink) 1999.
  • 7Bemerkenswerterweise war es aber weder Kernmeyer, Balke noch den Diskutanten eine Bemerkung wert, dass Rilke dieses fragmentarisch offene Objekt ausgerechnet mit einem Sonett bedenkt, also der traditionsreichsten und – sieht man von der intertextuellen Dimension etwa des Petrarkismus ab - zunächst einmal in sich geschlossensten abendländischen Gedichtsform.
  • 8Gustav E. Pazaurek, Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart/Berlin (DVA) 1912.
  • 9Vgl. Gilbert Simondon, Mentalité technique, in: Revue philosophique de la France et de l’Étranger, Heft 191 (2006), Paris, 343-357.
  • 10Vgl. Bruno Latour/Vincent Antonin Lépinay, L’économie, science des intérêts passionés. Introduction à l’anthropologie économique de Gabriel Tarde, Paris (La Découverte) 2008, engl.: The science of passionate interests, Chicago, IL (Paradigm) 2009.
  • 11Philippe Descola, Par-delà nature et culture, Paris (Gallimard) 2005.
  • 12Vgl. dazu auch den ebenfalls von Latour zitierten brasilianischen Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro, Métaphysiques cannibales. Lignes d’anthropologie post-structurale, Paris (P.U.F.) 2009.
  • 13Für einen Gegenentwurf, der auch für Mackenzies Arbeiten wichtig ist, vgl. Gilbert Simondon, L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Grenoble (Millon) 2005.
  • 14Es liegt die Vermutung nahe, dass generell gilt, was dieses Beispiel zeigt: dass Dinge immer nur dort entstehen, wo Substanz oder Materie zeichenhaft erschlossen wird, also im shifting up und shifting down, das Latour analysiert hat, vgl. etwa Bruno Latour, On technical mediation – Philosophy, Sociology, Genealogy, in: Common knowledge Heft 3/2 1994, 29-64.

Bevorzugte Zitationsweise

Cuntz, Michael: Die verschämte Anhänglichkeit der Naturalisten – Einige Bemerkungen zu einer Weimarer Tagung. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinetext, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/die-verschaemte-anhaenglichkeit-der-naturalisten-einige-bemerkungen-zu-einer-weimarer-tagung.

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