Gewerkschaftliche Organisierung von Lektor_innen in Kalifornien und anderswo
In der ZfM-Debatte «Für gute Arbeit in der Wissenschaft» forderte Christian Cargnelli für alle als «Höchstleistungsmotoren» agierenden Lehrbeauftragten eine Vernetzung der Interessensvertretungen von Lehrbeauftragten auf europäischer und internationaler Ebene. Grundlage für eine Vernetzung von österreichischer Seite bietet die Interessensgemeinschaft (IG) Lektor_innen und Wissensarbeiter_innen, die gegen eine Prekarisierung im universitären Bereich kämpft, von der insbesondere Lehrende in den Medienwissenschaften in Österreich betroffen sind. Wenn man nicht davon ausgeht, dass Nachwuchswissenschaftler_innen als Hobby an deutschen Universitäten Medienwissenschaft oder andere Geisteswissenschaften unterrichten, kann von einer Prekarisierung nicht als von einem Prozess zunehmender sozialer Unsicherheit, fehlender Gesundheitsversorgung und Arbeitslosigkeitsversicherung die Rede sein – sondern dies ist der existierende Status Quo. Ich möchte zur weiteren Vernetzung die Kooperation mit einer kalifornischen Gewerkschaft vorschlagen.
Denn noch immer unterrichten an deutschen Universitäten promovierte oder habilitierte Wissenschaftler_innen unentlohnt; wenn man Fahrt- und Materialkosten berücksichtigt, zahlen sie sogar dafür, teils in der Hoffnung, «Lehrerfahrung» zu generieren, teils wegen der Verpflichtung, als Privatdozent_innen zu unterrichten. Von der ursprünglichen Idee der Lehraufträge, dass außeruniversitäre Expert_innen ihr (praktisches) Fachwissen nebenberuflich, quasi als Freizeitbeschäftigung, weitergeben, bleibt nur mehr eine vage Erinnerung,1 denn die Realität ist das unsichere Versprechen einer zukünftigen akademischen Laufbahn, die, wie ja bereits in anderen Debattenbeiträgen schon angesprochen, nur für einen kleinen Teil der promovierten Wissenschaftler_innen tatsächlich umsetzbar ist. Dennoch scheint gerade in Deutschland noch eine Mentalität präsent, derzufolge die Partizipation an der universitären Lehre an sich bereits eine Auszeichnung darstellt, denn selbst um unbezahlt zu lehren, müssen insbesondere Nachwuchswussenschaftler_innen noch einen Selektionsprozess durchlaufen oder über persönliche Kontakte verfügen. Hinzu kommt die unbezahlte Lehre von Habilitierten, die unbezahlt unterrichten müssen, um die Lehrbefugnis nicht zu verlieren. Allein in Berlin leisten 750 Privatdozent_innen unbezahlte Lehre, wie aus einer Anfrage im April 2017 an die Senatsverwaltung des Abgeordneten Tobias Schulze hervorging.
Neben der Pflicht zur unbezahlten Lehre mag ein anderer Grund dafür, dass diese Arbeit zum Teil sogar freiwillig geleistet wird, auch darin liegen, dass die meisten Studierenden und Hochschulabsovent_innen von ihren Eltern finanziert werden, also nicht abhängig von einem eigenen Einkommen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.2 Dadurch verschärft sich die soziale Undurchlässigkeit deutscher Hochschulen, denn nicht jede_r kann es sich «leisten», unbezahlt zu arbeiten. Damit verringern sich die Chancengleichheiten insbesondere für Frauen und Studierende aus einkommensschwachen Familien, und dementsprechend liegt der Anteil dieser sozialen Gruppe bei den Professor_innen bei 7%.3
Wenn eine Ideologie vorherrscht, derzufolge es sich bei der Lehre jenseits der Festanstellung gar nicht um Arbeit, sondern um die «Chance» handelt, Eingang in die Sphäre der Universität zu erlangen oder zumindest um einen Übergang, dann liegt eine gewerkschaftliche Organisierung nicht unbedingt nahe und kann auch nicht wirklich eine praktische Unterstützung bieten. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass es kein arbeitsrechtliches Verhältnis zwischen Hochschule und Lehrbeauftragten gibt und letztere somit auch nicht im Personalrat vertreten werden können. Lehrbeauftragte können zwar Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) werden, die den Aktionstag der Lehrbeauftragten am 6. November 2014 unterstützt und 2015 eine Broschüre zum rechtlichen Rahmen veröffentlicht hat, aber mir sind keine konkreten Verhandlungen bekannt, die Forderungen nach sozialversicherungspflichtigen dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen und die Vergütung aller mit der Lehre verbundenen Tätigkeiten verfolgen.
Einzelne Initiativen, die neben den Lehrbeauftragten weitere prekäre oder befristet Beschäftigte an den Hochschulen vertreten, haben sich im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft zusammengeschlossen, wie die Frankfurter alternative Gewerkschaft unter_bau, das Netzwerk Prekäres Wissen und verschiedene Mittelbauinitiativen.
Eine mögliche Bündnispartnerin auf internationaler Ebene, wie Cargnelli vorschlägt, könnte die Gewerkschaft University Council-American Federation of Teachers (UC-AFT) sein, die die Bibliotheksangestellten und Lehrbeauftragen bzw. Lektor_innen der University of California vertritt. Diese werden auch als non-senate faculty (NSF) bezeichnet (das bedeutet, dass sie nicht im Akademischen Senat vertreten sind). Die Gewerkschaft wurde 1978 gegründet, nachdem zum ersten Mal Gewerkschaften an den kalifornischen Universitäten zugelassen wurden. Sie arbeitet eng mit der California Federation of Teachers (CFT) und der nationalen American Federation of Teachers (AFT) zusammen. Dieser nationale Verband bietet Ressourcen für politische und legislative Aktionen in Form von personeller Unterstützung, aber auch Zugang zu Daten in Verhandlungen oder zu Mitgliedern, die die Gewerkschaft bei Demonstrationen oder Medienkampagnen unterstützen können. Seit 1983 verhandelt die Gewerkschaft kalifornienweite Übereinkünfte und Verträge mit dem Ziel, diese stetig zu verbessern. Zu Beginn ihrer Tätigkeit ging es vor allem darum, einheitliche Verträge zu gestalten, die davor individuell bzw. arbiträr vereinbart wurden. Die Gewerkschaft hat seit 2000 erreicht, dass der Mindestlohn für Lehrbeauftragte von ca. 29.000 US-Dollar auf 53.000 US-Dollar im Jahr gestiegen ist, während zugleich die Anzahl der Seminare, die Lektor_innen unterrichten müssen, reduziert wurde. Dazu muss man wissen, dass an amerikanischen Universitäten die Sprachkurse und Einführungsseminare in wissenschaftliches Arbeiten fast ausschließlich von Lektor_innen unterrichtet werden. An diesen Seminaren nehmen oft sehr viele Studierende teil, und sie finden oft drei Mal wöchentlich statt. Insgesamt werden an den UCs die Hälfte dieser und anderer undergraduate (Grundstudiums)-Seminare von Lektor_innen unterrichtet. Jährlich beschäftigen die UCs 5.000 Lektor_innen, fast 25% davon arbeiten Vollzeit, was zwei bis drei Kursen pro Semester entspricht, 50% unterrichten in Teilzeit. Eine Reduktion des erforderlichen Lehrdeputats wurde in einer Kampagne 2016 durchgesetzt, ebenso wie eine Erhöhung des Gehalts um 6,2%. Ab 2019 sollen die Lektorinnen dieselbe Staffelung von Gehaltserhöhungen wie festangestellte Professorinnen (tenured faculty) bekommen. Die Gewerkschaft unterstützt Lektorinnen auch dabei, fest angestellt zu werden. In den ersten sechs Jahren der Anstellung wird ein Vertrag nur jeweils um ein Semester verlängert, abhängig von den Mitteln, der Anzahl der Studierenden oder den Erfordernissen des Lehrplans. Nach sechs Jahren muss eine Begutachtung stattfinden (excellence review) mit der Option auf eine langfristige Anstellung, die alle drei Jahre erneuert werden kann. Davor gab es die Regel ‹8-Jahre-und-raus›. Viele Institute versuchen jedoch, bevor der Begutachtungsprozess beginnt, die Lektor_innen nicht wieder anzustellen, so dass sie die sechs Jahre nicht erreichen; daher unterstützt die Gewerkschaft Lektor_innen schon vor Ablauf der Frist darin, kontinuierliche Verträge zu bekommen. Die Gewerkschaft hat auch erreicht, dass die meisten Lektor_innen krankenversichert sind. Dies trifft jedoch meist wiederum nicht auf Gastprofessor_innen (Visiting Professors oder Visiting Assistant Professors) zu. Ein anderes Problem stellt die Arbeitslosenversicherung dar. Viele Lektor_innen werden in den Semesterferien nicht bezahlt, so dass sie in der unterrichtsfreien Zeit Arbeitslosengeld beziehen könnten. Sie müssen eigenständig eine Arbeitslosenversicherung abschließen, in die sie aber aufgrund eines komplizierten Regelwerks nicht immer aufgenommen werden.
Meine Erfahrung war, dass die Gewerkschaft mittlerweile ab dem ersten Semester Lektor_innen dabei unterstützt, wieder angestellt zu werden. Ich habe 2007 drei Semester an der UC Riverside Seminare mit dem genannten Turnus von drei Sitzungen in der Woche unterrichtet und damals pro Seminar um die 1.800 US-Dollar für die zehn Wochen des Quarters bekommen. Im Winter 2017 habe ich pro Monat für ein Seminar, das ein Mal wöchentlich stattfand, 2.800 US-Dollar erhalten. Ich wurde von einer Vertreterin der Gewerkschaft zu einem Treffen eingeladen; dort wird z. B. gefragt, ob man auf der Webseite des Instituts vertreten ist und zu welchen Treffen des Instituts man eingeladen oder eben nicht eingeladen wird. Nach meiner Erfahrung ist man vom universitären Alltagsbetrieb nicht so stark ausgeschlossen wie in Deutschland oder Österreich, insbesondere wenn man Blockseminare unterrichtet, sondern wird eher zu den repräsentativen Veranstaltungen eingeladen und nicht zu Treffen der anderen Fakultätsmitglieder. Ich hatte zwar ein Postfach und Zugang zum Kopierer und wurde aufgefordert, Sprechstunden zu geben, hatte aber kein Büro, um diese abzuhalten. Auch musste ich mich selbst krankenversichern sowie die Kosten für das Visum selbst tragen, weshalb das (zur Situation in Europa) vergleichsweise hohe Gehalt die Lebenshaltungs- und Reisekosten nicht abdeckt.
Auch us-amerikanische Lektor_innen in Kalifornien kombinieren Verträge an verschiedenen Universitäten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, aber dank der Lohnerhöhungen, der Aushandlung von festen Verträgen und von Sozialversicherungsleistungen kann die Lehre an den Universitäten jenseits der Professur als vollwertiger Beruf und Einkommensquelle gelten, was weit von der Situation der Lehrbeauftragten in Deutschland entfernt ist. Allein die durchschnittliche Vergütung ist mit 2.800 US-Dollar monatlich für ein Seminar etwa zehn Mal höher als in Deutschland vergütete Lehraufträge.4
Damit in Deutschland ein ähnlicher Lohn und eine Beschäftigung mit Sozial- und Krankenversicherung für Lehrbeauftragte erreicht wird, wäre es wohl am wirksamsten, wenn bis zur Durchsetzung dieser Ziele niemand mehr unter derzeitigen Bedingungen Lehraufträge durchführte. Vielleicht führt ja die beginnende Vernetzung prekärer Beschäftigter an den Hochschulen zu solch einer Form der Arbeitsverweigerung, bis ihre Arbeit anerkannt wird.
- 1Laut Broschüre der GEW zur Situation der Lehrbeauftragten ist diese Idee noch immer aktuell: «Es herrscht nämlich – auch bei den Entscheidungsträgerinnen und -trägern in den Hochschulen – noch immer die Ansicht vor, dass die im Erwerbsleben stehenden Praktikerinnen und Praktiker im Rahmen eines Lehrauftrags ‹vor allem aus Freude an der Aufgabe bereit sind, der Hochschule ohne Vergütung zu dienen› (so z. B. Werner Thieme: Deutsches Hochschulrecht, Köln 2004, 3. Aufl., Rn. 780); Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hg.): Lehrbeauftragte. Rechtlicher Rahmen und Hintergrundinformationen. Erarbeitet von Cord Würmann, Frankfurt / M. 2015, S. 8.
- 2Laut der Sozialerhebung vom Sommer 2016 bestreiten 51% der Studierenden ihren Lebensunterhalt durch finanzielle Unterstützung der Eltern, nur 12% erhalten Bafög, 26% der Studierenden haben eigenes Einkommen. 52% der Studierenden kommen aus Haushalten mit einer akademischen Bildungsherkunft. Vgl.: www.sozialerhebung.de/archiv.
- 3Diese Zahl hat eine Studie aus dem Jahr 2014 der Soziologin Christina Möller ermittelt. Mit der Kategorie «niedrige Herkunft» wird die soziale Herkunft von Professor_innen bestimmt, deren Eltern immerhin «Arbeiter und Angestellte in ausführender Tätigkeit oder Beamte des einfachen und mittleren Dienstes sind.» Arbeitslose Eltern oder solche mit Hilfsjobs kommen in der Studie gar nicht vor. Vgl.: www.tagesspiegel.de/wissen/soziale-mobilitaet-an-der-uni-die-feinen-unterschiede-machen-den-professor/9563200.html.
- 4Zur durchschnittlichen Vergütung von Lehraufträgen in Deutschland siehe: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hg.): Lehrbeauftragte. Rechtlicher Rahmen und Hintergrundinformationen. Erarbeitet von Cord Würmann, Frankfurt / M. 2015.
Bevorzugte Zitationsweise
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