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Das 23. Film- und Fernsehwissenschaftliche Kolloquium

1.7.2010

Das Film- und Fernsehwissenschaftliche Kolloquium (FFK) ist wahrscheinlich eine der kuriosesten unter den medienwissenschaftlichen Tagungen im deutschsprachigen Raum. Ohne Satzung und ohne Trägerschaft wandert das FFK nun im 24. Jahr von Universität zu Universität und wird immer wieder neu von jeweils anderen Organisationsteams realisiert. Zugleich ist es hinsichtlich Dynamik und Potential eine der spannendsten Tagungen und das aus mehreren Gründen.

In erster Linie versammelt das FFK Abschlussarbeiten und Qualifikations- bzw. Forschungs- projekte des wissenschaftlichen Nachwuchses. Dies hat den eher praktischen Grund, dass es prinzipiell zugangsoffen ist: wer sich anmeldet, darf vortragen. In diesem Zusammenhang hat sich wohl das Gerücht entwickelt, Professoren seien nicht zugelassen, obwohl das FFK als fachliche, nicht generationsorientierte Tagung eingerichtet wurde. Alljährlich kommen nun im Frühjahr unter der immer gleichen und eher weit gefassten Themenvorgabe „film- und fernsehwissenschaftlich“ 30 bis 60 JungwissenschaftlerInnen aus allen Regionen des deutschsprachigen Raums für ein paar Tage zum Kolloquium zusammen. Da die Teilnahme am FFK mit Kosten und Aufwand verbunden ist, sind es vorwiegend die Engagierteren, die anreisen.

Dass die Tagung dabei thematisch nicht homogen gerät, liegt auf der Hand. Auch wenn immer wieder versucht wird, durch nachträgliche Themenperspektivierung Ordnung ins Disparate zu bringen, entscheidet das nicht die Tagung. Die unvergleichliche Qualität und Dynamik des FFK liegt darin, dass man sich auf hierarchiefreier Ebene der Fachdiskussion stellt. Dabei bietet das FFK eine Plattform für thematische, methodische oder performative Experimente und gerade in jüngster Zeit wird der experimentelle Aspekt verstärkt wahrgenommen. Dadurch erhält das FFK einen Laborcharakter zur Erprobung von Denk- und Arbeitsweisen.

Wenn auch die Auswahl von 30 bis 60 Forschungsprojekten nicht unbedingt repräsentativ erscheint, so muss man doch bedenken, dass die Jungwissenschaftler zum größten Teil ihre Dissertationsprojekte aus Instituten heraus oder im Kontext von Forschungskollegs entwickeln, und somit kann man das FFK als eine Art Seismograf für Tendenzen in den deutschsprachigen Film- und Fernsehwissenschaften ansehen. Tatsächlich formulieren viele der späteren WortführerInnen in den Medienwissenschaften hier ihre ersten Positionen und Ansätze. Hans J. Wulffs Bibliografie der publizierten Beiträge aller FFKs seit 1987 liest sich heute bei den Autorennamen der älteren FFKs wie ein Who is Who der aktuellen deutschen Medienwissenschaft.1 Im vergangenen Jahr in Passau ist daher auch folgerichtig die Publikation des Kolloquiums in eine Zeitschrift verwandelt worden. In Serie lassen sich die jährlichen Akten des FFK nämlich lesen als höchst wechselvolle Verlaufsgeschichte von thematischen und methodischen Entwicklungen und Tendenzen in den deutschsprachigen Medienwissenschaften. Alle Keime, auch diejenigen, die sich nicht in die großen Leitdiskurse durchsetzen konnten, sind hier archiviert.

In Hildesheim war in diesem Jahr eine überraschend deutliche Gesamttendenz auszumachen. In den meisten Vorträgen und Diskussionen konnte man den Eindruck gewinnen, dass die bereits schon mal totgeglaubte Filmwissenschaft wieder virulenter geworden ist und dass sie an einem Wendepunkt steht zu einer eigenständigen Bestimmung der Disziplin, um genuin filmische Probleme in den Blick zu bekommen. So bestand ein Großteil der Vorträge in Ansätzen zu Revision und Relektüre von filmtheoretischen Ansätzen und filmwissenschaftlichen Konzepten2: Gleich drei Forschungsprojekte zum Ton wurden vorgestellt von Silke Martin (Erfurt/ Weimar), Kayo Adachi-Rabe (Berlin/ Tübingen) und Ingo Landwehr (Berlin/ Weimar). Unter völlig unterschiedlichen Perspektiven schlugen u.a. Julia Eckel (Bochum), Kristina Köhler (Zürich) und Hans J. Wulff (Kiel) Projekte zur Überprüfung von Ansätzen vor, die Konzepte wie das Körperliche, die Diegese, das Anthropomorphe und das Spektakuläre betreffen. Sonja Czekaj und Philipp Blum (beide Marburg) arbeiteten in einem gemeinsamen Vortrag an Verbindungslinien einer sinnlichen Gedächtnisarchäologie mit semiopragmatischen Ansätzen, methodisch daran anschließend referierte Monika Weiß (Marburg) zur Entstehung kollektiver Geschichtsbilder. Guido Kirsten (Zürich) unternahm eine Relektüre des triadischen Ansatzes der Semiologie bei Peirce. Wiebke Wolter (Hildesheim) versuchte das Filmerleben und das Ereignishafte des Filmischen für die Ästhetik diskursivierbar zu machen. Franziska Heller (Zürich) machte auf Verschiebungen und Veränderung in Filmgeschichte und Filmgeschichtsschreibung durch die DVD als Trägermedium mit spezifischer kultureller Praxis aufmerksam. Katharina Wloszczynska (Jena) stellte das Remake als Forschungsgegenstand mit bislang vernachlässigtem filmtheoretischem Potential vor, dazu entwickelte sich aus einer anderen Richtung ein anschlussfähiger Ansatz bei Nils Kurfürst (Passau) ausgehend von Fredric Jamesons Konzept des nostalgia films. Axel Roderich Werner (Düsseldorf/ Weimar) zeigte neue Aspekte des Reflexiven und Spektakulären sowie des Affektiven in filmischen Medien auf, indem er Peter Greenaways Arbeiten als komplexes System vorstellte. In der eigentlichen Absicht, eine stabile Definition zu erarbeiten trieb Bernd Leiendecker (Bochum), seine gründliche Überprüfung des Konzepts des unzuverlässigen Erzählens ausgesprochen fruchtbar bis an die Grenzen seiner Auflösung. Eine Reihe von Vorträgen waren explizit oder implizit motivisch orientiert: Stephanie Großmann (Passau) über den Naturkatastrophenfilm, Anke Steinborn (Weimar) über die amerikanische Küche, Ulrike Kuch (Weimar) über den Swimming Pool und Birgit Leitner (Potsdam) nahm eine motivische Beziehung zum Anlass eines Vergleichs der Filme Breakfast at Tiffany's und Cléo de 5 à 7.

Eine neue Generation, so scheint es, schickt sich an, Spezifika des Filmischen in den Blick zu nehmen, ohne einfach diskursverwaltend die bestehenden Begrifflichkeiten und Methoden fortzusetzen. Wenn es wahr ist, dass der Film der Reihe nach in den Kunst-, Sozial-, Literatur- und Sprachwissenschaften verhandelt wurde, und wenn zweitens wahr ist, dass ein Großteil der filmwissenschaftlichen Terminologie sich aus diesen Disziplinen herausgebildet hat, und wenn schließlich drittens wahr ist, dass sich im Film selbst – und zwar im Mainstream, nicht im Arthouse-Bereich – in den letzten Jahren etwas verändert hat, was die zur Verfügung stehende Terminologien überfordert (etwa die Konzepte von Intertextualität, Diegese, Reflexivität oder Unzuverlässigkeit des Erzählens angesichts von Filmen wie Die Hard (1-4, 1988 - 2007), From Dusk till Dawn (1996), Fight Club (1999), Gran Torino (2008) und Shutter Island (2010)), so erscheint es nachvollziehbar, dass beim Nachwuchs ein Bedürfnis nach Rekonzeptualisierungen entsteht. Die jungen WissenschaftlerInnen nehmen Aspekte des Filmerlebens ernst, wie sie zum Ausdruck kommen in einer Erinnerung von Truffaut, in der er erzählt, dass er bei seinen ersten Kinobesuchen den Inhalt eines Films nicht wiedergeben konnte, obwohl er denselben Film innerhalb von vier Wochen sechs oder siebenmal sah.3 Eine solche Sichtweise stellt viele der bisherigen Konzepte der Filmtheorie vor große Probleme. Um einen Kinozuschauer, der sechs bis siebenmal denselben Film innerhalb eines Monats ansieht und sich von anderen Dingen als der Geschichte angezogen fühlt, als einen Spezialisten ernst zu nehmen, gibt es nur wenige Konzepte in einer Disziplin, deren Theorietradition aus den textbasierten Theater- und Literaturwissenschaften herrührt. Offenbar, und in Hildesheim wurde das stellenweise offensichtlich, müssen sich derartige Fragestellungen um Überprüfung und Rekonzeptualisierung des bewegten Bildes und des bewegten Tons und deren Rezeption bemühen und um sämtliche Probleme, die damit verbunden sind.

Seit dem FFK in Passau ist dem wissenschaftlichen Aspekt des Kolloquiums ein hochschulpolitischer hinzugewachsen. Statt als reine Nachwuchstagung versteht sich das FFK auch als Plattform für den Mittelbau, dessen berufliche Situation sich inzwischen so unsicher gestaltet wie die der Absolventen. In Passau wurde auf Initiative von MitarbeiterInnen des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich erstmals ein Plenum eingerichtet, auf dem Fragen zu Zukunft und Selbstverständnis der Film-, Fernseh- und Medienwissenschaften erörtert wurden. Aus diesem Plenum ist ein Text hervorgegangen, der in der Online-Zeitschrift Rabbit Eye erschienen ist.4 Außerdem wurde das Plenum als fester Bestandteil der FFK eingerichtet. Im Hildesheimer Plenum wurde deutlich, dass die Bereitschaft miteinander zu reden groß ist, auch wenn (noch) keine Programme und Resolutionen verabschiedet werden. Ein Bewusstsein über die eigene Situation und über die Notwendigkeit der Bestimmung der Positionen und Tendenzen in den deutschsprachigen Film- Fernseh- und Medienwissenschaften ist im Entstehen. In diesem Sinne wurde verwiesen auf die Tagung „Über Medien im Bilde sein - Zu den Gegenständen medienwissenschaftlicher Forschung“ vom 16. bis 18. September 2010 in Marburg, wo man die hier angerissenen Themenkomplexe ausführlich würde verhandeln können. Für das FFK im Folgejahr 2011 wurde Zürich gewählt.

Insgesamt war zu spüren, dass der wissenschaftliche Nachwuchs sich trotz der angespannten beruflichen Situation nicht die Freude an der wissenschaftlichen Arbeit nehmen lässt, und möglicherweise dadurch gerade erst recht bereit ist, heilige Kühe anzurühren.

Das Programm und die Abstracts sind noch bis Frühjahr 2011 unter www.uni-hildesheim.de/ffk2010www.uni-hildesheim.de/ffk2010 einzusehen.

Juli 2010

Bevorzugte Zitationsweise

Frisch, Simon: Das 23. Film- und Fernsehwissenschaftliche Kolloquium. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinetext, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/das-23-film-und-fernsehwissenschaftliche-kolloquium.

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