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Cover Undeclared Movements
Onlinebesprechung

«You can't evict a movement». In Bewegung bleiben

11.4.2021

Krystian Woznicki: Undeclared Movements. Berlin (b_books) 2020    

Berlin, Jahreswechsel 2020/21. Über Kreuzberg, Neukölln und Mitte kreisen Polizeihubschrauber und kreieren bereits lange vor Mitternacht einen subtilen, aber kaum zu ignorierenden sicherheitstechnischen Surround, der auch auf affektiver Ebene Pandemieeindämmung und innerstädtische Aufstandsbekämpfung miteinander verquickt.1 Die Senatsverwaltung hat 54 Pyrotechnikverbotszonen ausgewiesen, die in vielen Fällen mit bekannten kriminalitätsbelasteten Orten nach dem Berliner Polizeigesetz, dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG), in eins fallen. Zu diesen Orten mit rechtlicher Sonderstellung, an denen beispielsweise verdachtsunabhängige Polizeikontrollen durchgeführt werden können, gehören u. a. Plätze, für die die Annahme bestehe, dass dort «Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben» oder – bis zur Reform des Polizeigesetzes im März 2021 – sich «Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen».2 Hier trafen also Logiken der Migrationskontrolle und der Kriminalitätsbekämpfung aufeinander. In den von Helikoptern aus überwachten Pyrotechnikverbotszonen herrschte am 31. Dezember und am 1. Januar ein allgemeines Aufenthaltsverbot, das auf § 25 der Sars-COV-2-Infektionsschutzmaßnahmeverordnung (InfSchMV) beruhte. Lediglich das «Durchqueren» der Sonderzonen blieb erlaubt, sie stellten also Korridore dar.3

Maßnahmen, in denen sich Logiken des europäischen Grenzregimes mit denen innenstädtischer Aufstandsbekämpfung verquickten, erlebte Berlin bereits im Sommer 2014. Als die von Aktivist_innen des Refugee Movements bewohnte Gerhardt-Hauptmann-Schule in Kreuzberg geräumt werden sollte, sperrte die Berliner Polizei präventiv mehrere Straßenzüge rings um das Gebäude ab und schränkte die Bewegungsfreiheit der Be- und Anwohner_innen ein. Das Karree wurde zum Übungsraum innenstädtischer Aufstandsbekämpfung für Polizeieinheiten aus dem gesamten Bundesgebiet. Rings um die Polizeiabsperrungen entstand aber auch eine Bewegung aus Supporter_innen, Nachbar_innen, angereisten Aktivist_innen und Spaziergänger_innen, die spontan Protestinfrastruktur aufbauten, um die Stürmung des Gebäudes durch die Polizei zu verhindern, die Menschen im Haus mit WiFi und Lebensmitteln zu versorgen und Information zu kanalisieren. Die Aufstandsbekämpfungsstrategie der vorsorglichen Absperrung ganzer Straßenzüge und der Schaffung von Transferkorridoren für Polizei, Gerichtsvollzieher_innen oder Anwohner_innen auf dem Weg zur Arbeit wurde hier eingeübt und 2020/21 während der Covid-19-Pandemie, bei den Räumungen linker Häuser und Institutionen wie der Kneipen Syndikat und Meuterei und dem queerfeministischen Hausprojekt Liebig 34 angewendet und in den Silvester-Sonderregeln der Sars-COV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung aktualisiert.

Im Zentrum von Krystian Woznickis «Undeclared Movements» stehen Korridore als zentrale Bestandteile von Infrastrukturen in de jure und de facto Ausnahmezuständen, in denen sich die Regierungskunst der Bewegungskontrolle und des Zirkulationsmanagements entfaltet, zugleich aber Potentiale für neue Bewegung(en) entstehen. Woznicki bezieht sich in seinem vierteiligen Essay auf Theoretiker_innen der Security, Surveillance und Governmentality Studies, der kritischen Migrationsforschung, der Science & Technology Studies und der politischen Philosophie wie Brian Massumi und Jean-Luc Nancy, um die Macht der Bewegung im Schengenraum zu analysieren.

Er fokussiert dabei zwei Korridore, zum einen den sogenannten Balkankorridor des langen Sommers der Migration 2015 und zum anderen die Transferkorridore des G20-Gipfels in Hamburg 2017, die Politiker_innen passieren lassen und Aktivist_innen kanalisieren sollten. Für Woznicki ermöglichten beide Korridore bestimmte Bewegungen vor dem Hintergrund der Krisennarrative Migration und Terrorismus, in denen es jeweils unvorhersehbare Bewegung zu antizipieren und zu managen galt. Zugleich entbrannten in bzw. im Umfeld beider Korridore Kämpfe – und diese stehen im Fokus seiner Untersuchung – die noch keine politische Lobby hatten und deren Akteur_innen noch nicht als intelligible Gruppierungen in Erscheinung getreten waren.

Im Denken des Schengenraumes, so Woznicki, spielen sowohl individuelle Bewegungsfreiheit als auch die freie Zirkulation von Gütern, Daten und Kapital eine prägende Rolle. Insbesondere die Bewegungsfreiheit galt aber nie wirklich für alle und wird heute von einem hochtechnisierten Securitization-Illegalization-Komplex unterminiert. Dieser schränkt nicht allein die Bewegungsfreiheit derjenigen ein, die entweder als Sicherheitsrisiko klassifiziert werden, sich illegalisiert im Schengenraum aufhalten oder die ‹falschen› bzw. keine Papiere haben, sondern er unterwirft jede Bewegung, u.a. mit Hilfe zunehmend interoperabler Datenbanken wir SIS, EuroDac, Visa-Informationssystem oder ab 2022 ETIAS (Europäisches Reiseinformations- und genehmigungssystem) und verschiedenen Freihandelsabkommen, Logiken der Versicherheitlichung und potenziellen Illegalisierung.4

Nach dem 11. September 2001 wurden auch in der EU Diskurse des war on terror übernommen und weniger Bevölkerungsschutz als viel mehr nationale Sicherheit und die Versicherheitlichung der Bewegung von Personen, Waren, Kapital, Daten etc. fokussiert – mit mobilen Grenzen im Inneren und externalisierten militarisierten Außengrenzen. In dieser Gouvernementalität mit ihrem Denken in Szenarien, Risikokalkülen und präemptiver Sicherheit wurde in Verbindung mit immer technokratischer werdenden Bewegungsmanagementdiskursen vermeintlich und tatsächlich unvorhersehbare Migrationsbewegungen als Ausnahmezustände gerahmt. Wobei hier nicht die Einteilung in gute oder schlechte Mobilität oder ihre grundsätzliche Verhinderung im Fokus steht. Stattdessen wird Mobilität als Ressource begriffen, die es zu antizipieren, zu managen und deren Wert es zu extrahieren gilt, wie zum Beispiel im Fall der mobilen Arbeiter_innen aus Nicht-EU-Ländern, die einerseits teilweise illegalisiert oder zumindest ohne Ansprüche an Sozialsysteme in der EU leben, deren Arbeitskraft andererseits aber, unter anderem in der Landwirtschaft oder der Pflege, fest einkalkuliert wird. Prägender Modus ist hier die Präemption, die nicht mehr von konkreten Bedrohungen ausgehend zu regieren versucht, sondern potenzielle Bedrohungen anvisiert.5 In dieser antizipativen Logik der Präemption wird die Gegenwart anhand von Zukunftsszenarien interpretiert. Gouvernementale Regierungsweisen adressieren Potenzialitäten, potenzielle Bewegung ebenso wie potenzielle, emergente Formen von Gemeinschaft. Das heißt, im Regime des Zirkulationsmanagements werden auch Möglichkeiten der Assoziierung, der freien Versammlung und des gemeinsamen sensemaking verändert, so Woznicki.

In den Datenlogiken gegenwärtiger Sicherheitsdispositive, in denen Szenariotechniken und Bedrohungsimaginationen dominieren, soll vernetzte Sozialität in Bewegung gar nicht unbedingt verhindert, sondern eingehegt und verwertbar gemacht werden. In dieser Logik wird Unberechenbarkeit zum Problem. Bewegungsflüsse dürfen niemals anhalten, müssen aber berechenbar und erfassbar bleiben, um verwertbar gemacht zu werden. In den Korridoren des G20 war es die Strategie der crowd control selbst, welche die Massen erschuf, die es einzuhegen galt. Schlichtweg deswegen, weil in der Logik der Technologien der crowd control jede Bewegung potenzielle Masse ist. Somit interpretierten Sicherheitsorgane in Hamburg Aktivist_innen, Journalist_innen, Demonstrierende, Spaziergänger_innen, Menschen auf dem Weg zu Freund_innen oder zur Arbeit als ununterscheidbare und potenziell gefährliche Masse und behandelten sie dementsprechend.6 Wenn in der Logik der Präemption jede Bewegung potenzielle Masse ist, kann es keine Außenstehenden mehr geben.

Zentraler Teil des Buches ist ein ca. 100 Seiten umfassender Bildessay, in dem Woznicki versucht, die undeclared movements im Schengenraum mit Hilfe von Bildern von Polizeieinsätzen während des G20-Gipfels in Hamburg und aus dem langen Sommer der Migration, Fotografien und Screenshots von Repressions- und Überwachungstechnik etc. visuell zu fassen: Fotos des March of Hope auf einer Autobahn irgendwo in Ungarn oder Österreich; Polizeieinheiten im Schatten der künstlichen Palmen des Park Fiction in Hamburg, der gleichsam als Modell ganz anderer Stadtpolitiken die Repressionsfestspiele des G20-Gipfels zu konterkarieren scheint; mobile Überwachungseinheiten; Tränengaswolken; Bordermonitoring-Bilder von Booten auf dem Mittelmeer; NSA-Erdüberwachungsbilder; Anzeigen für Surveillance & Security Anwendungen; Polizei in riot gear, im Hintergrund die Logistik-Szenerie des Hamburger Hafens mit seinen von Kränen gerahmten Containerterminals; die omnipräsenten Hubschrauber als Signum des Zeitalters der Präemption, und immer wieder Menschen, die dabei sind, zur Masse, zum undeclared movement zu werden. Woznicki rekontextualisiert hier dokumentarische Bilder aus den beiden Korridoren und allgemeinere Visualisierungen des Securitization-Illegalization-Komplexes und lässt so den Komplex und sein Verhältnis zu Bewegungen ebenso plastisch werden, wie er die Dringlichkeit, mit der die affektiven Logiken der Präemption entschlüsselt werden müssen, verdeutlicht.

Immer wieder wirft Woznicki einen Blick auf die Produktivität dieser Bewegungseinhegungsversuche und macht deutlich, dass auch die noch unorganisierten, im Entstehen befindlichen Bewegungen als politische Akte verstanden werden müssen. In eben diesen undeclared movements sieht er nicht allein widerständiges Potenzial, sondern verortet auch eine Chance auf andere Ontopolitiken. Er bezieht sich hier auf Massumis Konzept der Ontomacht, die dominierende Machtform des Modus der Präemption, die nicht auf konkrete Individuen oder Entitäten abzielt, sondern auf ein Abschöpfen von Potenzialitäten und Emergenzen, und die zugleich ein Affektivwerden von Macht bedeutet.7 In Verbindung mit Jean-Luc Nancys Konzept der Ko-existenz argumentiert Woznicki, dass Politiken der Ko-existenz und des Mitseins – verstanden als singulär-plurale Konzeptionen des Miteinanders, jenseits von fixierten, abgrenzbaren Gemeinschaften –  einerseits zunehmend den Logiken des Securitization-Illegalization-Komplexes unterworfen werden.8  Andererseits könnten im Schatten dieses Komplexes die titelgebenden undeclared movements entstehen, deren Potenzial es sei, das gemeinsame Affiziertsein durch die Ontomacht als Basis zu mobilisieren, ohne künstliche Einheit schaffen zu müssen. Deswegen geht es Woznicki darum, Kämpfe bereits im Moment ihres Entstehens ernst zu nehmen, da hier die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes von unten denkbar werde, der es wiederum ermögliche, Ontopolitiken zu praktizieren, die nicht primär in der Logik von Ausnahmezuständen funktionieren. Für ihn wird gerade in de jure oder de facto Ausnahmezuständen des Schengenraumes möglich, was Isabell Lorey kürzlich als eines der Kennzeichen präsentischer Demokratie beschrieben hat. Diese trenne «die Bewegung nicht mehr von der Instituierung oder Organisierung, das Soziale nicht mehr vom Politischen. Nicht die Zusammen-Führung des Vielen zum Einen ist ihr Ziel, sondern die Organisierung der Vielfalt in der Zerstreuung.»9

In den geteilten Affizierungen durch präemptive, auf Bewegungsmanagement abzielende Regierungsweisen kann für Woznicki Ko-existenz realisiert werden, wie vielleicht auch die Reise eines Slogans deutlich zeigt, der diese Macht der Bewegung zusammenfasst: 2014 an der Gerhardt-Hauptmann-Schule in Berlin, in den Jahren darauf auf verschiedenen Abschnitten des Balkankorridors, in No-Border-Kitchens, in den Squats in Exarcheia/Athen und schließlich wieder in Berlin, bei der Räumung des queerfeministischen Hausprojektes Liebig 34 im Jahr 2020 – immer wieder hieß es auf Transparenten und Flyern, «You can't evict a movement».

  • 1Zu den Soundscapes von Ausnahmezuständen vgl. Parikka, Jussi: Web-Extra. Soundscapes eines Putschversuchs von Istanbul bis Ankara, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, online, 11.8.2016, https://zfmedienwissenschaft.de/node/903, (9.3.2021).
  • 2 § 21 ASOG Bln Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz – ASOG Bln).
  • 3 Senatsverwaltung, für Inneres und Sport: Innenverwaltung veröffentlicht Pyroverbotszonen für Silvester, 30.12.2020, https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.1034218.php, (4.1.2021).
  • 4Zu den EU-Datenbanken vgl. Christina Rogers: Wenn Data stirbt. Grenzen, Kontrolle, Migration, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Bd. 7, Nr. 13, 2015, 57–65.
  • 5Vgl. Brian Massumi: Ontopower: War, Powers, and the State of Perception, Durham 2015.
  • 6 Zu Polizeiaktionen und Übergriffen auf Unbeteiligte und Journalist_innen vgl. exemplarisch: Markus Reuter: Journalistenverbände: Polizeigewalt gegen Reporter auf dem G20, in: netzpolitik.org, 10.7.2017, https://netzpolitik.org/2017/journalistenverbaende-polizeigewalt-gegen-reporter-auf-dem-g20/, (9.3.2021); Simon Teune: Das Scheitern der »Hamburger Linie«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2017, https://www.blaetter.de/ausgabe/2017/august/das-scheitern-der-hamburger-linie, (9.3.2021).
  • 7Brian Massumi: Ontopower: War, Powers, and the State of Perception, Durham 2015.
  • 8Jean-Luc Nancy: singulär plural sein. Zürich 2004.
  • 9Isabell Lorey: Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart. Berlin 2020, 198.

Bevorzugte Zitationsweise

Kämpf, Katrin M.: «You can't evict a movement». In Bewegung bleiben. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/besprechung/you-cant-evict-movement-bewegung-bleiben.

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