Direkt zum Inhalt
Onlinebesprechung

Material Witness

30.9.2020

Susan Schuppli: Material Witness. Media, Forensics, Evidence. Cambridge MA, London (MIT Press) 2020

Schon vor der geordneten Lektüre lassen die zahlreichen Abbildungen die beeindruckende Materialfülle erahnen, mit der Susan Schupplis neues Buch Material Witness. Media, Forensics, Evidence (2020) aufwartet: Schreibmaschinenprotokolle, rauschende Videostills und hochauflösende Digitalfotos, körnige Pressefotos und Zeitungssauschnitte, museale Installationsansichten, Ansichten von Asservaten, Aufzeichnungs- und Abspielgeräten sowie Bilder der zugehörigen Kabel und Mikrophone. Sie illustrieren die präzise recherchierten Fallstudien anhand derer Material Witness die maßgeblichen humanitären Konflikte aus der jüngeren Zeitgeschichte im Spiegel ihrer materiellen und medialen Zeugnisse rekonstruiert und die fallspezifischen Überschneidungen von Ästhetik, Politik und Rechtsprechung untersucht. Susan Schuppli verhandelt Beweisstücke des Vietnamkriegs, des Kosovo-Konflikts, der Watergate Affäre, der Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima sowie Quellen weiterer Ereignisse, die die Kapazität in sich tragen, rechtliche und politische Befunde nicht nur zu repräsentieren oder als Indizien beweisen zu können, sondern den an öffentliche und juridische Foren gebundenen Prozess der Bezeugung zu einer methodologisch und ethisch drängenden Angelegenheit zu machen. Ihr in den medientechnischen und historischen Details souverän verfasstes Buch ist dicht gewebt und speist sich aus einer jahrelangen Praxis der künstlerischen Forschung mit materialintensiven Archivrecherchen, Reisen zu Schauplätzen und Filmarbeiten, welche die Autorin über die letzten Jahre in Videoinstallationen präsentiert hat. Die Dokumentarfilmemacherin und Wissenschaftlerin leitet das Centre for Research Architecture an der Londoner Goldsmith University, wo sie unter anderem als Research Fellow der Forschungsagentur Forensic Architecture agiert.

Den titelgebenden Begriff der materiellen Zeugenschaft entlehnt Schuppli seiner Verwendung im juridischen Kontext, wo diejenigen Zeug_innen als material witness bezeichnet werden, deren Aussage für die Lösung eines Falls wesentlich ist (S. 10). Für Schupplis Analysen wird diese Bezeichnung wörtlich gewendet, um die zu entbergende Beweiskraft und das residuale Potenzial zur Zeugenschaft von nichtmenschlichen, materiellen Akteuren zu untersuchen. Die anhand einleitender Derrida-Lektüren gezogene Unterscheidung zwischen beweisenden Dingen, Spuren, Indizien und dem Sprechakt, ein Zeugnis abzulegen, bildet das grundlegende Aushandlungsfeld für Schupplis Anliegen, vor allem nicht sprachlich verfasste Beiträge von registrierender, verarbeitender und übertragender Materie in den Blick zu nehmen (S. 10). Das den materiellen Formierungen innewohnende, meist latente und virtuelle Potenzial liege nicht vorrangig in einer evidenten Aussagekraft, sondern ermögliche ein kritisches Offenlegen der Mechanismen, die Bezeugungsakte für Verhandlungen und Gerichte erst einmal verfertigen, die Dokumente zu Prozessen zulassen oder abweisen (S. 16). Forensik müsse in Erweiterung dieser Prämissen weniger als detektivische Methode gelten, um die in den Dingen liegende Wahrheit zu deduzieren – vielmehr könne sie als eine mediatisierende Praxis und als ein ökologischer Ansatz der Assemblierung (S. 9) von matters of concern (Latour) angesehen werden. Die ästhetische und affektive Neuordnung von Daten, Artefakten, Bildern, Tönen, Filmen sowie anderen Medien meist minderer technischer Qualität, die forensische Verfahren in dieser kreativen Hinwendung leisten, dient Schuppli zusätzlich als operatives Feld eines medialen Materialismus (S. 39). Im Zentrum ihrer Analysen steht daher das überzeugend entfaltete Anliegen, einen Begriff von agentieller Materialität ähnlich eines von Jane Bennett oder Karen Barad formulierten New Materialism zu prägen und den «documentary claims of impoverished images and defective media» (S. 22) nachzugehen, deren Einsatz jedoch in den politischen Aushandlungsprozessen und juridischen Prozeduren zu situieren und keiner philosophischen Ontologisierung zuzuführen sei (S. 28).

Material Witness gliedert sich in zehn Fallstudien, die von einer theoretischen Einbettung und einer abschließenden Diskussion gerahmt sind. Jede Fallstudie soll das Ausmaß hervorheben, in dem ein forensisch-ästhetisches Durcharbeiten der Übersetzungsschritte, die materielle Artefakte in juridischen Prozessen durchlaufen, eine hinter Bezeugungsansprüchen stehende Mikropolitik aufdecken kann. Entlang der Arbeit mit dem Material wirft Schuppli Fragen darüber auf, welches Wissen und wessen Forderungen im Verhältnis zu dem Gesehenen oder Gespürten verhandelt werden.

Zunächst untersucht die Autorin Phänomene radioaktiver Strahlung in Verbindung mit den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima als Formen einer «atmospheric evidence» (S. 47) hin zu einer «environmental accountability» (S. 57). Trotz der atmosphärischen Kapazität von nuklearer Kontamination, sich über geographische und zeitliche Distanzen hinweg zu verbreiten – von Tschernobyl über das Ackerland in Europa, von Fukushima bis an die kanadische Küste –, erlaubt die einzigartige Signatur radioaktiver Isotope eine forensische Rückverfolgung zu (?) ihrer Quelle im Labor. Derartige Evidenz bietet Schuppli einen im Zusammenhang des Buchs seltenen Fall eines material witnessing positivistischer, naturwissenschaftlicher Objektivität. Die grundsätzliche Ambiguität des Konzepts zeigt sich jedoch, wenn Folgeschäden der Nuklearkatastrophen verhandelt werden sollen, deren Rückführbarkeit in eine lokale Gerichtsbarkeit von einer atmosphärischen Umweltbelastung überlagert wird. Mit Gilles Deleuze und Paul Virilio beschreibt Schuppli Nuklearenergie daher als emergierendes Ereignis, das sich in Unfällen und Folgeerscheinungen materialisiert, deren Singularität und damit eine deduktive Rückverfolgung aber gleichermaßen problematisiert (S. 73).

Dass im Fall des nuklearen material witness Ebenen des Symbolischen und des Realen ineinander fallen, verdeutlicht die Autorin anhand des Dokumentarfilms Chernobyl: Chronicle of Difficult Weeks (R: Vladimir Shevchenko, UdSSR 1987), ein auf 35mm-gedrehter Film, der die Aufräumarbeiten in der Sperrzone dokumentieren sollte. Dass dieser Dokumentarfilm als Fossil und jenseits der repräsentativen Funktion als radioaktiver Realitätseffekt (Barthes) gelten kann, weil er selbst sichtbare und hörbare radioaktive Partikel auf der lichtempfindlichen Emulsion des Films transportiert, verdankt sich der Sensibilität seiner analogen Aufnahmetechnik. Insgesamt stützt sich Schuppli unter Bezugnahme auf Isabelle Stengers und Alexander Galloway einerseits und auf fototheoretische Leitideen von Roland Barthes und André Bazin andererseits, auf einen stark am Analogen und Indexikalischen orientierten Medienbegriff der prozessualen Informationsanreicherung und Formgebung, der einen neueren, von Transkodierung und algorithmischer Berechnung, Konvertierung und Komprimierung geleiteten digitalen Materialismus bereits voraussetzt (S. 7; S. 70).

Einen weiteren Strang des Buchs bilden akustische Fallstudien und die Materialität von Noise im weiteren Sinne, die sich über die Aufzeichnung von Gesprächen in den Watergate-Tapes während der Präsidentschaft Nixons und der berühmten 18,5-minütigen Aufzeichnungslücke, über das summende Geräusch von US-Drohnen im Überwachen und Durchmessen von pakistanischen Territorien hin zu Bildübertragungen aus dem Vietnamkrieg mittels Radiotransmissionen in Bezeugungs- und Übertragungsgesten einfaltet. Die ikonische Fotografie des vor einem Napalm-Angriff fliehenden Mädchens Kim Phúc von Nick Uts, das 1972 in der New York Times erschien, erfährt eine medienarchäologische Aufarbeitung ihres Transits mit dem Muirhead K220 Picture Transmitter von Saigon nach New York. Mit informationstheoretischen Anleihen bei Shannon, Weaver und Bateson untersucht Schuppli die mikromateriellen Modulationen, die das Bild jenseits seiner Ikonographie als materielles Gefüge kennzeichnet. In einer eher spekulativen Wendung der Argumentation fragt sich die Autorin dann, ob das derart ökologisch gedachte Bild den Schrei des fliehenden Mädchens als latentes Potenzial und virtuelle Einschreibung in sich trägt (S. 149).

Die einleitend angekündigte Engführung von Ästhetik, Politik und Rechtsprechung wird im zweiten Teil des Buchs vor allem in denjenigen Fallstudien aufgearbeitet, in denen Schuppli auf ihre Archivrecherchen in den Beweisbeständen des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zurückgreift. Mithilfe von Gerichtsprotokollen, die ausschnittsweise in Material Witness abgedruckt sind, zeichnet die Autorin mehrere Tribunale gegen Slobodan Milošević zum sogenannten Izbika-Massaker vom März 1999 nach, bei dem Schupplis Recherchen zufolge 120 Menschen von serbischen Streitkräften ermordet wurden. Im Zentrum der Analyse stehen Videos, die der Arzt Liri Loshi drei Tage nach dem Massaker von den auf einer Wiese liegenden Leichnamen angefertigt und nach Tirana geschmuggelt hatte. Als ‹Technopolitik des juristischen Ereignisses› (S. 189) bezeichnet Schuppli die Umformatierungen des Videos vom VHS zur digitalen Datei, hin zu einer durch den Sonderstaatsanwalt angefertigten Edition von fünf Clips, wobei jeder dieser Schritte mit weiteren Kreuzverhören Loshis zusammenhing, die unweigerlich neue Protokolle und Übersetzungen nach sich zogen. Derart betrachtet werden zwei affektiv aufgeladene Ereignisse in dem Videomaterial archiviert, die insgesamt die dualistisch angelegte Struktur eines Material Witness auszeichnen: die des Massakers, einschließlich der Dokumentation der Bestattung der Opfer, und die der juristischen Prozesse und Auftrittsszenarien, die das Video als materielles Zeugnis durchlaufen hat (S. 190). Als Beweismittel für Ereignisse provoziere die Zeugenschaft von materiellen Artefakten daher auch immer ein Ereignis des Beweisens, eine Praxis der Versammlung, die einander widersprechende Parteien in öffentlichen oder juridischen Foren miteinander in Beziehung setzt.

Die große Stärke von Material Witness liegt in der präzisen historischen wie technischen Situierung von Medienmaterialität. Deren politische Relevanz sollte in dieser Prägnanz und Engagiertheit in der Medienwissenschaft häufiger formuliert werden. Medienwissenschaftlich geschulte Leser_innen werden in der Lektüre von Material Witness jedoch die einschlägigen Theoriebildungen zu Medienökologie und Medienarchäologie, die eine solche materialsituierte Herangehensweise an mediale Artefakte verspricht, vermissen. Ähnliche Ergänzungen ließen sich zu weiteren Kontextualisierungen über forensische Verfahren und dem forensic turn im Allgemeinen vornehmen. Diese Beobachtungen tun der Argumentation des Buchs jedoch kaum Abbruch, sondern können als Anschlussfelder für weitere vergleichende Lektüren gelten.

Die zehn Fallstudien bieten dafür an einigen Stellen eine nahezu überbordende Material- und Detailgenauigkeit, die für die Begründung der These derart nicht überall notwendig gewesen wäre. Auch hätte eine einleitende Auskunft über die gewählte Reihenfolge und Gewichtung der Studien, die sich politisch sehr unterschiedlich gelagerten Kontexten widmen, diese aber weder chronologisch noch formell sortieren, eine Lektüre des Buchs sinnvoll gerahmt. Aus methodischer Sicht wäre vor allem eine tiefgreifendere Reflexion der Praxis einer künstlerischen Forschung erhellend gewesen. Schließlich nutzt Schuppli Stills aus ihren eigenen Videoarbeiten und Installationsansichten, um die Fallstudien zu illustrieren, bindet ihre Filme und die Praxis einer visuellen Ethnographie und künstlerischen Archivrecherche aber nur fragmentarisch in die theoretischen Überlegungen zu Material Witness ein. Vor allem die einleitend formulierte These, Forensik sei auch als kreative Praxis und Arbeit an der Materialität von Medien zu verstehen, hätte mit einer noch stärkeren Rückbeziehung auf die eigene Recherche-, Produktions-, und Ausstellungspraxis nur an Gewicht gewinnen können.

Bevorzugte Zitationsweise

Polze, Anna: Material Witness. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/besprechung/material-witness.

Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.