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Onlinebesprechung

Invective Gaze

28.6.2022

Am 9. Februar 2022 postete der Sportartikelhersteller Adidas auf seinem Twitter-Kanal ein Rasterbild, bestehend aus 24 Fotos nackter Frauenoberkörper in Frontalansicht, das entgegen der etablierten Darstellungsstrategien in Werbekontexten ganz verschiedene weibliche Körpergrößen und -formen abbildete. Dazu die Botschaft: Wegen dieser Vielfalt biete man Sport-BHs für Brüste unterschiedlichster Größen und Formen an.1 Zeitgleich wurde die Collage in London mit größerer Bilderzahl als großflächiges Plakat enthüllt, Fotos des Plakats gingen wiederum viral. Sehr unterschiedlich sind seither auch die Reaktionen ausgefallen. Wird der Post einerseits gelobt und ihm body positivity attestiert, sind unter dem Tweet letztlich vor allem negative Kommentare zu lesen. Der Frauenkörper, so der Vorwurf, werde objektiviert und schamlos für Verkaufszwecke eingesetzt. Vor allem aber wolle Adidas schockieren. Damit ist weniger der Tabubruch unzensierter weiblicher Brustwarzen gemeint, sondern die abgebildeten Brüste sind vielen Kommentator_innen schlichtweg zu ‹unansehnlich›. Was aber motiviert die Äußerung dieses Anspruchs von ‹Ansehnlichkeit›? Wie kommt es dazu, dass mit unverblümter Selbstverständlichkeit ein Urteil abgegeben wird, das weder die Lauterkeit der Motive der Werbetreibenden betrifft, noch bemüht ist, die eigene Misogynie zu verschleiern? Eine Antwort liefert möglicherweise das Phänomen, das Elisabeth Heyne und Tanja Prokić den «invective gaze» nennen: ein abwertendes oder schmähendes (engl.: invective) Blickregime, das für das Zusammenspiel aus digitalem Bild und Kultur spezifisch sei. Dazu erschien – zufällig gleichzeitig zur Kampagne von Adidas – der gleichnamige Sammelband, in dem Heyne und Prokić als Herausgeberinnen den invective gaze sezieren und von verschiedenen Seiten beleuchten lassen.

Die Einleitung der Herausgeberinnen kann zusammen mit dem Mittelteil des Buchs als Grundlage einer Theorie des invective gaze gelesen werden. Heyne und Prokić plädieren dafür, den Blick nicht allein psychoanalytisch zu untersuchen, ohne dabei zu vergessen zwischen Auge und Blick – d.h. zwischen zentralperspektivischem Sehen einerseits und der aus jedem erdenklichen Winkel möglichen Betrachtung der Subjekte andererseits – zu unterscheiden. Vielmehr widmen sie sich der Medialität und der Ökonomie des Blicks. Die Medialität werde zwar in der Untersuchung des male gaze behandelt, und auch die Beleuchtung ökonomischer Zusammenhänge spiele insbesondere schon in der Analyse eurozentrischer Blickregime eine Rolle. Insgesamt seien diese Ansätze aber «[spezialisierte] Perspektiven», über die hinaus die Medialität und die Ökonomie des Blicks nahezu unerforscht seien. Dabei sorge gerade die Techno-Ökonomie der Medien für eine neue Komplexität in Blickstrukturen (S. 8f.). Mit dieser Beobachtung sind sie nicht alleine. Als Beispiel für die soziologische Perspektive sei hier Eva Illouzʼ Begriff des «skopischen Kapitalismus» genannt, auf den im Band auch wiederholt rekurriert wird.2 Dieser Auffassung zufolge wird in diesem Regime alles und jede_r kritisch betrachtet und bewertet. Die Einsicht, dass im Internet dynamische «Publika […] durch ihre kurzfristige Bildung und Auflösung, ihre Migrations- und Akkumulationsfähigkeit, ihre Affektivität, ihre Konnektivität über Prozesse der Valorisierung» bestimmen (S. 10), findet sich in ähnlicher Form aber auch in der Popkultur z.B. bei der Serie Black Mirror (Idee: Charlie Brooker, UK 2011-laufend) wieder. In der Episode 50 Million Merits (Staffel 1, Folge 2, Erstausstrahlung 11.12.2011) wird nicht nur die Aufmerksamkeit von Menschen, die auf Monitore blicken, als Ressource gegen Guthaben getauscht. Zusätzlich können sie darauf hoffen, mit ihrer Performanz ein digitales Publikum ausreichend zu affizieren, um fortan bewundernde, lüsterne, schmähende oder andere Blicke auf ihr kommerzialisiertes Selbst zu ziehen, statt sie nur werfen zu dürfen. Ansehen, so Heyne und Prokić, ist nunmehr weniger die logische Folge einer Leistung, sondern umgekehrt gilt Aufmerksamkeit selbst als Erfolg (S. 11). Die Herausgeberinnen untersuchen dementsprechend auch weniger den einzelnen Blick, sondern das Blickregime und orientieren sich dabei an dessen «historisch spezifische[r] Konstellation» (S. 20). Hierzu bieten sie den Leser_innen einen Überblick über die theoretischen Grundlagen von Blick und Schaulust (S. 12 ff.) und deren Genese sowie über die kritische, vor allem künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Konzepten. Im Anschluss spannen sie einen Bogen von Roland Barthesʼ «posierender Haltung», in der man sich etwa in Erwartung fotografiert zu werden befindet, zur «vigilanten Haltung als spezielle technologische Situation der Gegenwart» (S. 19; Herv. i. Orig.).

Agnes Hoffmann und Simon Schleusener gehen noch einmal einen Schritt zurück, bevor sie tiefer in die Theorie des invective gaze einsteigen. Ihre Beiträge betreffen den invective gaze insofern, als dass sie sich historisch mit (Bildern) der Beschämung befassen, nämlich mit der Schaulust und der Sozialfotografie. Hoffmann setzt in ihrem Beitrag zur Schaulust der angesichts des Themas durchaus angebrachten Medienskepsis eine differenzierte Haltung entgegen und weist darauf hin, dass «digitale Netzwerke […] Formen sozialer Teilhabe und Vernetzung» in vielen Fällen überhaupt erst schaffen (S. 39 f.). Sie vermag es außerdem, die Schaulust mittels einer kritischen Betrachtung des historischen Diskurses zu einem gewissen Grade zu rehabilitieren (S. 41 ff.). Simon Schleusener positioniert sich zur Frage, wieso die Sozialfotografie häufig mit einem unbeabsichtigt wertenden Blickregime einhergeht, ebenfalls klar. Er belässt es dabei nicht bei einer anprangernden Kritik. Am Beispiel der «fotografischen (Gegen-)Strategien» (S. 86) von Viktoria Binschtok und Camilo José Vergara zeigt er stattdessen auf, wie Herabsetzung darstellbar ist, ohne selbst herabzusetzen. Sein Verdienst für den Band liegt mithin darin, die Form der bildlichen Invektive besser zu umreißen, indem er soziale Fotografie beschreibt, die außerhalb dieser liegt.

Im Theorieteil erläutert zunächst Tanja Prokić in einer stringenten Herleitung vom Warenschaufenster zum Touchscreen die «Kommerzialisierung der Blickstruktur» (S. 95). Im Schaufenster, das auf psychische Reize ausgelegt ist, sei der Bedeutungswechsel vom Gebrauchswert zum Tauschwert und von Kundschaft zu Publikum angelegt. Es gehe nicht darum «was gesehen wird, sondern als was bzw. wie etwas gesehen wird» (S. 104; Herv. i. Orig.) – der Blick wird auf Kommodifizierbarkeit geeicht. Über die digitalen Screens fällt der Blick nun auf alles mögliche, Menschen inbegriffen. Prokićs Vergleich ist auf schaurige Art treffend, wenn man etwa daran denkt, dass auf Instagram heute nicht nur Lifestyle-Bilder geteilt, sondern auch versklavte Menschen feilgeboten werden.3 Man mag einwenden, dass die Beobachtung, Menschen machten einander über Technologie zu einem Konsumgut, nicht neu sei – hier sei an Martin Heideggers Sorge erinnert, der moderne Mensch übernehme vom «Wesen der Technik», dass jegliches Gegenüber nur noch als «Be-stand», als Ressource gesehen werde.4 Prokić stellt aber klar heraus, dass all dies «nicht allein ein Effekt der Digitalisierung von Kommunikationsprozessen», sondern vielmehr «verstrickt in den dominanten Allokationsmodus des Wettbewerbs» (S. 102) ist. Und so erklärt sich auch die Empörung über die ‹Unansehnlichkeit› des von Adidas geposteten Inhalts:

Invektive Blickregime erzeugen nicht nur beschämende, entblößende Aufmerksamkeiten, sie deformieren im Verbund mit den digitalen Plattformen graduell die humane Wahrnehmung, indem in den scheinbar neutralen Prozess des Erkennens bereits die Logik der Bewertung implementiert wird. (S. 111).

Diese Beobachtung kann abermals auf das Eingangsbeispiel bezogen werden. Eine der am häufigsten geteilten Reaktionen auf den Adidas-Post ist die eines Users, der sich inspiriert sah, das Fotoraster mit seiner Bewertung der Brüste von 1 bis 24 durchzunummerieren.5 Prokić selbst bedient sich für die Theorie des invective gaze der weniger drastischen oder auch mittelbareren Beispiele des Selfies und der sogenannten ‹Cancel Culture›. Sie arbeitet überzeugend heraus, dass nicht erst die explizite Beschämung abwertend wirkt, sondern dass das Abwertende und Schmähende, die Invektive, schon darin steckt, sich im gnadenlosen Wettbewerb um Sichtbarkeit zu befinden und der Bewertung überhaupt ausgesetzt zu sein (S. 108 ff.). Im Fall der ‹Cancel Culture› lässt Prokić die stark aufgeladenen Diskussionen um den Begriff, der zuletzt besonders von der Rechten instrumentalisiert wird, sachlich außen vor, ohne abzustreiten, dass es eine solche Praxis überhaupt gibt. Prokić identifiziert darin schlicht einen «kalkulierten Sichtbarkeitsentzug», dessen Folgen nicht nur negativ sein müssen (S. 110). Besonders scharfsinnig ist ihre Beobachtung, dass dieser Sichtbarkeitsentzug seine Schlagkraft weniger über demokratische, als über ökonomische Mechanismen bezieht (ebd.). Vor allem aber unterstreicht es die Aktualität einer spezifisch (ab-)wertenden Qualität von Blickstrukturen, dass als Belege die ‹Cancel Culture› und das Selfie herangezogen werden, denn beide stellen für gegenwärtige digitale Kultur paradigmatische Praktiken dar.

Jens Schröter nähert sich dem Thema von einer anderen Seite, insofern er tiefer in die Theorie des Blicks von Jacques Lacan und Jean-Paul Sartre einsteigt. Vielleicht liegt es an seinem im Vergleich zur Herausgeberin weniger direkten Bezug zum Thema, dass das Fazit seines Textes etwas vage bleibt. Ihm liegt weniger daran, Beweise dafür anzuführen, warum die Prämisse des Bandes, die Herabsetzung sei das prägende Charakteristikum des im Digitalen herrschenden Blickregimes, richtig sei. Stattdessen erläutert er, unter welchen Voraussetzungen – mit welchem Verständnis des Blicks – diese Schlussfolgerung überhaupt möglich ist. Damit, und indem er offen zu eigenen Lücken steht (s. z.B. Fußnote 5 S. 118), sorgt Schröter für Ausgewogenheit. Der Beitrag führt außerdem vor Augen, dass wir angesichts der Dringlichkeit und Dynamik der Materie nicht nur vollendete Gedanken erwarten dürfen, sondern uns auf Experimente und Spekulationen einlassen müssen.

Im weiteren Verlauf des Bandes kommt es schließlich zu konkreteren Anwendungen. Johanna Heyne widmet sich dem Phänomen des Reaction Videos, das sie als eine Art Selfie im Bewegtbildformat definiert (S. 140), vom harmlosen Ekel bis zur Komplizenschaft durch das Anschauen von Tötungen Dabei gelingt ihr die Bestimmung zwei verschiedener Ordnungen des invektiven Blicks: des Blicks derjenigen, die auf den Inhalt reagieren einerseits, sowie des von ihnen imaginierten Blicks ihrer eigenen Zuschauer_innen auf sie und ihre Reaktion andererseits (S. 141–153). Daraus schließt Heyne auf ein «regulative[s] Potenzial» (S. 157). Außerdem bekräftigt diese Beobachtung die Feststellung einer «vigilanten Haltung» aus der Einleitung. Das Erkennen eines «regulativen Potenzials» ist auch im Einklang mit einem Begriff von Invektive, der schon da ansetzt, wo wir nicht frei von äußerer Bewertung sind, wie ihn Tanja Prokić vorschlägt. Verena Straub beschäftigt sich mit der verstörenden Praxis des Tötens im Livestream. Der Beitrag sticht besonders dadurch hervor, dass er aufzeigt, wie vielseitig die Richtungen sind, in die schmähend geblickt werden kann: als Blick auf das digitale Publikum, das dem Töten zuschaut (S. 164), als Blick auf die Opfer beim Töten mit Helmkamera (S. 169) oder sogar als «Mittel des öffentlichen Shaming» durch das Opfer selbst (S. 176). Auch der den Band abschließende Beitrag Irina Gradinaris, in dem sie das schmähende Blickregime in polizeilichen Ermittlungen und deren fiktionalen Darstellungen untersucht, behandelt ein Bildgenre, das unmittelbare Verletzungen von Leib und Leben betrifft. Die Wahl dieser drei Anwendungsfälle hinterlässt den Eindruck, als stünde der invective gaze zwingend mit solchen Extremen in Zusammenhang. Dabei ist der Begriff in der Theorie viel weiter gefasst. Lohnenswert wäre die Behandlung von digitalen Bildgenres ‹harmloserer› Natur, vielleicht gar mit vermeintlich aufwertenden Blickverhältnissen. Um denkbare Beispiele zu nennen: Wie genau kann die Erwartungshaltung, die Fans und Follower_innen an Influencer_innen stellen, schmähende Qualität erreichen? Oder: Wer schmäht wen beim Catfishing, also wenn man sich der Fotos oder ganzen Identität attraktiverer Menschen für das eigene Online-Profil bedient?

Es besteht kein Zweifel, dass der Band zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen liefert. Darüber hinaus birgt die so präzise Benennung dieses Blickregimes das Potenzial, sich aus einer besonders lohnenden Richtung kritisch mit Fragen des Medienkonsums wie auch der Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen Zusammenhängen, Mediennutzung und der Art, wie wir die Welt betrachten, zu befassen. Vielleicht lässt sich ein Bewusstsein für die medialen, ökonomischen und historischen Zusammenhänge letztlich in eine Stärkung von Humanismus und Haltung übersetzen. Es wird sich noch zeigen, ob das vorgestellte Konzept des invective gaze stichhaltig bleibt und ob und wo es gegebenenfalls noch nachjustiert werden kann. Der Band macht große Lust, diesen Prozess weiter zu verfolgen.

  • 1Adidas [@adidas]: We believe women’s breasts in all shapes and sizes …, Twitter.com, 9.2.2022, twitter.com/adidas/status/1491411609180327942 (30.3.2022).
  • 2Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Frankfurt/M. 2018, 187.
  • 3Owen Pinnell, Jess Kelly: Slave markets found on Instagram and other apps, in: BBC News Arabic, 31.10.2019, www.bbc.com/news/technology-50228549 (2.6.2022).
  • 4Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2009 [1954], 31.
  • 5 Tim Young [@TimRunsHisMouth]: Since you just greenlit objectifying women ..., Twitter.com, 9.2.2022, twitter.com/TimRunsHisMouth/status/1491500127059595271?s=20&t=Sa_dJIsAqv9Kytn3lE5TPw (2.6.2022).

Bevorzugte Zitationsweise

Kaul, Franziska: Invective Gaze. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/besprechung/invective-gaze.

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