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Onlinebesprechung

Anthropologie dekolonisieren

8.11.2021

Marc Rölli: Anthropologie dekolonisieren. Eine philosophische Kritik am Begriff des Menschen. Frankfurt am Main (Campus Verlag) 2021

Die Geschichte der Anthropologie ist grundlegend mit der Konstruktion eines kolonialen ‹Anderen› verknüpft. In gegenwärtigen Debatten zur Dekolonisierung des Wissens werden jene epistemisch-politischen Ausschlüsse wie auch Effekte kolonialer Differenzen und Diskriminierung umfassend und disziplinübergreifend verhandelt. Davon ausgehend stellt Marc Röllis Anthropologie dekolonisieren einen Versuch der Aufarbeitung des anthropologischen Diskurses, sowie dessen Beziehungen zu Themen der Ökonomie, Biologie, aber auch der Soziologie und Medienwissenschaft dar. Die theoriegeschichtlichen Auswirkungen kolonialer und philosophischer Anthropologie werden anhand einzelner Autor_innen und historischer Konstellationen als Konstanten des europäisch-westlichen Wissens skizziert.

Das Buch ist aus zum großen Teil zwischen 2017 und 2020 gehaltenen Vorträgen zusammengestellt und lässt sich in zwei Abschnitte gliedern: In einem ersten verfolgt Rölli die Geschichte und Kritik philosophischer Anthropologie, der (frühen) ethnografischen Methode, Nietzsches Kritik der Säkularisierung sowie Massenpsychologie und völkischer Anthropologie. Dabei wird die Erkenntnis postkolonialer Theorien erneut betont, dass koloniales und rassistisches Denken im Zentrum der anthropologischen Konfiguration der Moderne steht. Im zweiten Teil werden sodann eher Konstellationen beleuchtet: Die Differenz zwischen Mensch und Tier, Debatten um das technologisch bedingte Anthropozän, die medienanthropologische Theorie Marshall McLuhans, Aspekte der negativen Anthropologie, schließlich feministische Kritik am patriarchalen Anthropos-Begriff und die dekolonialen Potentiale des Perspektivismus nach Eduardo Viveiros de Castro. Rölli verfolgt dabei die jeweiligen historischen und philosophischen Voraussetzungen wie Entstehungsbedingungen, die er im anthropologischen Diskurs lokalisiert.

Ausgangspunkt seiner Argumentation ist das dekoloniale Denken Achille Mbembes und Walter Mignolos. Diesen folgend ist Kolonialität vor allem als epistemisches Machtverhältnis, zu verstehen welches sich über exkludierende, rassistische und sexistische Konzeptionen des Mensch-seins begründet, reproduziert und materialisiert. Mbembes und Mignolos Kritik zielt auf die diskursive Struktur und die körperlich wie subjektiven Konsequenzen diskriminierender kolonial-epistemischer Ordnungen. Anthropologie zu dekolonisieren ließe sich so als Versuch verstehen, diese Strukturen und Mechanismen als anthropologisches Wissen zu benennen, ihre sozialen und materiellen Effekte aufzuzeigen und zu dekonstruieren (vgl. S. 13). Dass Rölli in diesem Vorhaben hauptsächlich auf europäische Denker_innen und Diskurse Bezug nimmt, mag irritieren und Mignolos Forderung einer Entkopplung vom kolonialen-europäischen Diskurs zuwiderlaufen.1 Dieses Vorgehen begründet Rölli jedoch in zweifacher Hinsicht:

Zum einen verlange der koloniale Diskurs als «europäisches Phänomen […] eine kritische Auseinandersetzung mit den Denktraditionen, die ihn hervorgebracht haben» (S. 15). Ziel ist es mitunter, die philosophische Anthropologie vor dem Hintergrund einer dekolonialen Praxis für einen «transkulturellen Austausch» (ebd.) neu zu positionieren. Zum anderen schlägt Rölli eine kritische Revision der Fluchtlinien der Anthropologie vor und fragt in Bezug auf aktuelle politische Entwicklungen, «was von der Anthropologie mitsamt ihren einigermaßen bekannten kolonialen oder auch rassistischen Bezügen heute noch übriggeblieben ist». (S. 16) Wie also, so die Frage, strukturiert sich die fortdauernde Relevanz europäisch-westlich fundierter Anthropologie und dessen Nachleben in aktuellen politischen Debatten?

Die verschlungenen Linien des europäisch-kolonialen Diskurses, so Rölli weiter, müssten umgeschichtet und neu gelesen werden, um das kritische Potential einer «minoritären Anthropologie» (S. 178; S. 198) zu entfalten. Rölli untersucht dafür die theorie- wie philosophiegeschichtlichen Konstruktionsmechanismen des modernen Denkens über, vom und des Menschen. Wiederkehrendes Interesse der einzelnen Kapitel ist die Offenlegung von Genealogien, Möglichkeitsbedingungen und Aktualität eben jener Grundzüge der Anthropologie. Dies wird beispielsweise in Bezug auf die Theorie der Massenpsychologie um 1900 und den darauf aufbauenden Konzepten von Biopolitik, Kontrolle, Regierbarkeit und kolonialen Herrschaftsmechanismen deutlich. Nicht nur liegt der politisch-ökonomischen Idee von Massenpsychologie ein «kolonial bestimmte[r] Inferioritätsdiskurs» (S. 87) zugrunde, der eine_n inferiore_n und ausgeschlossene_n ‹Andere_n› hervorbringt. Mithilfe der Idee der Masse wird der im kolonialen Kontext erprobte Exklusionsmechanismus «innerhalb der ‹eigenen Kultur› auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung» (ebd.) bezogen. Mit dem Konzept gehe eine diskursive Trennlinie zwischen Masse und Eliten einher, die mitunter für eine sich heute wieder stärker zeigende «strukturell angelegte Geringschätzung der Demokratie» (S. 88) (mit-)verantwortlich sei. Das Konzept der Masse habe zudem ab Mitte des 19. Jahrhunderts rassistische und ökonomische Differenzen überlagert und werde gegenwärtig unter neoliberalen Verhältnissen in der Regierung jeglichen Lebens als «Vitalpolitik» (S. 120) sichtbar.

Daran anschließend und in Hinblick auf den Einfluss anthropologischer Konzepte auf die völkisch-nationalsozialistische Ideologie argumentiert Rölli für das Zusammendenken philosophischer Anthropologie nach Kant, der Rezeptionsgeschichte Darwins sowie biopolitischer Regierungsformen. An diesem Nexus verknüpfe sich der europäisch-moderne Begriff des Menschen mit einer rassistischen Biopolitik, die sich in einer Trias anthropologischer Rationalität kristallisiere: Einer «Idee des Menschen», einer Vorstellung des «Entwicklungs- und Veränderungsprozesses» und einer «Möglichkeit, empirische Typenunterschiede der menschlichen Natur festzustellen». (S. 113f.) Diese Matrix der Macht konstruiere und legitimiere zugleich biologische, anthropologische und ökonomisch-kapitalistische Diskriminierungen und Ausschlüsse (S. 119) und ließe sich im breiteren Kontext des Buches auf die koloniale Verfasstheit anthropologischen Wissens ausweiten.

Im Kontrast zu diesen Kapiteln stehen dagegen die etwas weniger dichten Teile zu feministischer Kritik sowie dem Verhältnis der Medientheorie zur Anthropologie. Die Kritiken Carla Lonzis und bell hooks᾿ am kolonial-patriarchalen Kanondenken der Anthropologie sowie deren philosophiegeschichtlichen Grundlagen sind dabei keineswegs nebensächlich. Jedoch wären hier Verweise auf das diskursive Spektrum feministischer Anthropolog_innen wie beispielsweise die früheren Arbeiten von Marilyn Strathern und ein stärkerer Bezug auf die umfassenden Einsätze des Feminismus in Hinblick auf die Dekolonisierung des Denkens – wie beispielsweise Trịnh Thị Minh Hà – aufschlussreich gewesen.

Aus medientheoretischer Sicht, nähert sich Rölli der Frage nach dem «spezifisch Anthropologischen der medientheoretischen Herangehensweise» (S. 164) kanonisch über McLuhan. Als «Ethnologe der amerikanischen Kultur» (S. 177) stehe McLuhan mit seiner Medientheorie und Analyse medialer Konstellationen im Dialog mit anthropologischen Konzepten und arbeite zugleich an der Dekonstruktion derselben. McLuhans Theorie der medialen Extension des Menschen wird dahingehend ausgeführt, dass die Verschränkung medialer und anthropologischer Perspektiven eine unhintergehbare Vermitteltheit des Humanen herausstelle. Gerade darin, so Röllis Einsatz, ließe sich die «Bedeutung der ethnologischen Methoden für eine auf Medienkulturen reflektierende Forschungspraxis» (S. 178) ausmachen. Das dekoloniale Potential einer Medienwissenschaft würde sich auch darin zeigen, dass tradierte anthropologische Universalien innerhalb medientechnischer Gefüge situiert und damit historisiert würden. Hier hätte unter anderem eine wissensgeschichtliche Einordnung von McLuhans Medienanthropologie die Anschluss- und Absetzungspunkte von zeitgenössischen Tendenzen der Anthropologie aufzeigen zu können.

Die vergleichsweise selektiv und flüchtig wirkende Diskussion feministischer und medienwissenschaftlicher Ansätze macht jedoch deutlich, dass der vorliegende Band weniger einen systematischen oder einführenden Zugang zur Anthropologie beabsichtigt. Eher loten die Texte diskursive Tendenzen aus und reflektieren dabei aktuelle Probleme anthropologischen Denkens vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten. Obgleich die prismatische Anordnung der versammelten Vorträge eine thematische Breite hinsichtlich kolonialer Genealogien in der Anthropologie aufzeigt, fehlt mitunter eine klarere Kontextualisierung bzw. Verknüpfung der einzelnen Teile untereinander. So hätten zusätzliche dekoloniale Anthropologien in Ergänzung zu der Auseinandersetzung mit den Entstehungslinien und aktuellen Formen kolonialen und rassistischen Denkens weitere Perspektiven eröffnet. Die kritischen Revisionen eurozentrischer Genealogien, wie sie beispielsweise Sylvia Wynter in Bezug auf Foucaults historische Periodisierung der modernen Ordnung der Dinge vornimmt und zugleich Mensch-Sein als plurale Praxis begreift,2 wäre lediglich einer unter vielen potentiellen Ansätzen einer «intellektuellen Begleitung der Verdammten» wie es Mignolo formuliert (zit. nach Rölli, S. 15).

Zugleich aber betont Rölli das selbstkritische und situierende Potential der Anthropologie. Mit der ethnologischen Feldforschung als zentralem Bestandteil anthropologischer Wissensproduktion ab spätestens dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird zumindest die Option von Kritik und Dekolonisierung der eigenen Disziplin sichtbar. Die ethnografische Erfahrung (westlicher) Anthropolog_innen und die Reziprozität der Wissensproduktion ließen universalistische Annahmen der Anthropologie als Projektionen erscheinen. In den zumeist asymmetrischen Austausch- und Vermittlungsbeziehungen – der Kontaktzone wie es Mary Louise Pratt formuliert hat – werden koloniale Muster und «Maßstäbe einer privilegierten weißen oder europäischen Subjektivität» (S. 58) kontrastiert. Ethnologische Forschung und postkoloniale Theorie bilden somit einen Schnittpunkt situierten Wissens und Kritik kolonialer Strukturen. Als Moment des epistemischen Umsturzes kommen an dieser Stelle zwei Ebenen zusammen: «[E]ine mit der Feldforschung verbundene Kritik wissenschaftlicher Objektivität und das Konzept eines Anderen, das die koloniale Relativität unterbricht.» (Ebd.)

Viveiros de Castros aktuellen Arbeiten zum Perspektivismus folgend, verortet Rölli das dekoloniale Potential der Anthropologie schließlich in Zonen der Vermittlung und des Austauschs: Jenen indigenen Gegenbeschreibungen und -perspektiven, in denen die koloniale Struktur universalistischer und ausschließender Anthropologien dezentriert wird. «Interpretationen evozieren nicht nur Gegeninterpretationen, vielmehr stellen sie sich gegenseitig infrage und dadurch setzen sie einen Verwandlungsprozess in Gang.» (S. 221) Die Frage danach, wer überhaupt wie sprechen kann, bleibt somit zentrales Moment einer dekolonialen Anthropologie. Dass es dabei immer auch um medien-technische Bedingungen und Praktiken der Hervorbringung, des Ausschlusses und Sprechens geht, wird zwar nur vereinzelt thematisiert, ist jedoch aus medienwissenschaftlicher Perspektive ein möglicher Anknüpfungspunkt weiterführender Überlegungen.

Die im Buch versammelten Beiträge stellen eine umfassende und im Einzelnen detaillierte Kritik historischer wie aktueller anthropologischer Debatten dar. Was Rölli dabei unter anderem gelingt, ist viele Aspekte anthropologischer Rationalitäten und Wissensformen aufzufächern und wiederholt in gegenwärtige Diskurse zu überführen. Anthropologie zu dekolonisieren, so Röllis Vorschlag, würde bedeuten, die multidirektionalen Linien und Genealogien miteinander in Beziehung zu bringen. Der Perspektivismus könnte so auch als programmatische Ausrichtung und zugleich inhaltlicher Anspruch des Buches verstanden werden.

  • 1Walter Mignolo: Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality, in: Cultural Studies, Bd. 21, Nr. 2, 2007, 449–517, hier 453.
  • 2Sylvia Wynter: Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Towards the Human, After Man, its Overrepresentation – An Argument, in: CR: The New Centennial Review, Bd. 3, Nr. 3, 2003, 257–337.

Bevorzugte Zitationsweise

Claus, Jakob: Anthropologie dekolonisieren. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/besprechung/anthropologie-dekolonisieren.

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